Theodor Lipps und Funktion (Objekt): Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Victorinox WorkChamp 1.jpg|mini|hochkant=0.8|Ein [[Schweizer Taschenmesser]] hat eine Vielzahl von Funktionen]]
'''Theodor Lipps''' (* 28. Juli 1851 in Wallhalben; † 17. Oktober 1914 in München) war ein deutscher [[Philosoph]] und [[Psychologe]] des späten 19. Jahrhunderts. Er galt als einer der Hauptvertreter des [[Psychologismus]] in Deutschlands und als einer der führenden Philosophen seiner Zeit. Er war Gründer des Psychologischen Institutes an der Universität München 1913. Lipps selber verstand sich als [[Phänomenologie|Phänomenologe]].
Als '''Funktion''' eines [[Objekt (Philosophie)|Objektes]] bezeichnet man die Aufgabe, die es zu erfüllen hat. Die Funktion stellt neben [[Form (Philosophie)|Form]], [[Werkstoff|Material]], [[Struktur]] usw. ein wesentliches Charakteristikum eines jeden Objektes dar, das in irgendeiner Form ge- oder benutzt wird.


== Leben ==
== Überblick ==
Lipps wurde als eines von drei Kindern des Pfarrers Karl Theodor Lipps und dessen erster Frau, der Pfarrerstochter Elise geb. Hoos geboren. Die Mutter starb als Lipps zwei Jahre alt war. Der Vater siedelte nach Rheingönheim über, dort war Lipps Schüler der Volksschule. Von 1861 bis 1864 besuchte Lipps in Korntal bei Stuttgart die Lateinschule. Im Anschluss wurde er Schüler des Herzog-Wolfgang-Gymnasiums in Zweibrücken. Hier bestand er mit 16 Jahren (1867) als Bester seines Jahrganges das Abitur. Lipps hatte einen Bruder, Gottlob Friedrich Lipps (1865–1931), der ebenfalls als Philosoph und Psychologe wissenschaftlich tätig war.
Funktion kann als [[Kontrollflussgraph|Kontrollfluss]]-[[Kante (Graphentheorie)|Kante]] ([[Beziehung]]) zwischen zwei Objekten beschrieben werden. Während der Begriff „[[Zweck]]“ den Beweggrund einer aktiven Tätigkeit oder eines aktiven Verhaltens bezeichnet, wird der Begriff „Funktion“ in der Regel auf passive Objekte angewandt, die vom Menschen benutzt werden. Im Alltagsgebrauch werden Funktion und Zweck jedoch häufig [[Synonymie|synonym]] gebraucht. Sinngemäß benutzt werden u. a. die Begriffe Methode, Verhalten, Handlung und Auftrag.
[[Datei:Friedrichstr. 4 Muenchen-1.jpg|mini|München, Friedrichstr. 4. Hier wohnte Lipps während seiner Münchner Zeit.]]
Im Anschluss daran studierte Lipps von 1867 bis 1871 [[Theologie]] auf Wunsch des Vaters nacheinander in [[Erlangen]], [[Tübingen]] und in [[Utrecht]]. Während seines Studiums wurde er 1868 Mitglied der christlichen [[Studentenverbindung]] [[C. St. V. Uttenruthia Erlangen|Uttenruthia]].<ref>[[Leopold Petri]] (Hrsg.): ''Mitgliederverzeichnis des Schwarzburgbundes.'' Vierte Auflage, Bremerhaven 1908, S. 64, Nr. 1373.</ref> 1872 legte er in [[Speyer]] sein theologisches Examen ab. In Tübingen hatte Lipps sein Interesse an den Ideen von [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegel]] und [[Friedrich Wilhelm Joseph Schelling|Schelling]] entdeckt. Hundert Jahre vor Lipps hatten sie zusammen mit [[Friedrich Hölderlin]] im [[Evangelisches Stift Tübingen|Theologischen Stift]] gewohnt und gemeinsam für die Verbreitung obrigkeitswidriger Ideen der [[Französische Revolution|Französischen Revolution]] gesorgt.<ref>Thomas Assheuer: [http://www.zeit.de/2007/52/OdE9-Geist Die Gefährten] ZEIT ONLINE, vom 18. Dezember 2007</ref> Entgegen den Erwartungen seines Vaters und der Kirchenbehörde verweigerte Lipps nach seinem Examen die weitere Ausbildung zum Pfarrer und begann stattdessen in Utrecht [[Philosophie]] und [[Naturwissenschaft]]en zu studieren.  


1874 erwarb Lipps als [[Hospitant]] in [[Bonn]] mit einer Studie „Zur Herbartschen Ontologie“ den Doktorgrad. Seinen Lebensunterhalt bestritt er in diesen Jahren als Haus- und Gymnasiallehrer. 1877 habilitierte er sich in Bonn mit seiner Arbeit „Grundtatsachen des Seelenlebens“ bei [[Jürgen Bona Meyer]] für Philosophie.<ref>Henckmann, Wolfhart, „Lipps, Theodor“ in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 670–672 [Onlinefassung]; [http://www.deutsche-biographie.de/ppn117057436.html] - Weitere Infos zum Lebenslauf unter der Homepage der Geburtsgemeinde Wallhalben [http://www.pfaelzer-muehlenland.de/fileadmin/PDF/Theodor_Lipps.pdf]</ref>  
Beispiele:
Nach einem Lehrauftrag in Bonn (1877–90) und einer Professur in Breslau (1890–94) folgte er einem Ruf an die Universität von München (1894–1914), wo er zum Nachfolger von [[Carl Stumpf]] auf dem Lehrstuhl für Systematische Philosophie wurde. Zu seinen Schülern zählen der Philosoph und Soziologe [[Max Scheler]] und der marxistische Philosoph [[Ernst Bloch]]. Seit 1899 war er ordentliches Mitglied der [[Bayerische Akademie der Wissenschaften|Bayerischen Akademie der Wissenschaften]].
: Ein [[Herz]] versorgt einen Körper mit Blut.
: Ein [[Argument]] wird zum Begründen oder Widerlegen einer Behauptung verwendet.
: Fe<sub>3</sub>O<sub>4</sub> funktioniert beim [[Haber-Bosch-Verfahren]] als Katalysator. <!--Katalysator ist dort verlinkt, bitte nicht überbläuen-->
: Ein [[Wohngebäude]] ist zum Wohnen da (→ Siehe auch: [[Liste von Bauwerken nach Funktion]])
: [[Schraube (Verbindungselement)|Schrauben]] dienen als lösbare Verbindungen von Bauteilen aller Art.


1909 erkrankte Lipps und erholte sich nicht wieder. Er musste seine Tätigkeiten einstellen und starb 1914. Sein Wunsch war es gewesen, in München ein Institut für experimentelle Psychologie zu gründen. Bei seiner Berufung war ihm dies vom zuständigen Staatsministerium auch zugesagt worden. Ein Jahr bevor er starb wurde das psychologische Institut eröffnet. Nach seinem Tod würdigte ihn die Philosophische Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität so: „15 Jahre bis zum Auftreten einer besorgniserregenden Erkrankung hat LIPPS eine große und segensreiche, weithin bekannte und gerühmte Wirksamkeit entfaltet. ... Wir haben in ihm eine führende Philosophengestalt, einen glänzenden Dozenten, einen zuverlässigen Kollegen und einen hervorragenden Vertreter aller Universitätsinteressen verloren.“<ref>Kurt Lukasczyk: ''Die Gründung des psychologischen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München.'' Vortrag am 5. Dezember 2001 auf dem Gedenksymposium der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München anlässlich des 150. Geburtstages von Theodor Lipps.</ref>
Die Erfüllung gestellter Anforderungen bezeichnet man als [[Funktionalität (Technik)|Funktionalität]] oder [[Gebrauchstauglichkeit (Produkt)|Gebrauchstauglichkeit]].


== Historischer Kontext ==
Erfüllt ein Objekt gleich mehrere verschiedene Funktionen, spricht man auch von „Multifunktionalität“. Das Ziel, mit möglichst wenigen Bauteilen möglichst viele technische Funktionen abzudecken, bezeichnet man in der Konstruktionslehre als „[[Funktionsintegration]]“. Fallen bei einem Objekt Soll-Verhalten und Ist-Verhalten auseinander, spricht man auch von Überfunktion, Unterfunktion, Fehlfunktion oder [[Fehler]].
Die Entstehung vor allem naturwissenschaftlicher Einzelfächer im 19. Jahrhundert an den deutschen Universitäten, veränderte das wissenschaftliche Selbstverständnis der bisher durch die Philosophie beherrschten Lehre und Forschung. Bisher waren philosophische und psychologische Forschungen an Universitäten in den Philosophischen Fakultäten angesiedelt gewesen. Die Psychologie wurde als ein Spezialgebiet der Philosophie angesehen. Philosophen, die sich an der Natur und den Naturwissenschaften orientierten und. metaphysikkritische bzw. ametaphysische Auffassungen vertraten, – wie sie z. B. [[Richard Avenarius|Avenarius]], [[Hugo Dingler|Dingler]], [[Ludwig Feuerbach|Feuerbach]], [[Johann Gottfried Herder|Herder]], [[Ernst Mach|Mach]], [[Karl Marx|Marx]], äußerten – suchten nach neuen Antworten. Sie erwarteten von der psychologischen Forschung neuartige Beiträge zur Lösung philosophischer Probleme, vor allem in der [[Erkenntnistheorie]] und in der [[Logik]].  


Im Zuge eines Aufschwungs der psychologischen Philosophie durch experimentelle Methoden - wie sie [[Wilhelm Wundt]], Inhaber eines philosophischen Lehrstuhles, praktizierte - wurden philosophische Lehrstühle immer öfter mit [[Experimentelle Psychologie|Experimentalpsychologen]] besetzt. Diese Veränderungen hatten Konflikte zwischen Philosophen und Psychologen um die Inhalte und Methoden der Philosophie zur Folge. Im Jahr 1912 unterzeichneten dann auch zwei Drittel aller an deutschsprachigen Universitäten lehrenden Philosophen eine Erklärung, in der sie sich gegen eine weitere Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Experimentalpsychologen aussprachen.<ref>Vgl. Kurt Lukasczyk: ''Die Gründung des psychologischen Instituts der Ludwig-Maximilian-Universität München.'' - Zu diesem Abschnitt auch : [[Karl Vorländer]]: ''Geschichte der Philosophie. Band 2,'' Leipzig 5. Aufl., 1919, S. 492–503.[http://www.zeno.org/nid/20009277218 zeno.org]</ref>  
== Typen von Funktionen ==
[[Peter Achinstein]] unterschied in der mehrfach aufgegriffenen Arbeit ''Function Statements'' aus dem Jahr 1977 zwischen drei Typen von Funktionen, mit denen Aussagen wie „x funktioniert als y“ [[Explikation|expliziert]] werden können:<ref>[[Christoph Rehmann-Sutter]]: ''Leben beschreiben: über Handlungszusammenhänge in der Biologie''. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1996, [http://books.google.de/books?id=xfb2tfkl7XEC&lpg=PA222&ots=_40LODKoRF&pg=PA226#v=onepage&q&f=false S.225–227 bei Google bücher], ISBN 3-8260-1189-9</ref><ref>Mohammed Ali Berawi, Roy Woodhead: ''A Teleological Explanation of the Major Logic Path in Classic FAST''. In: ''44th Annual Conference of the Society of American Value Engineers International (SAVE International)''. Montreal 2004, [http://www.value-solutions.co.uk/Teleological Function.pdf#page=3 verfügbar auf einer Webseite der Value Solutions Ltd]{{Toter Link|date=2018-04 |archivebot=2018-04-11 05:16:43 InternetArchiveBot |url=http://www.value-solutions.co.uk/Teleological }} (englisch)</ref>


== Themen seines Philosophierens ==
=== Konstruktionsfunktionen ===
Lipps beschäftigte sich außer mit philosophischen und psychologischen Themen auch mit grundlegenden Fragen zur Aufgabe der [[Wissenschaftstheorie|wissenschaftlichen Philosophie]] und mit ihrer Funktion in [[Kooperation]] mit anderen Einzelwissenschaften. Die wissenschaftliche Philosophie verstand er als ''[[Geisteswissenschaft]]'' bzw. als [[Erfahrung|''Wissenschaft der inneren Erfahrung'']]. Diese innere Erfahrung sollte durch Selbstbeobachtung und - wie im Institut von Wundt - mit [[Experimentelle Psychologie|experimentellen Methoden]] der Psychologie erforscht und dokumentiert werden. Die Einrichtung eines Psychologischen Institutes verzögerte sich. Lipps wollte ein umfassendes Wissen über die Bewusstseinstätigkeiten des Menschen sammeln. Er forschte dazu insbesondere auf dem Gebiet der psychologischen [[Ästhetik]]; das hieß zu Zeiten Lipps, er forschte über [[Wahrnehmung#Wahrnehmungstheorie|Wahrnehmungstheorien]].<ref>Vgl. Lipps: ''Grundtatsachen des Seelenlebens'', Einleitung. [http://www.gleichsatz.de/b-u-t/begin/lipps/LT-grund1.html online]</ref>
Konstruktionsfunktionen ''(design functions)'' beschreiben Funktionen, für die etwas eigens erschaffen wurde.


Von seinem philosophisch-psychologischen Schwerpunkt ausgehend entwickelte Lipps unter der Forderung nach einer „reinen Bewusstseinswissenschaft“ Ideen, die er der [[Metaphysik]] zuordnete. Noch nicht einmal die Naturwissenschaften kämen ohne Behauptungen aus, um die Lücken in der Erfahrung schließen, so meinte er. Er ging davon aus, dass „eine alles ordnende Vernunft“ als Bewusstseinstatsache von jedem Menschen erlebt werden kann. Er beschrieb sie näher als das Erleben des „Du-Solls“. Im Zusammenhang mit dieser Bewusstseinstatsache beschrieb er, dass das Konstruieren der Objekte 'Forderungen' an richtiges Denken stelle, die von überindividueller Qualität seien. Er sah im „Du-Sollst“ ein erlebbares Transzendentes, das er u. a. mit Wörtern wie 'absolutes Subjekt' bzw. 'reine Vernunft' bezeichnete. Diese bewusstseinsimmanente Tatsache ermögliche es Menschen, Wirklichkeit objektiv zu erkennen und zu gestalten.<ref>''Philosophie und Wirklichkeit'', S. 38f.– vgl. a. Max Frischeisen-Köhler, Willy Moog: ''Jahrbücher der Philosophie'', Band 1, 1913, S. 219.</ref>
Beispiel:
* Ein Schlüsselbund sammelt mehrere [[Schlüssel]] und verhindert, dass diese leicht verlorengehen. Dafür ist er (auch) gemacht worden.


Lipps Schriften sind eine Fundgrube philosophischer Themen. Er bezog mit eigenen Ideen Stellung zu den philosophischen – u. a. phänomenologischen - Diskussionen seiner Zeit. Er erläuterte diese kompetent und kenntnisreich unter vielen Aspekten und gab Anregungen zum eigenen Weiterdenken. Dies entsprach auch der Art und Weise seines Lehrens. Eine Reihe seiner Veröffentlichungen entstanden in Anlehnung an seine Vorlesungsskripte. Seine Studenten beeindruckte er vor allem mit seiner Sachlichkeit, sowie schonungsloser Offenheit und Redlichkeit hinsichtlich eigener und fremder Sichten, weniger mit dem, was er lehrte. Unter diesen Studenten waren u. a. [[Karl Jaspers]], [[Max Scheler]] und [[Ernst Bloch]], die bei ihm [[Authentizität#Authentizität von Personen|authentisches]] Philosophierens schätzen gelernt hatten und für ihr eigenes Denken genutzt haben.<ref> Vgl. [http://unitn.academia.edu/RPoli Roberto Poli]: ''In Itinere: European Cities and the Birth of Modern Scientific Philosophy.'' Amsterdam 1997, S. 47.</ref> Der autodidaktische Architekt [[August Endell]], ebenfalls Student bei Lipps, meinte noch in Studententagen, er stehe zwar auf einem anderen Standpunkt als Lipps, doch er könne viel von ihm lernen.<ref>Vgl. [http://www.text-raum.de/uber-uns/helge-david Helge David]: ''An die Schönheit. August Endells Texte zu Kunst und Ästhetik 1896 bis 1925.'' Weimar 2008, S. 13.</ref>
=== Gebrauchsfunktionen ===
Gebrauchsfunktionen ''(user functions)'' beschreiben Funktionen, die jemand (bewusst) in Anspruch nimmt. Sie können mit Konstruktionsfunktionen übereinstimmen, aber auch – im Sinne der bei der Erschaffung gedachten Funktion(en) – durch Zweckentfremdung bzw. [[Improvisation]] oder auch bei Objekten, die nicht für etwas hergestellt wurden, gänzlich ohne Konstruktionsfunktion zustande kommen.


=== Wissenschaft der inneren Erfahrung ===
Beispiele:
* Jemand, der den Schlüsselbund genau für das Erdachte anwendet, nutzt ihn sowohl im Sinne einer Gebrauchs- als auch seiner Konstruktionsfunktionen.
* Hält jemand einen Schlüsselbund in der Hand, um sich durch das Geräusch beim Herunterfallen von einem [[Tagschlaf]] abzuhalten, nutzt den Schlüssel außerhalb der Konstruktionsfunktion(en). <!-- kein *, weil Beispiele für Gebrauchsfkt. ohne K-fkt.--><br />Verwendet jemand [[Eisenerz]], um daraus einen Schlüsselbund herzustellen, gebraucht sie/er das Eisenerz dafür, eine Konstruktionsfunktion des Eisenerzes ist aber nicht ersichtlich (es wurde nicht „dafür gemacht oder vorgesehen, ein Schlüsselbund zu werden“), sofern keine stark [[Teleologie|teleologische]] Position vertreten wird wie etwa in der [[Prädestination]]s<nowiki/>lehre.


Lipps definierte Philosophie neu. Er bezeichnete sie als ''Wissenschaft der inneren Erfahrung'' oder als ''Geisteswissenschaft''. Innerhalb der historisch gewachsenen Bereiche der Philosophie, nämlich Psychologie, Erkenntnistheorie, Logik und Wissenschaft von der Wahrnehmung ([[Ästhetik]]) sollten grundlegende Zusammenhänge zwischen 'Denken, Fühlen und Wollen' untersucht und beschrieben werden. Auch metaphysische Fragen wollte er erörtern, so fern es sich ergebe, darüber zu reden. Die zentralen Objekte dieses Philosophierens sind 'Vorstellungen, Empfindungen und Willensakte'. Sie unterscheiden sich von denen anderer Wissenschaften.
=== Dienstfunktionen ===
:''Ich gestehe keinen anderen Weg zu wissen, wie man zu einem praktisch wertvollen Begriff der philosophischen Wissenschaft gelangen könnte, als den eben bezeichneten.''<ref>Lipps: ''Grundtatsachen des Seelenlebens,'' S. 3.</ref>
Dienstfunktionen ''(service functions)'' beschreiben allgemein Funktionen, die tatsächlich ausgeführt werden. Sie können sowohl Konstruktions- als auch Gebrauchsfunktionen umfassen, aber auch nicht beabsichtigte Funktionen, die etwas anderem zugutekommen.


Die einzige Wirklichkeit, die Menschen unmittelbar kennen, ist die, die ihnen durch Gefühle und Empfindungen vertraut ist. Aus dem eigenen Erleben, mit Fühlen, Empfinden und Sehen verbunden, bilden Menschen in Beziehung zu den Dingen, auf die sie treffen, und den Erinnerungen an Erlebtes die jeweils eigene Welt. So kommen sie zusammen mit dem inneren Erleben der Bewusstseinstatsache 'Vernunft' zu Erkenntnissen und Urteilen, die sie zum Handeln befähigen<ref>Vgl. Lipps: ''Philosophie und Wirklichkeit.'' Heidelberg (Carl Winter) 1908. 39 S.</ref> [[Edmund Husserl]] z. B. lehnte Lipps Ansatz ab und charakterisierte ihn als 'psychologistisch'. Aus Husserls Sicht waren innere Erfahrung und individuelles Erleben nicht geeignet, um eine wissenschaftliche Philosophie zu begründen. Er wollte vom 'sachlichen Gehalt' und der '[[Wesensschau]]' ausgehen. Anhand logischer Analysen - vor allem mathematischer Urteile - wies er darauf hin, dass die Psyche sich nach einer gegebenen Objektivität zu richten habe und nicht die Objektivität nach der Psyche, wie Lipps in seinen Studien feststellte.<ref>Vgl. [[Johannes Hirschberger]]: ''Geschichte der Philosophie, Band II.'' Frechen o.&nbsp;J. , S. 595–597.</ref>
Beispiele:
* Ist der Schlüsselbund intakt und wird bewusst im Sinne der Erschaffung benutzt, treffen auf ihn alle drei Funktionstypen zu.
* Wenn der Schlüsselbund durch physische Veränderung seine Konstruktionsfunktion nicht mehr ausführen kann, aber als Werkzeug für das Betätigen des [[CD-ROM-Laufwerk#Notauswurf|Notauswurf eines CD-ROM-Laufwerks]] gebraucht wird, besteht sowohl eine Gebrauchs- als auch eine Dienstfunktion. Hier kann man zwar nach wie vor von der ursprünglichen Konstruktionsfunktion sprechen, die aber nicht mehr ausgeführt werden kann (keinen tatsächlichen Dienst mehr leisten).
* Liegt der Schlüsselbund auf einem Blatt Papier und verhindert dessen Wegfliegen durch einen Windstoß, ohne dass er deswegen dort hingelegt wurde, besteht in dieser Befestigung eine Dienstfunktion, die weder bei der Erschaffung beabsichtigt war noch (bewusst) verwendet wurde.<!-- kein *, weil Beispiele für Dienstfkt. ohne Gebrauchs- oder K-fkt.--><br />Löst der Schlüsselbund in einem Flughafen durch das Signal eines [[Metalldetektor]]s die Festnahme einer polizeilich gesuchten Person aus, hatte der Schlüsselbund aus Sicht der Polizei die Dienstfunktion des Aufmerksammachens (auf die gesuchte Person), ohne dass sie beabsichtigt war.<br />Führt das [[Reibung]]s&shy;geräusch des Schlüsselbundes in einer Jackentasche zum so nicht beabsichtigten Auffinden eines gesuchten Geldstücks, erbrachte er ebenfalls einen Dienst ohne Konstruktions- oder Gebrauchsfunktion.


Im Unterschied zu Wundt wollte Lipps Forschungsergebnisse seiner Wissenschaft der inneren Erfahrung unabhängig von augenblicklichen physiologischen Forschungsergebnissen betrachten, ohne auf den Dialog mit den Physiologen zu verzichten. Beide Wissenschaften sollten sich gegenseitig anregen.
== Philosophische Standpunkte zum Begriff der Funktion ==
In der [[Naturalismus (Philosophie)|naturalistisch]] geprägten Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie etwa dem [[Logischer Empirismus|logischen Empirismus]] oder dem [[Wiener Kreis]], war der Begriff der Funktion nicht zentral. Er wurde als Relikt einer [[Aristoteles|aristotelischen]] [[Teleologie]] oder als bloße Redensart angesehen, die durch eine gleichwertige, rein kausale Formulierung abgelöst werden kann. Diese Überzeugung beruht auf der Vorstellung wissenschaftlicher Erklärungen wie sie im [[Hempel-Oppenheim-Schema]] zum Ausdruck kommt. Diese streng [[Reduktionismus|reduktionistische]] Ansicht vertrat etwa noch [[Ernest Nagel]] in seinem Werk ''The Structure of Science'' (1961).


=== Einfühlung ===
Insbesondere seit den 1970er Jahren gelangte die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Stellung und der Eigenheit des Begriffes „Funktion“ ins Interesse der philosophischen Literatur: Die meisten zeitgenössischen Autoren gehen dabei von der Vorstellung aus, dass der Verweis auf Funktionen in gewisser Weise erklären will, warum der Gegenstand in der bestimmten Form vorhanden ist. Dieser Anspruch geht u.&nbsp;a. zurück auf den Philosophen [[Larry Wright]]. Philosophisch umstritten ist, ob der Begriff Funktion in verschiedenen Disziplinen eine identische Bedeutung besitzt und worin diese Bedeutung bestehen mag. Dementsprechend ist ebenso strittig, ob in verschiedenen Wissenschaften die Art der Erklärung gleichartig sein kann, die für das Vorhandensein des funktionalen Gegenstandes geliefert wird. Von den meisten Autoren wird zugestanden, dass es unterschiedliche Verwendungsweisen des Wortes „Funktion“ in unterschiedlichen Kontexten gibt, welche nicht auf einem präzise umrissenen Begriff fußen. In der Biologie wird Funktion von Wissenschaftstheoretikern oft in Beziehung gesetzt zu genuin biologischen Begriffen wie natürlicher [[Selektion (Evolution)|Selektion]] ([[Ruth Millikan]]) oder [[Fitness (Biologie)|Fitness]] ([[John Bigelow (Philosoph)|John Bigelow]] und [[Robert Pargetter]]), während bei den Funktionen technischer Geräte und sozialer Institutionen menschliche [[Intentionalität|Intentionen]] das Vorhandensein des Objektes erklären.
Am bekanntesten wurde Lipps mit seiner [[Empathie|'Einfühlungstheorie']]. Er hat noch vor den entsprechenden neurobiologischen Forschungsergebnissen über Deutschland hinaus die Empathie als grundlegende Fähigkeit des Menschen ins Zentrum des Philosophierens und der Psychologie gerückt. Lipps verstand „… unter Einfühlung einen Grundvorgang beim unmittelbaren Verstehen von Ausdruckserscheinungen. Einfühlung ist ein inneres Mitmachen, eine imaginierte Nachahmung des Erleben des anderen“. Seine Sicht, die er an Beobachtungen und introspektiv gewonnen hatte, entwickelte sich als zentrale Kategorie für die Sozial- und Humanwissenschaften. 'Einfühlung', so Lipps, schafft die Basis für Mitmenschlichkeit. <ref>Christa Dunst: ''Empathie im Wandel. Eine retrospektive Betrachtung hin zu einer Erweiterung des Terminus in der Personenzentrierten Psychotherapie durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften.'' Diplomarbeit. Wien 2012, S. 15f.</ref>


Mit dieser Sicht schloss Lipps an das an, was [[David Hume]] ca. 150 Jahre davor über [[Sympathie]] geschrieben hatte. Der [[Neurowissenschaften|Neurowissenschaftler]] [[Vilayanur Ramachandran]] beschrieb ähnlich wie Lipps diesen Prozess, bei dem „eine Art virtueller Realität erforderlich [ist], eine innere Simulation dessen, was der andere tut“. <ref>[http://othes.univie.ac.at/4219/ Marie-Therese Thill]: ''Das mimetische Gehirn. Mimesis und Empathie im Kontext des menschlichen Spiegelneuronensystems.'' [http://othes.univie.ac.at/4219/1/2009-03-16_0103237.pdf Diplomarbeit], Wien 2009, S. 35–38.</ref> [[Wissen]] und [[Erkennen]] waren nach Lipps ohne Einfühlen nicht möglich. Entsprechende philosophische Theorien sollten daher diese Eigenart der menschlichen Wahrnehmung mit einbeziehen, um ihre Fragen beantworten zu können. Damit ging er in der Erkenntnistheorie und Logik deutlich über das hinaus, was sonst philosophisch reflektiert wurde. <ref>[http://universität-potsdam.academia.edu/MatthiasSchlossberger Matthias Schloßberger]: ''Die Erfahrung des Anderen: Gefühle im menschlichen Miteinander.'' München 2005, d.v.a. S. 63–76.</ref> Lipps arbeitete außerdem „... systematisch die Rolle instinktiver, affektiv-emotionaler und kognitiver Teilprozesse heraus“ und beschäftigte „sich … ausführlich mit einer möglichen handlungsleitenden Funktion des Einfühlungsgeschehens.“ <ref>Stefan Liekam: ''Empathie als Fundament pädagogischer Professionalität. Analysen zu einer vergessenen Schlüsselvariable der Pädagogik.'' München 2004, S. 26f.[https://edoc.ub.uni-muenchen.de/2514/1/Liekam_Stefan.pdf Download]</ref>
[[Robert Cummins]] sieht Funktionen allgemein als Rollen, die bestimmte Eigenschaften von Bauteilen für die Arbeitsweise eines komplexeren Systems spielen. Diese Art von Funktionen werden in der englischsprachigen Literatur auch als ''causal-role-functions'' bezeichnet. Grundsätzlich können also nach Cummins Funktionen in beliebigen Arten von Systemen beschrieben werden, auch in denjenigen, in denen wir im [[Intuition|Alltagsverständnis]] keine solche Formulierung wählen würden. Dazu zählen etwa astronomische Systeme oder Objekte der unbelebten Natur wie Gestein oder Wetterphänomene. Die Daseinsberechtigung unterschiedlicher Verwendungsweisen des Begriffes wird etwa von [[Peter Godfrey-Smith]], aber auch von Ruth Millikan zugestanden.


=== Denken, Fühlen, und Wollen ===
Auch die Frage, in welcher Beziehung Funktionen zu anderen Begriffen stehen, wie etwa „[[Zweck]]“, [[Design]]oder [[Organismus]]“, wird von verschiedenen Autoren behandelt.
Menschen können nicht beschreiben, wie ihre Vorstellungen entstehen, auf die sie sich beim Denken beziehen. Vorstellungen tauchen auf, - ob wir wollen oder nicht - verschwinden wieder und wenn wir möchten, können wir sie erinnern. Auch die üblichen Hinweise, es seien das Bewusstsein, der Verstand, die Phantasie u. a. [[Vermögen (Fähigkeit)|Instanzen]], die Vorstellungen ursächlich hervorrufen, helfen nicht weiter. Bestenfalls können wir schlussfolgernd auf etwas als Ursache schließen, doch nicht behaupten, es sei so bzw. es gäbe derartige Instanzen. Da wir sie nicht wahrnehmen, gibt es keinen Grund sie vorauszusetzen; aus ähnlichen Gründen für unhaltbar halten Physiologen es heute, so Lipps, bestimmte seelische Prozesse an einem bestimmten Ort im Gehirn anzusiedeln. Die [[Lokalisationstheorie]] sei - wie auch die Instanzentheorie - nicht mehr vertretbar. Ähnlich sind auch Denken und alle weiteren Tätigkeiten, einschließlich Fühlen und Wollen nicht isoliert wahrnehmbar.
 
Es sieht eher so aus, als ob wir Vorstellungen selber erzeugen, während wir wahrnehmen, denken, empfinden, fühlen und wollen.<ref>Lipps, ''Grundtatsachen des Seelenlebens'', S. 18–27.</ref> Damit postuliert Lipps - ein halbes Jahrhundert bevor Forscher wie [[Humberto Maturana]], [[Heinz von Förster]] u. a. die wissenschaftliche Welt mit [[Konstruktivismus|konstruktivistischen]] Ideen veränderten - einen [[Autopoiesis|autopoietischen]] Ansatz.
 
=== Objektivität ===
Lipps unterschied zwischen Objektivität des individuellen Ich und der Objektivität des absoluten Ich. Beide zusammen erst konstituieren in jeweils aktuellen Situationen das ''Objektivitätsgefühl''.
 
==== Konstruktion durch das individuelle Ich ====
[[Objektivität]] ist und war ein zentraler Gegenstand der [[Metaphysik|metaphysischen]] Philosophie bzw. eines Philosophierens, das [[Wahrheit]] sucht. Die Einzelwissenschaften hatten zu Zeiten Lipps Objektivität längst relativiert. Für objektiv wird das gehalten, was eine Mehrheit von Individuen als gegeben und als 'so ist es' betrachtet. Dies kann als ''konventionelle Objektivität'' bezeichnet werden. Sie wird entsprechend dem Gegenstand einer bestimmten Wissenschaft über gemeinsam akzeptierte Kriterien definiert.
 
Lipps schlug mit seiner Wissenschaft der inneren Erfahrung einen anderen Weg vor. Es gebe Bewusstseinstatsachen, die signalisierten, da ist etwas, das unabhängig von mir vorhanden ist.
:''Ich habe das ...Gefühl, dass sich mir etwas entgegensetzt, dass ich auf etwas stoße, das mir fremd ist, kurz ein Gefühl eines Nicht-Ich.“''
Objektivität ist also etwas, das ich bestimme; es ist mein Gefühl, das Lipps ''Wirklichkeitsgefühl'' oder ''Objektitätsgefühl'' nannte. Dieses ermögliche erst das Zustandekommen der ''konventionellen Objektivität''. Das ''Wirklichkeitsgefühl'' versetzt uns in die Lage, zwischen [[Fantasie]]rtem und wirklich [[Erleben|Erlebtem]] zu unterscheiden. Objektivität bzw. Wirklichkeit deshalb bloß für ein Gefühl zu halten, das uns irgendwie als Maßstab zur Verfügung steht, wäre aber ein Irrtum. Das ''Objektivitätsgefühl'' erlebt ein Mensch nur, wenn er in einer aktuellen Beziehung zu einem bestimmten Gegenstand steht. Wir können im Hinblick auf das dabei erlebte Empfinden allenfalls verallgemeinerbare Aussagen darüber machen.<ref>Vgl. Lipps: ''Fühlen, Wollen und Denken,'' S. 10–12.</ref> „Der Versuch, eine von allen subjektiven Zutaten befreite absolute objektive Welt in der Vorstellung zu erbauen, hat sich totgelaufen.äußerte sich ein Biologe, der Zeitgenosse von Lipps war.<ref> [[Jakob von Uexküll]]: ''Theoretische Biologie.'' Frankfurt a. M. 1973, S. 339.</ref>
 
==== Gegebene bzw. absolute Objektivität ====
Das Objektivitätsgefühl hat auch eine nicht-individuelle Komponente. Als Bedingung für das Objektivitäts- bzw. Wirklichkeitsgefühls erläuterte Lipps, dass das individuelle Ich sich in bestimmter Weise verhalten muss, damit aktuell ein Wirklichkeits- oder Objektivitätsgefühl entstehen kann.<ref>Vgl.''Denken, Fühlen, Wollen'', S. 53–55.</ref> Dieses Verhalten werde durch das „Du-Sollst“ ausgelöst. Das „Du-Sollst“ nannte Lipps auch das 'Gebot der Vernunft', sich 'logisch richtig' zu verhalten. Dieses Gebot, beschrieb Lipps, kenne jeder als eigene Bewusstseinstatsache.
:''Die Vernunft ist in diesem Sinne eine 'absolute Tatsache', die ich nur in mir erlebe.''
Verhält sich das individuelle Ich gemäß der Forderung dieser Bewusstseinstatsache, so erfasst es die objektive Wirklichkeit und 'als Philosoph ist man in der Welt der Dinge an sich'. Diese [[Transzendenz]] wiederum ist ausschließlich individuell erlebbar.<ref>Philosophie und Wirklichkeit, S. 27–37.- Vgl. a. [[Wolfgang Röd]]:''Geschichte der Philosophie, Band 12. Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts.'' München 2004, S. 258.</ref> An diesem Punkt dürfte sich Lipps' 'objektive Wirklichkeit' mit Husserls 'Wesenschau' verbinden.<ref>Zu Husserl und Lipps vgl. u. a. Eduard Marbach: ''Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls''. Heidelberg 2013, d.v.a. S. 220–234.</ref>
 
=== Das Ich ===
==== Das individuelle Ich ====
Während z. B. [[Immanuel Kant|Kant]] für die Stimmigkeit seiner Philosophie ein nicht erlebbares, 'reines Ich' postulierte, das er auch die [[Immanuel Kant#Erkenntnistheorie|'transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins']] nannte, ging Lipps vom Erleben bzw. der 'unmittelbaren Erfahrung' aus und knüpfte in seinen Darstellungen immer wieder daran an:
 
:''Als Objekt der Psychologie bezeichne ich hier das Ich. ... ich meine das einzige Ich, das ursprünglich diesen Namen verdient. Ich meine das Ich der unmittelbaren Erfahrung. Ich meine das Ich, das jeder meint, wenn er sagt, 'ich' empfinde Rot oder Weiß, 'ich' stelle ein Haus oder einen Baum vor, 'ich' denke dies oder jenes, 'ich' bin lustig oder traurig. Ich erlebe dieses Ich. Ich erlebe, also erfahre ich mich unmittelbar in jedem Bewusstseinserlebnis.''
 
Das kontinuierliche Erleben und Erfahren verhindert, an diesem Ich zu zweifeln. Ich bin für mich das Nächste, was wirklich ist. Ich bin für mich die selbstverständlichste Wirklichkeit. Die Dinge sind mir ferner, weil sie jeweils 'Nicht-Iche' sind. Ich bin mir bekannt und ich erlebe nicht etwa Erscheinungsweisen meines Ich, sondern ich erlebe in jedem Augenblick mich selber. Dahinter etwas anderes, ein 'substantielles Ich an sich' zu vermuten, würde über das hinausgehen, was beschreibbar ist.
 
Auch die Behauptung, die Dinge seien 'das unmittelbar Wirkliche' sei nicht zutreffend. Diese Auffassung ist nichts als eine nachvollziehbare 'Illusion' und eine 'Folge von Gewöhnung', wie sie naives Denken und wissenschaftliche Unschärfe hervorrufen. Die innere Erfahrung aber zeige, das 'unmittelbar Wirkliche' ist mein Ich und seine Tätigkeiten.<ref>Lipps: ''Philosophie und Wirklichkeit.'' S. 7–15.</ref>
 
Die abstrakte Einheit des Ich, die Kant sich vorstellte, war bei Lipps eine verallgemeinerte Einheit die auch den Körper umfasste. Sie ist aber entsprechend dem empirischen Charakter von Verallgemeinerungen nur an einzelnen Erlebnissen und Erfahrungen reflektierbar, bzw. wird durch die jeweils verschiedenen Arten und Weisen, wie ich mich fühle oder erlebe, bewusst. Das Ich ist daher die Beziehung aller psychischen Erscheinungen auf ein und dieselbe Person, schlussfolgerte ein zeitgenössischer Interpret. <ref>Vgl. Lipps: ''Vom Fühlen Wollen und Denken,'' Norderstedt 2015, S. 180–182. - Johannes Orth: ''Gefühl und Bewusstseinslage.'' Norderstedt 2015 S. 24f. Erstveröffentlichung 1903.</ref>
 
==== Das überindividuelle Ich ====
Im Zusammenhang mit der Bewusstseinstatsache „Du sollst“, stellte er ein 'überindividuelles Ich' fest, das erlebbar sei und eine Welt überindividueller Werte und Urteile ermögliche. Das 'überindividuelle Ich' nannte er auch das 'absolute, bzw. transzendente Subjekt' oder die 'gesetzgebende Vernunft'.
:''Ich, das individuelle Ich „… werde in meiner Daseinsweise, meinem Urteilen, Werten und Wollen durch das transzendente Subjekt, die Vernunft bestimmt, obzwar bald mehr, bald minder.''
Damit hatte Lipps Willkür ausgeschlossen und ein Objektivitätsgefühl benannt, das sich behaupten kann.<ref>Vgl. ''Denken, Fühlen, Wollen'', S. 54.</ref> Eine Psychologie, die das individuelle Ich nicht in Beziehung zum überindividuellen richtigen logischen Denken, also in der Beziehung mit der Tatsache sieht, dass Vernünftiges erlebbar ist, beschäftige sich mit einem Ich, das es nicht gebe, schlussfolgerte Lipps.<ref>Vgl. ''Philosophie und Wirklichkeit'', S. 27–37.</ref>
 
== Rezeption ==
Die Zeitgenossen Lipps beurteilten die Philosophie Lipps unterschiedlich. Einige sahen sich durch Lipps konstruktiv angeregt und unterstützt. [[Sigmund Freud]] schrieb z. B. dass er bei Lipps Grundzüge seines eigenen Denkens wiedergefunden habe und zum Weiterentwickeln seiner Theorie angeregt worden sei. <ref> [[Liliane Weissberg]]: ''‚Mut und Möglichkeit‘. Siegmund Freud liest Theodor Lipps.'' In: Mark H. Gelber, Jakob Hessing (Hgs.): ''Integration und Ausgrenzung: Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ; Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag.'' Berlin/New York (Walter de Gruyter) 2009, S. 159–170.</ref> Andere Zeitgenossen kritisierten sein 'nivellierendes Denken' und den 'bescheidenen Dienst', den er damit leiste.<ref>Paul Stern: ''Der Sensualismus und das Problem des Denkens''. In: Ders.: ''Grundprobleme der Philosophie.'' 1903, S. 28–24.</ref>
 
In den 'Kantstudien'<ref>[http://www.kant.uni-mainz.de/Studien.htm Kantstudien]</ref> seiner Zeit wurde Lipps' Denken als über Kant hinausgehend beschrieben, seine Stellungnahmen zur Psychophysik und die Darstellung seiner Auffassungen als engagiert gewürdigt. Man rückte ihn in die Nähe des [[Friedrich Wilhelm Joseph Schelling|Schellingschen Idealismus]], da er ein 'Weltbewusstsein' annehme, das allen Naturerscheinungen zu grundeliege.<ref> Oskar Ewald: ''Die deutsche Philosophie im Jahr 1907''. In: [[Hans Vaihinger]] u. a. (Hrsg.): ''Kantstudien 13'', 1908, 197–23; v. a. d. S. 216–220.</ref>
 
Eine umfassende Rezeption und breite wissenschaftliche Diskussion seiner Forschungsergebnisse und Ideen hat bisher noch nicht stattgefunden. Es gibt seit 2013 eine von dem Philosophen Faustino Fabbianelli ([[Universität Parma]]) herausgegebene vierbändige Sammlung der meisten Schriften Lipps. Sie enthält auch unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass. Einige Texte von Lipps sind inzwischen digital zugänglich. Eine Reihe Schriften sind als Nachdrucke erhältlich. In den neueren Diskussionen um empathische Konzepte wurden Lipps Konzepte bisher nicht mit einbezogen. Es bleibt weitgehend bei historischen Hinweisen auf seinen Verdienst als Ideengeber der 'Einfühlungstheorie'.<ref> z. B. bei Katharina Anna Fuchs: ''Emotionserkennung und Empathie. Eine multimediale psychologische Studie am Beispiel von Psychopathie und sozialer Ängstlichkeit.'' Heidelberg 2014, S. 44.[https://books.google.de/books?id=MhsgBAAAQBAJ&pg=PA5&lpg=PA5&dq=Katharina+Anna+Fuchs&source=bl&ots=IFRmBx6Ehh&sig=oLA2yiIC6SQ8a06JqCTUAS2rVr0&hl=de&sa=X&ved=0CCgQ6AEwAjgKahUKEwjIke7M1pXIAhXijnIKHVNrBHU#v=onepage&q=Katharina%20Anna%20Fuchs&f=false Google Sept.2015]</ref>
 
Vereinzelt wird erwähnt, dass Lipps Darstellungen als Verbindung zwischen Philosophie und Neurowissenschaften geeignet sind und klare Bezüge zu David Hume enthalten.<ref>Vgl. z. B. [http://othes.univie.ac.at/4219/Marie-Therese Thill Marie-Therese Thill]: ''Das mimetische Gehirn. Mimesis und Empathie im Kontext des menschlichen Spiegelneuronensystems.'' Wien 2009, S. 34–37.[http://othes.univie.ac.at/4219/1/2009-03-16_0103237.pdf Download Uni Wien]</ref>
In [[Kunst]], [[Architektur]] und [[Kulturwissenschaften]] werden Lipps Beschreibungen des Wahrnehmens und seine Einfühlungstheorie als 'Grundlagentexte' veröffentlicht bzw. thematisch verwendet.<ref> Vgl. Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter (Hgs.): ''Einfühlung und phänomenologische Reduktion: Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst.'' Münster 2007. [https://books.google.de/books?id=4kHf-ekS7i8C&dq=Friedrich+Gleiter+Einf%C3%BChlung&hl=de&source=gbs_navlinks_s Google Sept.2015] – [https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/persoenliche-seite-robin-curtis/ Robin Curtis], [[Gertrud Koch (Wissenschaftlerin)|Gertrud Koch]] (Hgs): ''Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts.'' München 2008.</ref>
 
== Schriften ==
* ''Grundtatsachen des Seelenlebens.'' 1883.
* ''Grundzüge der Logik.'' 1893.
* ''David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Band 1-3.'' 1894 (Übersetzung).
* ''Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen.'' 1897.
* ''Komik und Humor.'' 1898.
* ''Die ethischen Grundfragen: Zehn Vorträge.'' 1899.
* ''Vom Fühlen, Wollen und Denken.'' 1902.
* ''Leitfaden der Psychologie.'' 1903.
* ''Ästhetik.'' 1903–1906.
* ''Philosophie und Wirklichkeit.'' 1908.
* ''Schriften zur Psychologie und Erkenntnistheorie; 4 Bände: 1. Band (1874-1899) - 2. Band (1900-1902) - 3. Band (1902-1905) - 4. Band (1906-1914)'' Herausgegeben von Faustino Fabbianello (Universität Parma). Würzburg 2013.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Theodor Lipps}}
* {{WikipediaDE|Funkiton (Objekt)}}
 
== Literatur ==
* Conrad Müller: ''Theodor Lipps' Lehre vom Ich in ihrem Verhältnis zur Kantischen.'' Berlin 1912.
* Ernst Bloch: ''Nachruf auf Theodor Lipps.'' 1914. in: ''Werke 10.'' S. 53–55.
* Georgi Schischkoff (Hrsg.): ''Philosophisches Wörterbuch.'' Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 3-520-01321-5.
* {{NDB|14|670|672|Lipps, Theodor|Wolfhart Henckmann|117057436}}
* Stefan Liekam: ''Empathie als Fundament pädagogischer Professionalität. Analysen zu einer vergessenen Schlüsselvariablen der Pädagogik.'' München 2004.
* Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter (Hgs.): ''Einfühlung und phänomenologische Reduktion: Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst.'' Münster 2007.
* Robin Curtis, Gertrud Koch (Hgs): ''Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts''. München 2008
* Thomas Anz: ''Emotionen in Literatur und Wissenschaft. Einfühlung als (alter) neuer Weg der Erkenntnis.'' In: Karl Ermert (Hg.): ''Und noch mal mit Gefühl … Die Rolle der Emotionen in der Kultur und Kulturvermittlung.'' Norderstedt 2011.
* Christa Dunst: ''Empathie im Wandel. Eine retrospektive Betrachtung hin zu einer Erweiterung des Terminus in der Personenzentrierten Psychotherapie durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften''. Wien 2012.
* Ludwig Binswanger: ''Lipps und seine Lehre von den Bewusstseinserlebnissen'' In: Ders. ''Einführung in die Probleme der Allgemeinen Psychologie''. Heidelberg 2013, S. 158–17.
* Julius Pikler: ''Über Theodor Lipps' Versuch einer Theorie des Willen.'' Forgotten Books 2013. (Erstveröffentlichung 1908.) [https://books.google.at/books?id=o1Q_AAAAIAAJ Julius Pikler: Über Theodor Lipps' Versuch einer Theorie des Willens]
* Johannes Orth: ''Gefühl und Bewusstseinslage.'' Norderstedt 2015. (Erstveröffentlichung 1903.) [https://books.google.de/books?id=aJO6BwAAQBAJ&pg=PP1&lpg=PP1&dq=Johannes+Orth+Gef%C3%BChl+Bewusstseinslage&source=bl&ots=CmeSrDqeso&sig=gvanW69rl0DqrLbbrfQWvGEYO7M&hl=de&sa=X&ved=0CCcQ6AEwAGoVChMIw_PqjrSNyAIVJ71yCh2jxAcS#v=onepage&q=Johannes%20Orth%20Gef%C3%BChl%20Bewusstseinslage&f=false Google, Sept. 2015, beschränkter Zugriff]


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


== Weblinks ==
[[Kategorie:Abstraktum]]
* {{DNB-Portal|117057436}}
[[Kategorie:Technik]]
* {{DDB|Person|117057436}}
* {{PGIA|2709}}
* [http://www.pfaelzer-muehlenland.de/fileadmin/PDF/Theodor_Lipps.pdf Der Philosoph Theodor Lipps aus Wallhalben]
* [http://scriptorium.hfg-karlsruhe.de/ Einige Texte von Lipps im Original] auf scriptorium.hfg-karlsruhe.de
* [http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/search?-format=search&-op_referencetype=eq&referencetype=&-op_author=all&author=Lipps%2C+Th&-op_title=all&title=&-op_secondarytitle=all&secondarytitle=&-op_sql_year=numerical&sql_year=&-op_fullreference=all&fullreference=&-op_online=numerical&-op_id=numerical&id=&online=1&-op_volumeid_search=ct&volumeid_search=&-op_project=eq&project=&-max=25&-display=short&-sort=author%2Csql_year&-find=+Start+Search+ Eine Reihe digitalisierte Texte] von Lipps im Projekt Virtual Laboratory des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte auf vlp.mpiwg-berlin.mpg.de
* [http://podcasts.uni-freiburg.de/philosophie-sprache-literatur/husserl-archiv/colloquium-phaenomenologicum-im-sommersemeter-2014/57710390 Psychologie und Metaphysik in Theodor Lipps’ Phänomenologie.] Vortrag von Faustino Fabbianelli (Università degli studi di Parma) an der Universität Freiburg.
 
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Version vom 9. März 2020, 01:44 Uhr

Ein Schweizer Taschenmesser hat eine Vielzahl von Funktionen

Als Funktion eines Objektes bezeichnet man die Aufgabe, die es zu erfüllen hat. Die Funktion stellt neben Form, Material, Struktur usw. ein wesentliches Charakteristikum eines jeden Objektes dar, das in irgendeiner Form ge- oder benutzt wird.

Überblick

Funktion kann als Kontrollfluss-Kante (Beziehung) zwischen zwei Objekten beschrieben werden. Während der Begriff „Zweck“ den Beweggrund einer aktiven Tätigkeit oder eines aktiven Verhaltens bezeichnet, wird der Begriff „Funktion“ in der Regel auf passive Objekte angewandt, die vom Menschen benutzt werden. Im Alltagsgebrauch werden Funktion und Zweck jedoch häufig synonym gebraucht. Sinngemäß benutzt werden u. a. die Begriffe Methode, Verhalten, Handlung und Auftrag.

Beispiele:

Ein Herz versorgt einen Körper mit Blut.
Ein Argument wird zum Begründen oder Widerlegen einer Behauptung verwendet.
Fe3O4 funktioniert beim Haber-Bosch-Verfahren als Katalysator.
Ein Wohngebäude ist zum Wohnen da (→ Siehe auch: Liste von Bauwerken nach Funktion)
Schrauben dienen als lösbare Verbindungen von Bauteilen aller Art.

Die Erfüllung gestellter Anforderungen bezeichnet man als Funktionalität oder Gebrauchstauglichkeit.

Erfüllt ein Objekt gleich mehrere verschiedene Funktionen, spricht man auch von „Multifunktionalität“. Das Ziel, mit möglichst wenigen Bauteilen möglichst viele technische Funktionen abzudecken, bezeichnet man in der Konstruktionslehre als „Funktionsintegration“. Fallen bei einem Objekt Soll-Verhalten und Ist-Verhalten auseinander, spricht man auch von Überfunktion, Unterfunktion, Fehlfunktion oder Fehler.

Typen von Funktionen

Peter Achinstein unterschied in der mehrfach aufgegriffenen Arbeit Function Statements aus dem Jahr 1977 zwischen drei Typen von Funktionen, mit denen Aussagen wie „x funktioniert als y“ expliziert werden können:[1][2]

Konstruktionsfunktionen

Konstruktionsfunktionen (design functions) beschreiben Funktionen, für die etwas eigens erschaffen wurde.

Beispiel:

  • Ein Schlüsselbund sammelt mehrere Schlüssel und verhindert, dass diese leicht verlorengehen. Dafür ist er (auch) gemacht worden.

Gebrauchsfunktionen

Gebrauchsfunktionen (user functions) beschreiben Funktionen, die jemand (bewusst) in Anspruch nimmt. Sie können mit Konstruktionsfunktionen übereinstimmen, aber auch – im Sinne der bei der Erschaffung gedachten Funktion(en) – durch Zweckentfremdung bzw. Improvisation oder auch bei Objekten, die nicht für etwas hergestellt wurden, gänzlich ohne Konstruktionsfunktion zustande kommen.

Beispiele:

  • Jemand, der den Schlüsselbund genau für das Erdachte anwendet, nutzt ihn sowohl im Sinne einer Gebrauchs- als auch seiner Konstruktionsfunktionen.
  • Hält jemand einen Schlüsselbund in der Hand, um sich durch das Geräusch beim Herunterfallen von einem Tagschlaf abzuhalten, nutzt den Schlüssel außerhalb der Konstruktionsfunktion(en).
    Verwendet jemand Eisenerz, um daraus einen Schlüsselbund herzustellen, gebraucht sie/er das Eisenerz dafür, eine Konstruktionsfunktion des Eisenerzes ist aber nicht ersichtlich (es wurde nicht „dafür gemacht oder vorgesehen, ein Schlüsselbund zu werden“), sofern keine stark teleologische Position vertreten wird wie etwa in der Prädestinationslehre.

Dienstfunktionen

Dienstfunktionen (service functions) beschreiben allgemein Funktionen, die tatsächlich ausgeführt werden. Sie können sowohl Konstruktions- als auch Gebrauchsfunktionen umfassen, aber auch nicht beabsichtigte Funktionen, die etwas anderem zugutekommen.

Beispiele:

  • Ist der Schlüsselbund intakt und wird bewusst im Sinne der Erschaffung benutzt, treffen auf ihn alle drei Funktionstypen zu.
  • Wenn der Schlüsselbund durch physische Veränderung seine Konstruktionsfunktion nicht mehr ausführen kann, aber als Werkzeug für das Betätigen des Notauswurf eines CD-ROM-Laufwerks gebraucht wird, besteht sowohl eine Gebrauchs- als auch eine Dienstfunktion. Hier kann man zwar nach wie vor von der ursprünglichen Konstruktionsfunktion sprechen, die aber nicht mehr ausgeführt werden kann (keinen tatsächlichen Dienst mehr leisten).
  • Liegt der Schlüsselbund auf einem Blatt Papier und verhindert dessen Wegfliegen durch einen Windstoß, ohne dass er deswegen dort hingelegt wurde, besteht in dieser Befestigung eine Dienstfunktion, die weder bei der Erschaffung beabsichtigt war noch (bewusst) verwendet wurde.
    Löst der Schlüsselbund in einem Flughafen durch das Signal eines Metalldetektors die Festnahme einer polizeilich gesuchten Person aus, hatte der Schlüsselbund aus Sicht der Polizei die Dienstfunktion des Aufmerksammachens (auf die gesuchte Person), ohne dass sie beabsichtigt war.
    Führt das Reibungs­geräusch des Schlüsselbundes in einer Jackentasche zum so nicht beabsichtigten Auffinden eines gesuchten Geldstücks, erbrachte er ebenfalls einen Dienst ohne Konstruktions- oder Gebrauchsfunktion.

Philosophische Standpunkte zum Begriff der Funktion

In der naturalistisch geprägten Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie etwa dem logischen Empirismus oder dem Wiener Kreis, war der Begriff der Funktion nicht zentral. Er wurde als Relikt einer aristotelischen Teleologie oder als bloße Redensart angesehen, die durch eine gleichwertige, rein kausale Formulierung abgelöst werden kann. Diese Überzeugung beruht auf der Vorstellung wissenschaftlicher Erklärungen wie sie im Hempel-Oppenheim-Schema zum Ausdruck kommt. Diese streng reduktionistische Ansicht vertrat etwa noch Ernest Nagel in seinem Werk The Structure of Science (1961).

Insbesondere seit den 1970er Jahren gelangte die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Stellung und der Eigenheit des Begriffes „Funktion“ ins Interesse der philosophischen Literatur: Die meisten zeitgenössischen Autoren gehen dabei von der Vorstellung aus, dass der Verweis auf Funktionen in gewisser Weise erklären will, warum der Gegenstand in der bestimmten Form vorhanden ist. Dieser Anspruch geht u. a. zurück auf den Philosophen Larry Wright. Philosophisch umstritten ist, ob der Begriff Funktion in verschiedenen Disziplinen eine identische Bedeutung besitzt und worin diese Bedeutung bestehen mag. Dementsprechend ist ebenso strittig, ob in verschiedenen Wissenschaften die Art der Erklärung gleichartig sein kann, die für das Vorhandensein des funktionalen Gegenstandes geliefert wird. Von den meisten Autoren wird zugestanden, dass es unterschiedliche Verwendungsweisen des Wortes „Funktion“ in unterschiedlichen Kontexten gibt, welche nicht auf einem präzise umrissenen Begriff fußen. In der Biologie wird Funktion von Wissenschaftstheoretikern oft in Beziehung gesetzt zu genuin biologischen Begriffen wie natürlicher Selektion (Ruth Millikan) oder Fitness (John Bigelow und Robert Pargetter), während bei den Funktionen technischer Geräte und sozialer Institutionen menschliche Intentionen das Vorhandensein des Objektes erklären.

Robert Cummins sieht Funktionen allgemein als Rollen, die bestimmte Eigenschaften von Bauteilen für die Arbeitsweise eines komplexeren Systems spielen. Diese Art von Funktionen werden in der englischsprachigen Literatur auch als causal-role-functions bezeichnet. Grundsätzlich können also nach Cummins Funktionen in beliebigen Arten von Systemen beschrieben werden, auch in denjenigen, in denen wir im Alltagsverständnis keine solche Formulierung wählen würden. Dazu zählen etwa astronomische Systeme oder Objekte der unbelebten Natur wie Gestein oder Wetterphänomene. Die Daseinsberechtigung unterschiedlicher Verwendungsweisen des Begriffes wird etwa von Peter Godfrey-Smith, aber auch von Ruth Millikan zugestanden.

Auch die Frage, in welcher Beziehung Funktionen zu anderen Begriffen stehen, wie etwa „Zweck“, „Design“ oder „Organismus“, wird von verschiedenen Autoren behandelt.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Christoph Rehmann-Sutter: Leben beschreiben: über Handlungszusammenhänge in der Biologie. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1996, S.225–227 bei Google bücher, ISBN 3-8260-1189-9
  2. Mohammed Ali Berawi, Roy Woodhead: A Teleological Explanation of the Major Logic Path in Classic FAST. In: 44th Annual Conference of the Society of American Value Engineers International (SAVE International). Montreal 2004, Function.pdf#page=3 verfügbar auf einer Webseite der Value Solutions Ltd@1@2Vorlage:Toter Link/www.value-solutions.co.uk (Seite nicht mehr abrufbar; Suche in Webarchiven) (englisch)


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