Rubikon

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Mit dem 9. bis 10. Lebensjahr überschreitet das Kind den Rubikon, wodurch es sich als eigenes, der Welt gegenübergestelltes Wesen zu empfinden beginnt und dadurch auch ein anderes, freieres Verhältnis zu den Autoritäten entwickelt, die es nun als ein „Du“ erlebt, das seinem Ich gegenüber steht. Es handelt sich dabei um eine höhere Metamorphose des allerersten Ich-Erlebnisses um das 3. Lebensjahr.

"Der Rubikon ist ein Begriff aus der Waldorfpädagogik. Man bezeichnet damit einen Entwicklungsschritt, der sich beim Kind um das 9.- 10. Lebensjahr vollzieht.

Der geschichtliche Hintergrund des Rubikon: Nachdem Caesar Gallien erobert hatte, strebte er in Rom ein erneutes Konsulat an. Da sich der Senat in Rom durch die zahlreichen Legionen Caesars bedroht fühlte, befahl ihm der Senat, vor seiner Rückkehr nach Rom seine Legionen aufzulösen. Am Grenzfluss Rubikon, an dem sich Gallien und Rom berührten, traf Caesar eine folgenschwere Entscheidung: Entgegen dem Befehl des Senats löste er seine Legionen nicht auf und betrat, den Grenzfluss Rubikon überschreitend, römischen Boden. Er marschierte mit seinen Legionen Richtung Rom und wandte sich damit militärisch gegen das Land seiner Väter.

So wie Caesar ursprünglich ein Teil Roms ist und sich ganz selbstverständlich nach dessen Regeln und Gepflogenheiten verhielt, so ist auch das Kind bis zum 9. Lebensjahr noch ganz verschmolzen mit seiner Umwelt und ahmt seine Umgebung nach. Caesar verläßt Rom und geht nach Gallien. Er bekommt durch die Distanz ein anderes Verhältnis zu seiner Heimat. Genauso entwickelt sich beim 9 bis 10-jährigen Kind die zunehmende Fähigkeit zur inneren Distanz. Das Kind bekommt zu dem, womit es einst so eng verbunden war, ein anderes Verhältnis. Es empfindet unbewusst: Ich bin ein Eigenes, ich bin ein Einzelnes und damit bin ich ein Getrenntes. Das Seelenleben stellt sich auf eine neue Basis.

Das zuvor Undenkbare wird Realität: Caesar marschiert gegen Rom! Das 9 – 10 jährige Kind schaut die Autoritäten jetzt durch andere Augen an. Was zuvor eine Einheit war, wird jetzt eine Zweiheit: eine Beziehung zwischen einem Ich und einem Du." [1]

„In der Volksschulzeit ist die Sache so, daß zunächst etwa bis zum neunten Jahre hin noch dasjenige mit der Nachahmung nachwirkt, was der präponderierende Wille ist. Dann tritt aber etwas ein für das Kind, wodurch es sich unterscheiden lernt von seiner Umgebung. Jeder, der wirklich Kinder zu beobachten vermag, der weiß, daß zwischen Subjekt und Objekt, sich selber und der Umgebung, das Kind eigentlich erst so zwischen dem neunten und zehnten Jahre richtig unterscheidet. Daraufhin muß man alles einrichten. Aber man würde vieles im Leben anders betrachten, als man es eben betrachtet, und namentlich anders gestalten, als man es gestaltet, wenn man auf eines sehen würde: in derselben Lebensphase, in der das Kind zwischen dem neunten und zehnten Jahre sich richtig unterscheiden lernt von der Umgebung, in dieser Lebensphase ist es unerläßlich für das ganze sittliche Leben des Menschen in aller Zukunft, daß er mit der höchsten Achtung und mit dem höchsten Autoritätsgefühl an jemandem hängen kann, der sein Lehrer oder Erzieher ist.

Überschreitet das Kind diesen Rubikon zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre ohne dieses Gefühl, so hat es ein Manko in seinem ganzen Leben und kann später höchstens mit aller Mühe aus dem Leben selber wiederum das sich erobern, was auf eine naturgemäße Weise in diesem Lebenspunkte dem Kinde übermittelt werden sollte. Daher sollten wir unsere Erziehung und unseren Unterricht so einrichten, daß wir gerade in der Klasse, wo das Kind den Rubikon zwischen dem neunten und zehnten Jahre überschreitet, so vor dem Kinde stehen, daß wir wirklich durch unsere eigene innere Moralität, durch dasjenige, was wir an innerer Wahrhaftigkeit, an innerem seelischen Gehalte haben, dem Kinde wirklich manches sein können, daß wir nicht bloß vorbildlich auf dasselbe wirken, daß alles, was wir zu ihm sprechen, von ihm empfunden wird als die Wahrheit. Und man muß das Gefühl in ihm begründen, das es im sozialen Leben geben muß zwischen dem heranreifenden Kinde und dem Erwachsenen und dem alten Menschen. Daß dieses Kind seine Ehrfurcht durchmacht in diesem Lebenspunkte zwischen dem neunten und zehnten Jahre, darauf ruht auch dasjenige, was sittlich religiöse Erziehung ist. Eine zu frühe Entwicklung der Intellektualität, ein Nichtberücksichtigen dessen, daß auf den Willen durch Bilder gewirkt werden muß - namentlich von der Volksschulzeit an -, daß da nicht gleich ins Abstrakte des Schreibens und Lesens hineingedrungen werden darf, ein solches Verständnis für den Menschen liefert zu gleicher Zeit [auch nicht] jene Gefühle und Empfindungen, die dann wiederum brauchbar werden, wenn wir dem Kinde moralische Maximen, sittliche Grundsätze, wenn wir ihm religiöse Gefühle beibringen wollen. Sie greifen später nicht ein, sie wirken auch nicht durch Autoritätsgefühl, wenn wir nicht in der Lage sind, aus dem ganzen Menschen heraus die individuelle Veranlagung etwa von der Volksschulzeit an, etwa vom siebten Jahre an zu verwenden.“ (Lit.:GA 297, S. 264f)

Literatur

  • Axel Föller-Mancini/Bettina Berger: Der Rubikon als Entwicklungsphänomen in der mittleren Kindheit. In: Jost Schieren (Hg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft, Beltz-Juventa, Weinheim - Basel 2016, S. 272 - 299
  • Rudolf Steiner: Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297 (1998), ISBN 3-7274-2970-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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