Erdgeist

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Die Erscheinung des Erdgeists in Goethes Faust.

Der Erdgeist ist der Planetengeist der Erde und hat seinen Sitz in der neunten Schicht des Erdinneren, die identisch mit der Eishölle aus Dantes Göttlicher Komödie und zugleich der Quellort aller schwarzmagischer Kräfte ist. Hier ist auch das Erdgehirn lokalisiert, das in engem Zusammenhang mit dem menschlichen Gehirn steht. In Rudolf Steiners Mysteriendramen erweist sich das Urbild des German als der Geist des Erdgehirns. Der Geist der Erde umfasst dabei die Gesamtheit aller geistigen Wesen, die sich mit der Erde verbunden haben.

Der Erdgeist als Gemeinschaft geistiger Wesenheiten

"Wenn man unsere Erde hellseherisch von außen betrachten könnte, so würde man nicht nur Felsen und so weiter aus materiellem Stoff wahrnehmen und dazwischen tierische und menschliche Gestalten einherwandern sehen, sondern man würde vor allen Dingen Gruppenseelen der Pflanzen, der Tiere und so weiter sehen. Das ist schon eine geistige Bevölkerung unserer Erde. Der Hellseher würde ferner die einzelnen Individualseelen der Menschen, die Volksseele und so weiter sehen. Sie müssen sich überhaupt den Geist eines Himmelskörpers nicht etwa nur so einfach vorstellen, daß Sie sich im Raume eine Kugel denken, die einen Geist und eine Seele hat, sondern daß eine ganze geistige Bevölkerung, die ein Ganzes ausmacht, diesen Himmelskörper bewohnt. Und alle diese einzelnen Geister, Gruppenseelen und so weiter, stehen wiederum unter einem Anführer, wie wir es nennen können, und alles dies zusammen entspricht dem gesamten Geist unserer Erde, demjenigen, was wir den Erdgeist nennen." (Lit.: GA 098, S. 190)

Erdgeist und internationale Bestrebungen

"Solche Wesen, die von höheren Plänen aus die physische Entwicklung leiten, sind vorhanden. Deren niederste Entwicklung ist in der Astralmaterie. Jedes Volk, jede Rasse, jeder Stamm hat eine gemeinsame Astralmaterie, die Inkarnationsmaterie für den Volksgeist. Der Volksgeist erreicht immer seine Entwicklung etwas früher als die einzelnen im Volk. Der Volksgeist kann von der Mitte eines Zyklus an Karma ansammeln. Wir bilden mit an dem Karma des Volkes, der Rasse und so weiter. Kollektiv-Karma wird dies genannt. Es ist eine Realität. Es wird dadurch bewirkt, daß diejenigen Wesen, die eine Stufe weiter sind, auch Karma haben. Die internationalen Bestrebungen gehören einem noch umfassenderen Geiste an, der die gesamte Astralmaterie der Erde umfaßt, dem wirklichen Erdgeist. Die physische Erde ist auch der physische Körper für diesen Erdgeist, den planetarischen Logos, der, wenn man sich zu ihm erhebt, das Karma der ganzen irdischen Entwicklung bedeutet. Internationale Bestrebungen sind der erste Ansatz zu jener großen Einheit, die entstehen wird auf dem Arupaplan. Der Theosoph lebt in der Idee dieser großen Einbeziehung, des Konzentrierens auf einen Punkt." (Lit.: GA 089, S. 154f)

Der Planetengeist der Erde

"So wie wir beim Menschen also sagen: hinter seinem astralischen Leib ist sein Ich, so sprechen wir davon, daß hinter all dem, was wir die Gesamtheit der Geister der Umlaufszeiten nennen, verborgen ist der Geist des Planeten selbst, der Planetengeist. Während die Geister der Umlaufszeiten die Naturgeister der Elemente dirigieren, um auf dem Erdenplaneten rhythmischen Wechsel, Wiederholungen in der Zeit, Abwechselung im Raum hervorzurufen, hat der Geist der Erde eine andere Aufgabe. Dieser Geist der Erde hat die Aufgabe, die Erde selber in Wechselbeziehung zu bringen zu den übrigen Himmelskörpern der Umgebung, sie so zu dirigieren und zu lenken, daß sie im Laufe der Zeiten in die richtigen Stellungen kommt zu den anderen Himmelskörpern. Dieser Geist der Erde ist gleichsam der große Sinnesapparat der Erde, durch den die Erde, der Erdenplanet, in das richtige Verhältnis zu der Umwelt kommt.

Wenn ich also die Aufeinanderfolge jener geistigen Wesenheiten, mit denen wir es zunächst auf unserer Erde zu tun haben und zu denen wir den Weg finden können durch eine allmähliche okkulte Entwicklung, zusammenfassen soll, so muß ich sagen: Wir haben als den äußersten Schleier die Sinnenwelt mit aller ihrer Mannigfaltigkeit, mit demjenigen, was wir ausgebreitet sehen für unsere Sinne, was wir mit dem Verstand des Menschen begreifen können. Wir haben dann hinter der Sinneswelt liegen die Welt der Naturgeister. Hinter der Welt der Naturgeister haben wir liegen die Welt der Geister der Umlaufszeiten und dahinter den Planetengeist." (Lit.: GA 136, S. 44)

Christus und der Erdgeist

Der Anführer aller dieser geistigen Wesenheiten und damit der eigentliche Planetengeist der Erde ist seit dem Mysterium von Golgatha der Christus.

"Unsere Erde ist nicht bloß der materielle Körper, als den sie unsere Augen sehen, sondern unsere Erde hat eine geistige Hülle. Wie wir selbst einen Ätherleib und einen Astralleib haben, so hat auch unsere Erde solche höheren Leiber. Und wie sich eine kleine Menge Substanz ausdehnt in einer Flüssigkeit, so dehnte sich das, was geistig ausstrahlte von der Tat auf Golgatha, in die geistige Atmosphäre der Erde aus, durchdrang sie und ist seit jener Zeit darinnen. Es ist also seit jener Zeit unserer Erde etwas mitgeteilt, was sie früher nicht hatte. Und da die Seelen nicht bloß überall umschlossen von dem Materiellen leben, sondern da Seelen wie Tropfen sind, die im Meere des irdisch Geistigen leben, so sind eben die Menschen seit jener Zeit eingebettet in die geistige Atmosphäre unserer Erde, die durchdrungen ist von dem Christus-Impuls. Das war vor dem Mysterium von Golgatha nicht der Fall; und das ist der große Unterschied zwischen dem vorchristlichen und dem nachchristlichen Leben. Wenn man sich nicht vorstellen kann, daß so etwas im geistigen Leben stattfindet, dann ist man noch nicht so weit, das Christentum wirklich als eine mystische Tatsache aufzufassen, deren volle Bedeutung nur in der geistigen Welt erkannt und anerkannt werden kann." (Lit.: GA 131, S. 102f)

"Bis zu dem Zeitpunkte, in dem der Christus Jesus auf der Erde erschien, ist alles, was vom Christus-Geist vorhanden war, eine Einheit. Es war eine einheitliche Hülle, welche die ganze Erde umgab, die in der festen Erde gleichsam ihr Knochensystem hatte. Wenn Sie die feste Erde nehmen mit alledem, was sie in sich hat, und dann dazunehmen, was die Erde an Wärme umgibt, dann haben Sie ungefähr das, was man den Körper des Christus-Geistes nennt. Daher das schöne Wort im Johannes- Evangelium, wo sich der Christus Jesus selbst bezeichnet als den Geist der Erde: «Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.» Was isset der Mensch, wenn er ißt? Das Brot. Er ißt das Brot, das der Leib des Christus ist. Und indem er auf der Erde geht, tut der Mensch das andere: er tritt ihn mit Füßen. Ganz wörtlich ist das zu nehmen. Ebenso wie sich in der lemurischen Zeit in die einzelnen Individualitäten ausgegossen hat von dem Element des Geistes der Jahvegeist, ebenso goß sich nach und nach in den Zeitaltern, die dem Christus Jesus vorangegangen waren, und in denjenigen, die ihm jetzt nachfolgen, langsam der Christus-Geist ein, der seinen Körper in der Wärme des Blutes hat. Und wenn der ganze Christus-Geist ausgegossen sein wird in die menschlichen Individualitäten hinein, dann wird das Christentum, die große Menschenbrüderschaft, die Erde erobert haben. Dann wird es überhaupt kein Bewußtsein von Cliquen und kleinen Zusammenhängen mehr geben, sondern nur das Bewußtsein, daß die Menschheit ein Bruderbund ist. Bei der größten Individualisierung wird dennoch jeder zum andern hingezogen sein. Die kleinen Stammes- und Volksgemeinschaften werden gewichen sein der Gemeinschaft des Lebensgeistes, der Budhi, der Gemeinschaft des Christus." (Lit.: GA 096, S. 284f)

"Wer zur Zeit Christi von einem andern Planeten heruntergeblickt hätte auf die Erde, der würde das Hinzutreten dieser neuen Substanz zum Astralleibe der Erde ersehen haben an der Änderung der Farbenstrahlung dieses Astralleibes. Durch die Verbindung seines Astralleibes mit demjenigen der Erde ist der Sonnengeist Christus zugleich Erdgeist geworden. Der Christus-Geist ist Sonnengeist und zugleich Erdgeist. Von dem Moment an, da Christus auf Erden gewandelt ist, bleibt er in ständiger Verbindung mit der Erde. Er ist der Planetengeist der Erde geworden; die Erde ist sein Leib, er leitet die Erdenentwickelung. Diese Verbindung hat sich auf Golgatha vollzogen und das Mysterium von Golgatha ist das Symbolum dessen, was für die Erdenentwickelung damals geschehen ist." (Lit.: GA 100, S. 253)

"Wir erinnern uns daran, daß wir den großen Moment von Golgatha hingestellt haben vor unsere Seele. Wenn jemand damals die Erde von ferne betrachtet hätte mit hellseherischem Blick, so hätte er wahrgenommen in dem Augenblick, wo das Blut aus den Wunden des Erlösers floß, daß die ganze astralische Aura der Erde sich veränderte. Da ist die Erde durchdrungen worden von der Christus-Kraft. Durch dieses Ereignis kann sich die Erde dereinst wieder mit der Sonne vereinigen. Diese Kraft wird wachsen. Das ist die Kraft, die unseren Ätherleib vor dem zweiten Tode bewahrt. Christus wird immer mehr und mehr der Erdgeist, und derjenige, der ein rechter Christ ist, versteht die Worte: «Wer mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen», der betrachtet den Leib der Erde als den Leib des Christus. Die Erde als planetarischer Körper ist der Leib des Christus, freilich erst im Anfange. Es wird erst der Christus Erdgeist, er wird sich völlig mit der Erde vereinigen. Und wenn sich die Erde später mit der Sonne vereinigen wird, wird der große Erdgeist Christus Sonnengeist sein." (Lit.: GA 104, S. 252)

Der Erdgeist im Jahreslauf

"Wir wissen ja, wie nur eine materialistische Weltanschauung des Glaubens sein kann, daß allein der Mensch innerhalb der Weltenordnung mit einem Erkenntnis-, Gefühls- und Willensvermögen begabt sei; während man anerkennen muß vom Standpunkte einer spirituellen Weltanschauung, daß ebenso, wie es unterhalb der Menschenstufe Wesenheiten gibt, es auch Wesenheiten gibt oberhalb der menschlichen Stufe des Denkens, Fühlens und Wollens. In diese Wesenheiten kann sich der Mensch einleben, wenn er eben als Mikrokosmos im Makrokosmos untertaucht. Wir müssen aber dann von diesem Makrokosmos so sprechen, wie wenn er nicht nur ein Raumesmakrokosmos sei, sondern wie wenn die Zeit in ihrem Verlaufe Bedeutung habe im Leben des Makrokosmos. Wie der Mensch sich zurückziehen muß von all den Eindrücken, die auf seine Sinne ausgeübt werden können aus seiner Umgebung, wie er gleichsam um sich herum durch das Abschließen seiner Sinneswahrnehmung Finsternis erzeugen muß, um im Inneren das Licht des Geistes anzuzünden, wenn er in die Tiefen seiner Seele hinuntersteigen will, so muß derjenige Geist, den wir als den Erdgeist bezeichnen können, abgeschlossen sein von den Eindrücken des übrigen Kosmos. Es muß das geringste Maß von Wirkungen von dem äußeren Kosmos auf den Erdgeist ausgeübt werden, damit der Erdgeist selber sich innerlich konzentrieren, seine Fähigkeiten innerlich zusammenziehen kann. Denn dann werden die Geheimnisse entdeckt, die der Mensch deshalb durchzumachen hat mit diesem Erdgeist, weil die Erde als Erde aus dem Kosmos herausgesondert ist.

Solch eine Zeit, wo das größte Maß der Eindrücke vom äußeren Makrokosmos auf die Erde ausgeübt wird, ist die Sommersonnenwendezeit, die Johannizeit. Es erinnern uns daher viele Nachrichten aus alten Zeiten, die an Festesdarstellungen und Festesbegehungen anknüpfen, wie solche Feste inmitten der Sommerzeit stattfanden, wie die Seele in der Mitte des Sommers dadurch, daß sie sich des Ich entäußert und aufgeht im Leben des Makrokosmos, trunken hingegeben ist den Eindrükken vom Makrokosmos.

Aber umgekehrt erinnern uns die legendarischen oder sonstigen Darstellungen desjenigen, was in der Vorzeit erlebt werden konnte, dann, wenn das geringste Maß der Eindrücke vom Makrokosmos zur Erde kommt, daran, daß der Erdgeist, in sich konzentriert, die Geheimnisse des Erdenseelenlebens im unendlichen All erlebt, und daß der Mensch, wenn er sich hineinbegibt in dieses Erleben zu der Zeit, in welcher am wenigsten Licht und Wärme gesendet wird aus dem Makrokosmos zur Erde, dann die heiligsten Geheimnisse miterlebt. Daher wurden diese Tage um die Weihnachtszeit herum immer so heilig gehalten, weil der Mensch, als er in seinem Organismus noch die Fähigkeit hatte, mitzuerleben das Erdenerleben in der Zeit, wo es am konzentriertesten ist, mit dem Erdgeist Zusammensein konnte." (Lit.: GA 158, S. 171ff)

Der Erdgeist in Goethes Faust-Dichtung

Goethe schildert bekanntlich die Erscheinung des Erdgeists in seiner Faust-Dichtung:

"Goethe hat in seinen Faust nicht etwa nur die Enttäuschungen eines in die Irre gehenden Erkenntnisdranges hineinlegen wollen; er wollte vielmehr die im Wesen des Menschen begründeten Konflikte dieses Dranges selbst darstellen. Der Mensch ist in jedem Augenblicke seines Daseins mehr^ als sich zum Vollbringen seines Lebens enthüllen darf. Der Mensch soll sich entwickeln aus seinem Innern heraus; er soll entfalten, was in vollem Maße zu erkennen ihm erst nach der Entfaltung gegönnt sein kann. Seine Erkenntniskräfte sind so geartet, daß sie selbst zur Unzeit an das herangebracht, was sie zur rechten Zeit bewältigen sollen, durch ihren eigenen Gegenstand betäubt werden können. - Faust lebt in alle dem, was in den Worten des Erdgeists sich offenbart. Aber dieses sein eigenes Wesen betäubt ihn, als es ihm anschaulich vor die Seele tritt in dem Augenblicke, in dem seine Lebensreife, dieses Wesen nicht erkennend, zum Bilde wandeln kann.

Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!

Bei diesen Worten stürzt Faust zusammen. Im Grunde hat er sich geschaut; aber er kann sich nicht gleichen, weil er, was er ist, nicht erkennend umfassen kann. Die Selbstanschauung hat das dieser Anschauung nicht gewachsene Bewußtsein betäubt.

Faust stellt die Frage: «Nicht dir! Wem denn?» - Die Antwort wird dramatisch gegeben. Wagner tritt ein. Dieser selbst ist die Antwort auf das «Wem denn?». Seelischer Hochmut war es, der in Faust im Augenblicke das Geheimnis des eigenen Wesens erfassen wollte. Was in ihm lebt, ist zunächst nur das Streben nach diesem Geheimnis; das Ebenbild dessen, was er im Augenblicke von sich erkennend umfassen kann, ist Wagner. Man wird die Szene mit Wagner ganz mißverstehen, wenn man nur auf den Gegensatz blickt zwischen dem hochgeistigen Faust und dem beschränkten Wagner. In der Begegnung mit diesem nach der Erdgeistszene sollte Faust begreiflich werden, daß er mit seiner Erkenntniskraft im Grunde auf der Wagnerstufe steht. Dramatisch gedacht ist in der hier in Frage kommenden Szene Wagner das Ebenbild von Faust." (Lit.: GA 022, S. 47f)

"In wunderbar schönen Worten wird von Faust der Erdgeist charakterisiert. Wir sehen, wie er ahnt, daß das, was der Planet Erde ist, nicht einfach jene physische Kugel ist, als die sie von der Naturwissenschaft angesehen wird, sondern gerade so, wie der Leib eine Seele enthält, so der Erdenleib einen Geist.

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Das ist das, was in der Erde lebt als der Geist der Erde, wie in uns unser Geist lebt. Aber Goethe kennzeichnet den Faust als noch nicht reif, seinen Geist als noch unvollendeten. Abwenden muß er sich von dem furchtbaren Zeichen wie ein furchtsam weggekrümmter Wurm. Der Erdgeist antwortet ihm: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.» In Goethes Seele lebte die Erkenntnis, wenn sie zunächst auch nur eine ahnende war, daß wir auf keiner Stufe uns befriedigt erklären dürfen, sondern von jeder Stufe aus höhere und immer höhere Stufen erstreben müssen, daß wir auf keiner Stufe sagen können, wir haben etwas erreicht, sondern von jeder Stufe aus immer höher streben müssen. Goethe führten in diese Geheimnisse hinein seine emsigen Studien von Erscheinung zu Erscheinung. Und nun sehen wir ihn wachsen. Denselben Geist, den er zuerst gerufen hat, und von dem er nur sagen konnte: «Schreckliches Gesicht!», läßt Goethe durch Faust anreden, nachdem Goethe selber eine höhere Stufe erreicht hatte nach der Italienreise, nach seiner Reise, die ich so charakterisiert habe, daß er die ganze Natur und Kunst mit seiner Anschauung durchdringen wollte. Jetzt ist Faust gestimmt, wie Goethe selber gestimmt war. Jetzt steht Faust vor demselben Geiste, den er also anredet:

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert;
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber: schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf,
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.

Da ist Goethe und mit ihm Faust zu der Höhe gelangt, nicht mehr sich wegzuwenden von dem Geist, den er im Sprunge hat erreichen wollen. Jetzt tritt ihm der Geist als ein solcher entgegen, von dem er sich nicht mehr hinwegzuwenden braucht. Jetzt erkennt er ihn in allem Lebendigen, in allen Reichen der Natur: in Wald und Wasser, im stillen Busch, in der Riesenfichte, in Sturm und Donner. Und nicht nur da. Nachdem er ihm erschienen ist in der großen Natur draußen, erkennt er ihn auch in seinem eigenen Herzen: seine geheimen tiefen Wunder öffnen sich." (Lit.: GA 272, S. 27f)

"Denken Sie sich einige Meilen von der Erde erhoben: Sie können da nicht als physischer Mensch leben, Sie hören auf als Mensch zu leben. Sie sind bloß ein Glied unserer Erde, wie meine Hand ein Glied meines Körpers ist. Die Illusion, daß Sie selbständige Wesen sind, entsteht nur dadurch, daß Sie herumspazieren auf der Erde, während die Hand angewachsen ist. Das tut aber nichts. Goethe meinte etwas ganz Wirkliches, wenn er vom Erdgeist spricht. Er meint, daß die Erde eine Seele hat, deren Glieder wir sind. Er spricht von etwas Wirklichem, wenn er den Erdgeist [im «Faust»] sprechen laßt:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

So ist schon der physische Mensch ein Glied des Erdenorganismus und Teil eines Ganzen. Und nun bedenken Sie es geistig und seelisch: da ist es genau so. Wie oft habe ich betont, daß die Menschheit nicht leben könnte, wenn sie sich nicht auf Grund der anderen Reiche weiter entwickelt hätte. Ebenso kann der hoher entwickelte Mensch nicht sein ohne den niedriger entwickelten. Ein Geistiges kann nicht sein ohne diejenigen, die zurückgeblieben sind, wie ein Mensch nicht sein kann, ohne daß Tiere zurückgeblieben sind, wie ein Tier nicht ohne Pflanze, eine Pflanze nicht ohne Mineral sein kann. Am schönsten ist dies ausgedrückt im Johannes-Evangelium nach der Fußwaschung: Ich könnte nicht sein ohne euch... - Die Jünger sind eine Notwendigkeit für Jesus, sie sind sein Mutterboden. Das ist eine große Wahrheit." (Lit.: GA 264, S. 387)

"Aber Faust ist eben der Menschheitsrepräsentant, der dem 16. Jahrhundert angehört, also schon der fünften nachatlantischen Periode, derjenigen Periode, die sich der Anschauung naht: Ich lebe als der Erdeneremit auf einem Staubkorn des Universums. - Da wäre es nicht mehr ehrlich gewesen von dem jungen Goethe, Faust hinbücken zu lassen zu dem Geiste der großen Welt. Als Menschheitsrepräsentant könnte das bei Faust nicht der Fall sein, denn der Mensch hatte in seinem Bewußtsein keinen Zusammenhang mehr mit den Himmelskräften, die auf- und niedersteigen und sich die goldenen Eimer reichen, das heißt, mit den Wesenheiten der höheren Hierarchien. Das war verfinstert, das war nicht mehr da für das Menschheitsbewußtsein. So konnte sich Faust nur an dasjenige halten, womit er etwa verknüpft sein konnte als Erdeneremit: Er wandte sich an den Genius der Erde.

Daß sich Faust an den Genius der Erde wendet, das ist etwas, ich möchte sagen, radikal Grandioses, was bei Goethe auftritt: Denn das ist die Wendung, welche das menschliche Bewußtsein in diesem Zeitalter genommen hat, hinweg von den sich verfinsternden Himmelsmächten zu dem Genius der Erde, auf den der Geist selber hingewiesen hat, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Denn dieser Genius, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, hat sich mit der Erde verbunden. Er hat dadurch, daß er sich mit der Erdenmenschheitsentwickelung verbunden hat, dem Menschen nun die Kraft gegeben, in der Zeit, da er nicht mehr hinauf blicken kann zu den Gelstern der Himmel, hinzusehen zu den Geistern der Erde, und die Geister der Erde sprechen nun im Menschen. Früher waren es die Sterne in ihrem Weben, welche die Himmelsworte offenbarten der Menschenseele, die diese Himmelsworte deuten und erkennen konnte. Jetzt mußte der Mensch auf seinen Zusammenhang mit der Erde hinsehen, das heißt, sich selber fragen, ob der Genius der Erde in ihm spricht.

Aber nur erst nebulose Worte, mystisch pantheistische Worte, kann Goethe in seinem Zeitalter dem Genius der Erde abringen. Richtig ist es, grandios ist es, daß Faust sich zu dem Genius der Erde wendet, aber ich möchte sagen, ganz grandios ist es, daß Goethe noch nicht irgend etwas, was schon befriedigen kann, diesenGenius der Erde aussprechen läßt. Daß der Genius der Erde erst, ich möchte sagen, die Weltengeheimnisse in mystisch pantheistischen Formeln stottert und stammelt, statt sie in scharf umrissener Weise auszusprechen, das zeigt eben, daß Goethe seinen Faust genial hineingestellt hat in das Zeitalter, in welchem er seinen, Faust und sich sah." (Lit.: GA 221, S. 57f)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Goethes Geistesart, GA 22 (1989), ISBN 3-7274-0130-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Bewußtsein – Leben – Form , GA 89 (2001), ISBN 3-7274-0890-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Kosmogonie, GA 94 (2001), ISBN 3-7274-0940-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft, GA 96 (1989), ISBN 3-7274-0961-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  5. Rudolf Steiner: Das christliche Mysterium, GA 97 (1998), ISBN 3-7274-0970-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  6. Rudolf Steiner: Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt, GA 98 (1996), ISBN 3-7274-0980-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  7. Rudolf Steiner: Die Apokalypse des Johannes, GA 104 (1985), ISBN 3-7274-1040-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  8. Rudolf Steiner: Von Jesus zu Christus, GA 131 (1988), ISBN 3-7274-1310-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  9. Rudolf Steiner: Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, GA 136 (1996), ISBN 3-7274-1361-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  10. Rudolf Steiner: Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt, GA 158 (1993), ISBN 3-7274-1580-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  11. Rudolf Steiner: Erdenwissen und Himmelserkenntnis, GA 221 (1998), ISBN 3-7274-2210-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  12. Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust», Band I: Faust, der strebende Mensch , GA 272 (1981), ISBN 3-7274-2720-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  13. Rudolf Steiner: Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914, GA 264 (1987), ISBN 3-7274-2650-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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