Benjamin Libet

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Benjamin Libet

Benjamin Libet (* 12. April 1916 in Chicago, Illinois; † 23. Juli 2007 in Davis, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Physiologe und gilt als Wegbereiter der experimentellen Bewusstseinsforschung.

Libet-Experiment

Libets Oszilloskop-Uhr[1]

Bekannt wurde Libet vor allem für sein 1979 durchgeführtes und später nach ihm benanntes „Libet-Experiment“, bei dem er den zeitlichen Zusammenhang willkürlich eingeleiteter Handlungen mit der damit verbundenen neuronalen Aktivität studierte. Er kam dabei zu dem für ihn erstaunlichen Ergebnis, dass das die Handlung einleitende Bereitschaftspotential bereits deutlich vor der bewusst erlebten Entscheidung zu dieser Handlung aufgebaut wird.

Libet knüpfte an die Arbeiten von Hans Helmut Kornhuber (1928-2009) und Lüder Deecke (* 1938) an, die das Bereitschaftspotential 1964 entdeckt hatten[2]. Kornhubers und Deeckers Versuche zeigten, dass das Bereitschaftspotential schon etwa 0,4 bis 4 Sekunden vor der Bewegung flach anzusteigen beginnt und seinen Höhepunkt meist etwa 50 msec (zwischen 30-90 msec) nach Beginn der Bewegung erreicht. Das widersprach Libets Alltagserfahrung, wonach ihm die subjektiv empfundene Zeit zwischen Handlungsabsicht und -ausführung sehr viel kürzer erschien. Er wollte daher empirisch möglichst exakt feststellen, wann die Versuchsperson eine bewusste Handlungsentscheidung trifft, wann die zugehörige einleitende Aktivität im motorischen Cortex beginnt, und wann die betreffenden Muskeln tatsächlich tätig werden.

Libet errechnete seine Daten aus dem statistischen Mittelwert von jeweils 40 EEG-Aufzeichnungen pro Versuchsperson. Als zeitlichen Referenzpunkt legte er den Beginn der mittels Elektromyografie (EMG) gemessenen Muskelaktivität fest. Um den Zeitpunkt der Willensentscheidung der Versuchpersonen möglichst genau zu erfassen, ließ er sie auf einen mittels eines Oszilloskops realisierten Lichtpunkt blicken, der innerhalb von 2,56 Sekunden einen vollständigen Kreis beschrieb. Die Probanden sollten genau angeben, bei welcher Stellung des Lichtpunkts sie den bewussten „Drang“ („urge“) zur Bewegung verspürt hatten. Um dieses Verfahren zu kalibrieren, wurde zuvor eine Hauptpartie elektrisch stimuliert und der Beginn der Muskelaktivität gemessen. Die Versuchspersonen mussten anhand des kreisenden Lichtpunkts angeben, wann sie die Stimulation bewusst wahrgenommen hatten. Dabei ergab sich, dass der Reiz durchschnittliche 50 ms vor der durch den Reiz ausgelösten Muskelaktivität bewusst erlebt wurde.

Diagramm der Messergebniss[3]

Im Hauptversuch wurden die Probanden gebeten, zu einem beliebigen Zeitpunkt die rechte Hand zu bewegen. In einem Teil der Versuche sollte diese Bewegung ganz spontan erfolgen, in einem anderen Teil sollten sie die Bewegung bewusst vorausplanen und bis zur eigentlichen Ausführung noch bis zu einer Sekunde abwarten.

Relativ zur registrierten Muskelaktivität setzte das Bereitschaftspotential bei durchschnittlich -1050 ms ein, wenn die Versuchperson berichtete, dass sie die Handlung vorausgeplant hatte. Bei spontanen Bewegungen trat das Bereitschaftspotential hingegen erst bei -550 ms auf. Der Zeitpunkt der willentlichen Entscheidung, den die Versuchspersonen angaben, lag in beiden Fällen bei -200 ms, also deutlich nach dem Aufbau des Bereitschaftspotentials (rechnet man noch den im Vorversuch ermittelten Korrekturfaktor ein, kommt man auf -150 ms). Die unbewusste vorbereitende motorische Aktivität scheint also in jedem Fall dem bewussten Willensentschluss ganz klar voranzugehen.[4]

Schlussfolgerungen

„Es wird gefolgert, dass die zerebrale Initiation eines spontanen, freiwilligen Aktes unbewusst beginnen kann, d.h. bevor es (zumindest abrufbar) ein subjektives Bewusstsein dafür gibt, dass eine "Entscheidung" zum Handeln bereits zerebral eingeleitet wurde. Dies führt zu gewissen Einschränkungen der Möglichkeiten zur bewussten Initiierung und Kontrolle von freiwilligen Handlungen.“

B. Libet et al.: Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (1983)[5]

Libets Erkenntnisse führten in den Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes zu heftigen Debatten über die Willensfreiheit des Menschen. Viele Forscher sehen seitdem die Freiheit des menschlichen Willens als bloße Illusion an; in Wahrheit sei der Mensch durch seine neurale Strukturen determiniert. So behauptet etwa der Neurophysiologe Wolf Singer: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen[6] und fordert entsprechende ethische und juristische Konsequenzen bezüglich der Schuldfähigkeit des Menschen. Libet selbst blieb in dieser Frage etwas vorsichtiger. Zwar ging auch er davon aus, dass die von ihm untersuchten Bewegungen schon vor der bewussten Entscheidung unbewusst neuronal angebahnt werden, doch gestand er - allerdings ohne empirische Grundlage - dem Bewusstsein ein freies „Veto-Recht“ zu, durch das die angebahnte Handlung innerhalb eines kleinen Zeitfensters noch abgebrochen werden kann, ehe sie tatsächlich zur Ausführung kommen würde.

„Die Rolle des bewußten freien Willens wäre also nicht, eine Willenshandlung einzuleiten, sondern vielmehr zu kontrollieren, ob die Handlung stattfindet. Wir können die unbewußten Initiativen zu Willenshandlungen als ein «Hochsprudeln», im Gehirn verstehen. Der bewußte Wille entscheidet dann, welche dieser Initiativen sich in einer Handlung niederschlagen soll oder welche verhindert und abgebrochen werden sollen, ohne daß es zur Handlung kommt.
Diese Art von Rolle für den freien Willen stimmt tatsächlich mit religiösen und ethischen Mahnungen überein. Diese befürworten gewöhnlich, daß man «sich selbst unter Kontrolle hat». Die meisten der zehn Gebote geben die Anweisung, daß man etwas nicht tun soll.“ (Lit.: Libet 2016, S. 282[7])

Neuere Untersuchungen (2016) von John-Dylan Haynes (* 1971) scheinen das auch experimentell zu bestätigen[8]. Zudem sah Libet den Indeterminismus als Voraussetzung des freien Willens an[9].

Kritik

Grundsätzlich zu hinterfragen ist, ob Libets Versuchsbedingungen überhaupt geeignet sind, Aussagen über die Willensfreiheit zu machen. Einfache Fingerbewegungen, wie sie seinen Experimenten zugrunde liegen, scheinen dazu wenig geeignet, da die in solche elementaren Körperbewegungen involvierte Motorik selbst weitgehend unbewusst abläuft. Aber gerade auch komplexe, mühsam erlernte Bewegungmuster, etwa Radfahren, funktionieren nur dann gut, wenn sie weitestgehend automatisch ablaufen. Wir bestimmen zwar bewusst die Richtung unserer Fahrt, aber der Bewegungsablauf selbst vollzieht sich autonom und fast unbewusst. Dem Neurowissenschaftler Gerhard Roth, der vehement die Willensfreit des Menschen bestreitet, ist insofern zuzustimmen, wenn er schreibt:

„Bewußtsein tritt auf, wenn das Gehirn mit kognitiven oder motorischen Aufgaben konfrontiert ist, für die noch keine „zuständigen“ Nervennetze existieren. Dabei finden synaptische Reorganisationen in spezifischen Nervennetzen statt. Dies kann mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden. Sobald sich diese Netze konsolidieren, werden die kognitiven oder motorischen Leistungen automatisiert, und Bewußtsein, zum Beispiel in Form von Aufmerksamkeit, ist nicht mehr nötig.“

Gerhard Roth: Entstehen und Funktion von Bewußtsein[10]

Wenn ich etwa den Entschluss fasse, spazieren zu gehen, so kann ich hingegen sehr wohl die Frage stellen, ob ich zu diesem Entschluss aus freier bewusster Entscheidung gekommen bin, oder etwa nur rein gewohnheitsmäßig spazierengehe. Die eigentlichen motorischen Bewegungen, durch die ich dann einen Schritt vor den anderen setze, haben mit der vorangegangenen Entscheidung, wie sie auch gefallen sein mag, frei oder unfrei, nicht das Geringste zu tun. Entscheidend ist hier nicht, wie die Bewegung ausgeführt wird, sondern wie der Entschluss zustande kommt, sie auszuführen. Es geht nicht darum wie und wann ich eine bestimmte Handlungsfolge ablaufen lasse, sondern warum.

Dass eine Tat, bei der ich nicht weiß, warum ich sie ausführe, nicht frei ist, versteht sich von selbst. Wie ist es aber um eine Handlung bestellt, deren Gründe ich vollkommen überschauen kann? Ob ein Willensakt wirklich frei ist, werde ich nur beurteilen können, wenn ich klar erkenne, welche Triebfeder und welches Motiv mein Tun leitet. Alle damit zusammenhängenden Fragen hat Rudolf Steiner in seiner 1894 erschienen «Philosophie der Freiheit» ausführlich besprochen.

„Eine Handlung wird als eine freie empfunden, soweit deren Grund aus dem ideellen Teil meines individuellen Wesens hervorgeht; jeder andere Teil einer Handlung, gleichgültig, ob er aus dem Zwange der Natur oder aus der Nötigung einer sittlichen Norm vollzogen wird, wird als unfrei empfunden.

Frei ist nur der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist. Eine sittliche Tat ist nur meine Tat, wenn sie in dieser Auffassung eine freie genannt werden kann.“ (Lit.:GA 4, S. 164)

Publikationen (Auswahl)

  • Benjamin Libet: Cortical activation in conscious and unconscious experience, in: Perspectives in Biology and Medicine, 9 (1965), 77-86
  • Benjamin Libet: Brain stimulation and the threshold of conscious experience, in: Brain and Conscious Experience. Edited by J. C. Eccles. Berlin: Springer-Verlag (1966), pp. 165-181
  • Benjamin Libet: Electrical stimulation of cortex in human subjects, and conscious sensory aspects, in: Handbook of Sensory Physiology. Edited by A. Iggo. Heidelberg: Springer-Verlag (1973), Volume 2, pp. 743-790
  • Libet B., Wright E. W. JR, Feinstein B., Pearl D. K.: Subjective referral of the timing for a conscious sensory experience. A functional role for the somatosensory specific projection system, in: man. Brain, 102 (1979), 193-224 pdf
  • Benjamin Libet: The experimental evidence for subjective referral of a sensory experience backwards in time: reply to P. S. Churchland, Philosophy of Science, 48 (1981a), 182-197 pdf
  • Benjamin Libet: ERPs and conscious awareness; neurons and glia as generators, in: Electrophysiological Approaches to Human Cognitive Processing, NRP Bulletin, Volume 20. Edited by R. Galambos and S. A. Hillyard. Cambridge, Mass. The MIT Press Journals (1981b), pp. 171-175,226-227
  • Libet B., Wright E. W. Jr, Gleason CA.: Readiness-potentials preceding unrestricted 'spontaneous' vs. pre-planned voluntary acts, in: Electroencephalogr Clin Neurophysiol. 1982 Sep;54(3), pp. 322-35, doi:10.1016/0013-4694(82)90181-X
  • Libet, Benjamin; Gleason, Curtis A.; Wright, Elwood W.; Pearl, Dennis K.: Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential) - The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act, in: Brain 106 (1983), S. 623–642, doi:10.1093/brain/106.3.623 pdf
  • Libet, Benjamin: Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action, in: The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 529–566, doi:10.1017/s0140525x00044903 pdf
  • Howard Shevrin, Jess H. Ghannam, Benjamin Libet: A Neural Correlate of Consciousness Related to Repression, in: Consciousness and Cognition 11 (2002), 334–341, doi:10.1006/ccog.2002.0553 pdf
  • Benjamin Libet: Do We Have Free Will?, in: Journal of Consciousness Studies, 6, No. 8–9, 1999, pp. 47–57
    • deutsch: Benjamin Libet: Haben wir einen freien Willen? In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente., 9. Auflage, Suhrkamp, 2016, ISBN 3-518-12387-4
  • Benjamin Libet: Mind Time: The Temporal Factor in Consciousness, Harvard University Press, Cambridge/Mass. 2004, ISBN 978-0674018464
    • deutsch: Benjamin Libet, Jürgen Schröder (Übers.): Mind Time: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Suhrkamp Verlag 2005, ISBN 978-3518584279

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Libet 1999, p. 50
  2. Hans H. Kornhuber, Lüder Deecke: Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale. In: Pflügers Arch 284, 1965, S. 1–17; doi:10.1007/BF00412364 online
  3. Libet 1999, p. 51
  4. Libet et al. (1983)
  5. „It is concluded that cerebral initiation of a spontaneous, freely voluntary act can begin unconsciously, that is, before there is any (at least recallable) subjective awareness that a ‘decision’ to act has already been initiated cerebrally. This introduces certain constraints on the potentiality for conscious initiation and control of voluntary acts.“ (Libet et al. 1983)
  6. Wolf Singer in: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 30ff.
  7. „The role of conscious free will would be, then, not to initiate a voluntary act, but rather to control whether the act takes place. We may view the unconscious initiatives for voluntary actions as ‘bubbling up’ in the brain. The conscious-will then selects which of these initiatives may go forward to an action or which ones to veto and abort, with no act appearing.
    This kind of role for free will is actually in accord with religious and ethical stric tures. These commonly advocate that you ‘control yourself’. Most of the Ten Com mandments are ‘do not’ orders.“ (Libet 1999, p. 54}
  8. Matthias Schultze-Kraft, Daniel Birman, Marco Rusconi, Carsten Allefeld, Kai Görgen, Sven Dähne, Benjamin Blankertz, John-Dylan Haynes: The point of no return in vetoing self-initiated movements, Proceedings of the National Academy of Sciences January 2016, 113 (4) 1080-1085; doi:10.1073/pnas.1513569112
  9. Libet 2016, S. 268 ff.
  10. Gerhard Roth: Entstehen und Funktion von Bewußtsein, in: Deutsches Ärzteblatt 1999; 96: A-1957–1961 [Heft 30]