Lethe

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Cristobal Rojas: Dante und Beatrice am Lethe-Fluss (1889)
Gustave Doré: Purgatorio 31. Gesang; Dante wird von Matelda in die Fluten der Lethe getaucht.

Lethe (griech. ἡ Λήθη, „das Vergessen“; genauer: „die Verborgenheit“, von λήϑω, letho, „verborgen sein“) ist der Fluss des Vergessens, der nach der griechischen Mythologie einer der Ströme ist, die die Unterwelt durchfließen. Wenn der Tote nach seinem Eintritt in das Totenreich und nach einer Zeit der Läuterung aus seinen Fluten den Trunk des Vergessens trinkt, wird er von der leidvollen Erinnerung an seine Sünden, im vorangegangenen Erdenleben befreit und kann danach unbelastet in das Elysium, d.h. in die eigentliche geistige Welt, das Devachan, eingehen. In Dantes Göttlicher Komödie entspringt der Strom der Lethe an der Spitze des Läuterungsberges und fließt von dort herab bis zum Mittelpunkt der Erde. Den Lethe-Trank erhält Dante bezeichnenderweise von Matelda, die der Göttin Natura entspricht, die in inniger Beziehung zum Weltenäther und auch zum Ätherleib des Menschen steht, der der eigentliche Gedächtnis-Träger ist.

94 Sie zog mich bis zum Hals den Fluß hinein,
    Glitt, wie ein Webschiff, ohne sich zu senken,
    Auf seiner Fläch’ und zog mich hinterdrein,
97 Um mich zum sel’gen Ufer hinzulenken.
    Dort klang’s: „Entsünd’ge mich!“ so süß – ich kann
    Es nicht beschreiben, ja, nicht wieder denken.
100 Die schöne Frau erschloß die Arme dann,
    Umschlang mein Haupt und taucht es in die Wogen,
    Drob ich vom Wasser trank, das mich umrann.
103 Drauf, als sie mich gebadet vorgezogen,
    Bot sie zum Tanze mich den schönen Vier,
    Die hold um meinen Hals die Arme bogen.
106 „Wir sind am Himmel Sterne, Nymphen hier.
    Noch eh’ zur Welt Beatrix kam, so gingen
    Wir aus, bestimmt zu Dienerinnen ihr.
109 Wir werden dich ihr vor die Augen bringen;
    Dir schärfen dann, für’s heitre Licht darin
    Den Blick die Drei, die schauend tiefer dringen.“
                                    (Purgatorio 31,94-111)

Der Trunk des Vergessens

Auch der Eingeweihte muss auf einer gewissen Stufe seiner geistigen Entwicklung den Trunk des Vergessens symbolisch zu sich nehmen, wie es Rudolf Steiner in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» schildert:

"Ist der Kandidat reif geworden zudem Beschriebenen, dann erhält er dasjenige, was man sinnbildlich als den «Vergessenheitstrunk» bezeichnet. Er wird nämlich in das Geheimnis eingeweiht, wie man wirken kann, ohne sich durch das niedere Gedächtnis fortwährend stören zu lassen. Das ist für den Eingeweihten notwendig. Denn er muß stets das volle.Vertrauen in die unmittelbare Gegenwart haben. Er muß die Schleier der Erinnerung zerstören können, die sich in jedem Augenblick des Lebens um den Menschen ausbreiten. Wenn ich etwas, was mir heute begegnet, nach dem beurteile, was ich gestern erfahren habe, so bin ich vielfachen Irrtümern unterworfen. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß man seine im Leben gewonnene Erfahrung verleugne. Man soll sich sie immer gegenwärtig halten, so gut man kann. Aber man muß als Eingeweihter die Fähigkeit haben, jedes neue Erlebnis ganz aus sich selbst zu beurteilen, es ungetrübt durch alle Vergangenheit auf sich wirken zu lassen. Ich muß in jedem Augenblicke darauf gefaßt sein, daß mir ein jegliches Ding oder Wesen eine ganz neue Offenbarung bringen kann. Beurteile ich das Neue nach dem Alten, so bin ich dem Irrtum unterworfen. Gerade dadurch wird mir die Erinnerung an alte Erfahrungen am nützlichsten, daß sie mich befähigt, Neues zu sehen. Hätte ich eine bestimmte Erfahrung nicht, so würde ich die Eigenschaft eines Dinges oder eines Wesens, die mir entgegentreten, vielleicht gar nicht sehen. Aber eben zum Sehen des Neuen, nicht zur Beurteilung des Neuen nach dem Alten soll die Erfahrung dienen. In dieser Beziehung erlangt der Eingeweihte ganz bestimmte Fähigkeiten. Dadurch enthüllen sich ihm viele Dinge, die dem Uneingeweihten verborgen bleiben." (Lit.: GA 010, S. 86f)

Danach ist der Eingeweihte befähigt auch den Gedächtnistrank zu sich zu nehmen, durch den er die Fähigkeit erlangt, die höhere Geheimnisse stets im Geiste gegenwärtig zu haben.

Aus manchen Überlieferungen wird auch deutlich, dass der Mensch auch vor seinem Herabstieg zu einem neuen Erdenleben wieder aus den Fluten der Lethe trinken muss, wodurch er zunächst die Erinnerung an das Leben zwischen Tod und neuer Geburt und an die Seeligkeiten des himmlischen Daseins verliert. So erfährt etwa der trojanische Prinz Aeneas in der Aeneis des Vergil, als er das Totenreich besucht, von seinem Vater Anchises, den er dort wieder sieht: „Die Seelen nun, denen das Fatum andere Leiber bestimmt, / schöpfen aus Lethes Welle heiteres Nass, so trinken sie langes Vergessen.“

Nach Platon eröffnet sich dem Menschen im Erdendasein der Blick auf die Wahrheit (griech. ἀλήϑεια, alétheia, wörtlich: „die Unverborgenheit“), wenn er sich durch sein geistiges Streben die Wiedererinnerung an sein vorgeburtliches geistiges Dasein erringt.

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10 (1993), ISBN 3-7274-0100-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. GA 10 Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? - Textausgabe der Online-Bibliothek
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