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Das '''Urphänomen der Sozialwissenschaft''' ist von fundamentaler Bedeutung für das [[sozial]]e Zusammensein der [[Mensch]]en. [[Rudolf Steiner]] hat dieses '''soziale Urphänomen''' ganz knapp so beschrieben:
Zeichnung aus [[GA 320]], S. 147
 
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"... daß wenn Mensch dem Menschen gegenübersteht, der eine Mensch immer einzuschläfern bemüht ist, und der andere Mensch sich immerfort aufrecht erhalten will. Das ist aber, um im Goetheschen Sinne zu sprechen, das Urphänomen der Sozialwissenschaft." {{Lit|GA 186, S 175}}
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Der zwischenmenschliche Verkehr der Menschen miteinander ist notwendig aus ''sozialen'' und ''antisozialen'' Impulsen gleichermaßen gemischt. Ich kann mir ein tieferes soziales Verständnis für den anderen Menschen nur erwerben, wenn ich mich gleichsam von ihm einschläfern lasse und völlig ''selbstvergessen'', d.h. ''ohne mein eigenes Wesen geltend zu machen'', [[Intuition|intuitiv]] in ''sein'' Wesen eintauche. Nur indem ich so mit meinem Bewusstsein, schlafend für mich selbst, ganz im anderen Menschen aufgehe, bin ich sozial. Ich muss aber umgekehrt auch wieder für mich selbst erwachen und mein eigenes Wesen geltend machen. Dann bin ich aber antisozial. Ich muss es, ohne dass daran irgend etwas zu tadeln wäre, notwendig sein, wenn meine eigene [[Individualität]] im sozialen Kontakt nicht völlig ausgelöscht werden soll. Nur in diesem rhythmischen Wechselschlag sozialer und antisozialer Impulse kann sich das soziale Leben fruchtbar entfalten.
 
Genauer betrachtet stellt sich die Sache so dar:
 
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"Wir müssen uns fragen: Wie steht es eigentlich mit dem Verkehr des Menschen zum Menschen mit Bezug auf die sozialen und antisozialen Triebe? - Sehen Sie, ein Gegenüberstehen von Mensch und Mensch ist seiner Wirklichkeit nach im Grunde etwas recht Kompliziertes ! Wir müssen natürlich den Fall, ich möchte sagen, radikal ins Auge fassen. Wohl ist das Gegenüberstehen ein verschiedenes, differenziert sich nach den verschiedenen Verhältnissen, aber wir müssen das gemeinsame Merkmal im Gegenüberstehen eines Menschen zum andern Menschen ins Auge fassen, müssen uns fragen: Was geschieht da eigentlich in der Gesamtwirklichkeit - nicht bloß in dem, was den äußeren Sinnesanschauungen sich darbietet -, was geschieht in der Gesamtwirklichkeit, wenn ein Mensch dem andern gegenübersteht? -Da geschieht nichts Geringeres, als daß eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch hinüber. Das Gegenüberstehen von Mensch zu Mensch bedeutet einfach, daß eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch. Wir können bei dem, was wir tun von Mensch zu Mensch, nicht gleichgültig einander im Leben gegenüberstehen, nicht einmal in bloßen Gedanken und Empfindungen, sogar wenn wir dem Räume nach entfernt voneinander sind. Wenn wir irgendwie zu sorgen haben für den anderen Menschen, wenn wir irgendeine Verkehrsmöglichkeit zu schaffen haben, so wirkt eine Kraft von dem einen Menschen zu dem anderen hinüber. Das ist ja dasjenige, was dem sozialen Leben zugrunde liegt. Das ist dasjenige, was, wenn es sich verzweigt, verstrickt, eigentlich die soziale Struktur der Menschen begründet. Man bekommt natürlich das Phänomen am reinsten, wenn man an den unmittelbaren Verkehr von Mensch zu Mensch denkt: da besteht das Bestreben, durch den Eindruck, den der eine Mensch auf den andern macht, daß der Mensch eingeschläfert wird. Also das ist etwas Durchgehendes im sozialen Leben, daß der eine Mensch durch den anderen, mit dem er im Verkehr steht, eingeschläfert wird. Fortwährend ist -der Physiker würde sagen - die latente Tendenz da, daß im sozialen Verkehr ein Mensch den andern einschläfert.
 
Warum ist denn das so? Ja, sehen Sie, das beruht auf einer sehr wichtigen Einrichtung in der Gesamtwesenheit der Menschen. Es beruht darauf, daß im Grunde genommen dasjenige, was wir soziale Triebe nennen, eigentlich überhaupt nur beim gewöhnlichen gegenwärtigen Bewußtsein sich so recht aus der Seele des Menschen heraus entwickelt, wenn der Mensch schläft. Sie sind, insofern Sie nicht zur Hellsichtigkeit aufsteigen, eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt, wenn Sie schlafen. Und nur das, was fortwirkt aus dem Schlaf in das Wachen herein, wirkt herein im Wachen als sozialer Trieb. Wenn Sie aber dieses wissen, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern darüber, daß das soziale Wesen Sie einschläfern will durch das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Im Verhältnis von Mensch zu Mensch soll sich entwickeln der soziale Trieb. Er kann sich nur entwickeln im Schlafe. Daher entwickelt sich im Verkehr von Mensch zu Mensch die Tendenz, daß der eine Mensch den andern behufs Herstellung eines sozialen Verhältnisses einschläfert. Das ist eine Tatsache, die frappierend ist, die sich aber dem Betrachter der Wirklichkeit des Lebens eben sogleich darbietet. Unser Verkehr von Mensch zu Mensch besteht darinnen, daß vor allen Dingen unser Vorstellungsvermögen in diesem Verkehre eingeschläfert wird, behufs der Herstellung der sozialen Triebe von Mensch zu Mensch.
 
Aber Sie können natürlich nicht fortwährend schlafend im Leben herumgehen. Die Tendenz, soziale Triebe herzustellen, besteht schon darinnen und drückt sich darinnen aus, daß Sie eigentlich fortwährend Neigung haben sollten zum Schlafen. Die Dinge, die ich bespreche, gehen natürlich alle unterbewußt vor sich, aber sie gehen nicht weniger wirklich und nicht weniger unser Leben durchsetzend fortwährend vor sich. Also es besteht gerade zur Herstellung der sozialen Menschheitsstruktur eine fortwährende Neigung, einzuschlafen.
 
Dagegen wirkt noch etwas anderes. Es wirkt das fortwährende Sichsträuben, das fortwährende Aufbäumen der Menschen gegen diese Tendenz, wenn sie eben nicht schlafen. So daß Sie, wenn Sie einem Menschen gegenüberstehen, immer in folgenden Konflikten drinnenstehen: Dadurch, daß Sie ihm gegenüberstehen, entwickelt sich in Ihnen immer die Tendenz, zu schlafen, das Verhältnis im Schlafe zu ihm zu erleben; dadurch, daß Sie nicht aufgehen dürfen im Schlafen, daß Sie nicht versinken dürfen im Schlafen, regt sich in Ihnen die Gegenkraft, sich wachzuhalten. Das spielt sich immer ab im Verkehr von Mensch zu Mensch: Tendenz zum Einschlafen, Tendenz, sich wachzuhalten. Tendenz, sich wachzuhalten, ist aber antisozial in diesem Fall, Behauptung der eigenen Individualität, der eigenen Persönlichkeit gegenüber der sozialen Struktur in der Gesellschaft. Einfach indem wir Mensch unter Menschen sind, pendelt unser inneres Seelenleben zwischen Sozialem und Antisozialem hin und her." {{Lit|GA 186, S 161ff}}
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Um das [[Ich]] eines anderen Menschen wahrzunehmen, bedienen wir uns des [[Ichsinn]]s, der ganz gemäß des hier beschriebenen sozialen Urphänomens tätig ist:
 
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"Stehen Sie einem Menschen gegenüber, dann verläuft das folgendermaßen: Sie nehmen den Menschen wahr eine kurze Zeit; da macht er auf Sie einen Eindruck. Dieser Eindruck stört Sie im Inneren: Sie fühlen, daß der Mensch, der eigentlich ein gleiches Wesen ist wie Sie, auf Sie einen Eindruck macht wie eine Attacke. Die Folge davon ist, daß Sie sich innerlich wehren, daß Sie sich dieser Attacke widersetzen, daß Sie gegen ihn innerlich aggressiv werden. Sie erlahmen im Aggressiven, das Aggressive hört wieder auf; daher kann er nun auf Sie wieder einen Eindruck machen. Dadurch haben Sie Zeit, Ihre Aggressivkraft wieder zu erhöhen, und Sie führen nun wieder eine Aggression aus. Sie erlahmen darin wieder, der andere macht wiederum einen Eindruck auf Sie und so weiter. Das ist das Verhältnis, das besteht, wenn ein Mensch dem anderen, das Ich wahrnehmend, gegenübersteht: Hingabe an den Menschen - innerliches Wehren; Hingabe an den anderen - innerliches Wehren; Sympathie - Antipathie; Sympathie - Antipathie. Ich rede jetzt nicht von dem gefühlsmäßigen Leben, sondern nur von dem wahrnehmenden Gegenüberstehen. Da vibriert die Seele; es vibrieren: Sympathie - Antipathie, Sympathie - Antipathie, Sympathie - Antipathie. Das können Sie in der neuen Auflage der «Philosophie der Freiheit» nachlesen.
 
Aber es ist noch etwas anderes der Fall. Indem die Sympathie sich entwickelt, schlafen Sie in den anderen Menschen hinein; indem die Antipathie sich entwickelt, wachen Sie auf und so weiter. Das ist ein sehr kurz dauerndes Abwechseln zwischen Wachen und Schlafen in Vibrationen, wenn wir dem anderen Menschen gegenüberstehen. Daß es ausgeführt werden kann, verdanken wir dem Organ des Ich-Sinnes." {{Lit|GA 293, S 126}}
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== Literatur ==
#Rudolf Steiner: ''Die soziale Grundforderung unserer Zeit. Ingeänderter Zeitlage.'', [[GA 186]] (1990), Siebenter Vortrag, Bern, 12. Dezember 1918
#Rudolf Steiner: ''Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik'', [[GA 293]] (1992), Achter Vortrag, Stuttgart, 29. August 1919
 
{{GA}}
 
[[Kategorie:Soziales Leben]]

Version vom 11. August 2022, 12:02 Uhr

Zeichnung aus GA 320, S. 147