Erziehung

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Erziehung (von ahd. irziohan = "herausziehen"; vgl. auch lat. educare ="großziehen, ernähren, erziehen") diente ursprünglich dazu, den heranwachsenden Menschen in die gemeinsamen Werte, Normen und Gebräuche einer gegebenen Gesellschaftsordung, also eines Kollektivs, einzuweisen. Heute, im Zeitalter zunehmender Individualisierung, kann dieses alte Erziehungsideal nicht mehr genügen, wie es sich schon in dem von Rudolf Steiner formulierten soziologischen Grundgesetz ausspricht:

"Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen." (Lit.: GA 031, S. 251)

Selbsterziehung

(Hauptartikel: --> Selbstbildung)

Der Erzieher muss darum heute geeignete Bedingungen schaffen, unter denen sich die individuellen Fähigkeiten des heranwachsenden Menschen frei entfalten und weiterentwickeln können. Dazu ist vor allem auch eine entsprechende Charakterbildung nötig, aber nicht nach vorgegebenen moralischen Regeln, sondern als Hilfe, die ganz individuellen charakterlichen Anlagen zu entwickeln. Jede Erziehung, insofern sie unmittelbar an das individuelle menschliche Ich appeliert, ist darum im Grunde genommen Selbsterziehung, die aber zunächst einer gewissen Leitung und Hilfe bedarf. Dafür möglichst gute Bedingungen zu schaffen, ist das Ziel der Waldorfpädagogik.

"Es gibt im Grunde genommen auf keiner Stufe eine andere Erziehung als Selbsterziehung. Aus tieferen Gründen heraus wird ja das insbesondere durch die Anthroposophie eingesehen, die von wiederholten Erdenleben ein wirklich forschungsgemäßes Bewußtsein hat. Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß." (Lit.: GA 306, S. 131)

Das Ich des Menschen entwickelt sich vornehmlich dadurch, dass es, zuerst unbewusst und später bewusst, an der Umwandlung und Verfeinerung seiner Leibeshüllen arbeitet. Dadurch werden die höheren seelischen und geistigen Wesensglieder herausgebildet. Erziehung kann diese Arbeit unterstützen, indem sie auf die gesunde Pflege des physischen Leibes achtet, für eine lebendige Bildung des Ätherleibs sorgt und dem Kind und Jugendlichen hilft, die Begierden seines Astralleibs zu beherrschen. Dabei ist zu beachten, dass sich die Wesenglieder in aufeinanderfolgenden Siebenjahresperioden entwickeln und nur innerhalb dieser am bildsamsten sind.

Von überragender Bedeutung ist die Selbterziehung für Waldorferzieher, die seelenpflegebedürftige Menschen betreuen:

"Nun müssen wir wissen, daß es bei dem, was Geisteswissenschaft geben kann, sich immer nur handeln kann um den Appell an den Menschen. Man strebt immer nach Vorschriften: Das sollst du so machen und das andere so. — Derjenige, der Erzieher werden will für abnorme Kinder, der ist nie fertig, für den ist jedes Kind wieder ein neues Problem, ein neues Rätsel. Aber er kommt nur darauf, wenn er nun geführt wird durch die Wesenheit im Kinde, wie er es im einzelnen Fall machen muß. Es ist eine unbequeme Arbeit, aber sie ist die einzig reale.

Daher handelt es sich im Sinne dieser Geisteswissenschaft so stark darum, daß wir gerade als Erzieher im allereminentesten Sinne Selbsterziehung pflegen." (Lit.: GA 317, S. 74f)

Der Intellekt hilft bei der (Selbst-)Erziehung wenig. Viel wichtiger ist die Schulung des Gefühls und Willens im praktischen Tun.

"Nun, es gibt ein Lebensbegreifen, eine Lebensanschauung, die wir uns dadurch erwerben, daß wir überall mit unserem Verstande in die Dinge hineinreichen wollen. Diese Verstandeskultur bringt in Wahrheit unsere Entwickelung nicht weiter, hat also keinen selbsterzieherischen Wert. Dasjenige Element muß bei der Selbsterziehung des Menschen die größte Rolle spielen, was man nennen kann: das über die Intellektualität, den Verstand Hinausreichende in dem Aneignen der Lebensreife. Gerade wie das Kind dadurch am besten am Spiel erzogen wird, daß es nicht durch den Verstand erzogen wird, sondern probiert, so wird sich der Mensch in bezug auf seinen Willen an denjenigen Erfahrungen des Lebens am besten erziehen, die er nicht mit seinem Verstande begreift, sondern zu denen er sich mit seiner Sympathie, mit Liebe stellt, mit seinem Gefühl, daß die Dinge erhaben sind oder den Humor berühren. Das bringt uns weiter. Hier liegt die Selbsterziehung des Willens. Verstand, intellektualistische Kultur können gewöhnlich auf den Willen gar nicht wirken." (Lit.: GA 061, S. 434f)

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst

"Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewußtsein, daß das Kind ein göttliches Rätsel darstellt, das man mit seiner Erziehungskunst lösen soll. In Liebe geübte Erziehungsmethode, durch die das Kind sich instinktiv an uns selbst erzieht, so daß man dem Kinde die Freiheit nicht gefährdet, die auch da geachtet werden soll, wo sie das unbewußte Element der organischen Wachstumskraft ist.

Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen
In Liebe erziehen
In Freiheit entlassen

" (Lit.: GA 269, S. 179)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887 - 1901, GA 31 (1966)
  2. Rudolf Steiner: Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung, GA 61 (1983), ISBN 3-7274-0610-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichtes und das Spruchgut für Lehrer und Schüler der Waldorfschule, GA 269 (1997), ISBN 3-7274-2690-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen., GA 306 (1989), ISBN 3-7274-3060-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  5. Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs, GA 317 (1995), ISBN 3-7274-3171-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

  1. Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft - 1907