Intellektueller Sündenfall

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Version vom 18. Mai 2023, 17:19 Uhr von Joachim Stiller (Diskussion | Beiträge)
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Ein intellektueller Sündenfall bringt die Menschheit seit dem 15. Jahrhundert, d.h. seit Beginn des Bewusstseinsseelenzeitalters, immer mehr in Gefahr, die Verbindung zum Geistigen ganz zu verlieren.

„Namentlich habe ich darauf hingewiesen, wie seit dem 15. Jahrhundert die Menschheit von dem intellektuellen Elemente ergriffen worden ist, das heute eigentlich alle menschliche Kultur und Zivilisation im weitesten Umfange beherrscht und das in der neueren Entwickelung namentlich dadurch heraufgekommen ist, daß allmählich eine ältere Sprachform, die noch in ihrer ersten Gestaltung mit dem zusammenhing, was ich als dieses Erlauschen des Rhythmus in der griechisch-römischen Zeit bezeichnen konnte, daß die lateinische Sprache bis tief ins Mittelalter hinein sich fortgesetzt hat und sich ganz und gar umintellektualisiert hat. So daß eigentlich durch die lateinische Sprache vielfach die Erziehung der modernen Menschheit zum modernen Intellektualismus bewirkt worden ist.

Dieser Intellektualismus, der auf Gedanken beruht, die ganz und gar von der Entwickelung des physischen Menschenleibes abhängen, bringt eigentlich die ganze Menschheit in Gefahr, von der geistigen Welt abzufallen. Und man kann schon sagen: Wenn die älteren Religionsbekenntnisse von einem Sündenfall in älterer Form sprechen, der mehr als ein moralischer Sündenfall gemeint ist, so muß man von der Gefahr, in die die neuere Menschheit versetzt ist, als von einem intellektualistischen Sündenfall sprechen. - Denn die heute allgemeinen Menschheitsgedanken, denen gegenüber die Menschheit das größte Autoritätsgefühl hat, die sogenannten gescheiten Gedanken der modernen Wissenschaft, diese durchaus intellektualistischen Gebilde sind ganz und gar begründet auf den physischen Menschenleib. Man darf eben nicht glauben, daß, wenn der moderne Mensch denkt, er etwas anderes als den physischen Menschenleib zu Hilfe nimmt. Die Gedanken waren eben in früherer Erdperiode etwas ganz anderes. In früheren Perioden der geschichtlichen Entwickelung kamen die Gedanken der Menschen zugleich mit gewissen spirituellen Schauungen. Spirituelle Schauungen drangen entweder aus dem Kosmos an den Menschen heran, oder aber sie stiegen aus dem Inneren des Menschen auf. Diese spirituellen Schauungen, sie trugen, ich möchte sagen, auf ihren Wogen Gedanken. Das waren geistig gegebene Gedanken, das waren Gedanken, die aus der geistigen Welt dem Menschen geschickt waren, Gedanken, die sich eben dem Menschen offenbarten. Solche Gedanken sind dem Intellektualismus nicht zugänglich.

Wenn man aus der bloßen Logik heraus, nach der ja die moderne Menschheit strebt, sich seine Gedanken selber macht, so ist man dadurch mit seinem Bewußtsein an den physischen Leib gebunden. Nicht, als ob die Gedanken selber aus diesem physischen Leib erstünden, das ist natürlich durchaus nicht der Fall; aber die Kräfte, die in diesen Gedanken wirken, werden dem modernen Menschen nicht bewußt. Er lernt die Gedanken gar nicht in ihrer wahren Wesenheit kennen. Alle Gedanken, die der moderne Mensch schon in der Schule empfangt durch das, was ihm als populäre Wissenschaft übermittelt wird, was in der populären Literatur enthalten ist, alle diese Gedanken sind ihrer eigentlichen Substanz nach, dem nach, was in ihnen lebt, dem modernen Menschen unbekannt. Er kennt sie nur als Spiegelbilder. Der physische Leib ist der Spiegel, und der Mensch lernt nicht erkennen, was in seinen Gedanken eigentlich lebt, sondern er lernt nur das erkennen, was ihm der physische Leib von diesen Gedanken zurückspiegelt. Denn würde der Mensch sich hineinleben in diese Gedanken, dann würde er das vorirdische Dasein wahrnehmen können. Das kann er nicht. Der moderne Mensch kann das vorirdische Dasein nicht wahrnehmen, weil er gar nicht in der Substanz seiner Gedanken, sondern nur in den Gedankenspiegelbildern lebt. Sie sind keine Realitäten, diese Gedanken.

Und das ist gerade das Gefährliche für die moderne Menschheitsentwickelung, daß eigentlich in diesen Gedanken substantiell das Geistige, das Spirituelle, das vorirdische Leben ist, daß aber der Mensch nichts davon weiß, sondern nur von den Spiegelbildern weiß. Dadurch fällt etwas, was eigentlich für die geistige Welt bestimmt ist - denn diese Gedanken sind für die geistige Welt bestimmt, sie wurzeln in der geistigen Welt - , im modernen Menschen ab von der geistigen Welt und spiegelt sich am physischen Leib. Und was da gespiegelt wird, das ist nur die äußere Sinneswelt, so daß man wirklich für die moderne Zeit von einem Sündenfall sprechen könnte, der auf intellektualistischem, intellektuellem Gebiete sich ergibt. Die große Aufgabe der Zeit - wir haben das ja oftmals charakterisiert - besteht gerade darin, daß wiederum Spiritualität, wirklicher Geist auch für das Bewußtsein des Menschen in die Gedankenwelt einzieht. Der Mensch kann sich nicht, wenn er wirklich mit der modernen Welt leben will, seines Intellektualismus entschlagen; aber er muß den Intellektualismus spiritualisieren, er muß wiederum geistige Substanz in seine Gedanken hineinbringen.“ (Lit.:GA 216, S. 56ff)

„So daß wir sagen können: Die Menschheit ist auf dem Wege, im Herausgehen aus sich selber die geistige Realität nach und nach ganz in abstrakte Begriffe und Ideen zu verwandeln. In dieser Beziehung ist die Menschheit ja schon sehr weit gekommen, und es könnte ihr eigentlich folgendes bevorstehen: Die Menschen könnten im abstrakten, im intellektuellen Vermögen immer weiter und weiter kommen und eine Art von Bekenntnis in sich selber ausbilden, durch das sie sich sagen würden: Ja, wir erleben zwar Geistiges, aber dieses Geistige ist ja eine Fata Morgana, das hat kein Gewicht, das sind bloße Ideen.—Der Mensch muß wiederum die Möglichkeit finden, diese Ideen mit geistiger Substantialität auszufüllen. Das wird er dadurch, daß er den Christus miterlebt mit dem Übergang in das intellektuelle Leben. So daß zusammenwachsen muß der moderne Intellektualismus mit dem Christus-Bewußtsein. Wir müssen als Menschen schon etwas gar nicht anerkennen wollen, wenn wir dieses Christus-Bewußtsein nicht gerade auf dem Wege des Intellektualismus finden können.

Sehen Sie, in alten Zeiten hat der Mensch gesprochen von dem Sündenfall. Er sprach von diesem Bilde des Sündenfalls in dem Sinne, als ob er seiner Wesenheit nach einer höheren Welt angehört hätte und in eine tiefere heruntergefallen wäre, was ja auch, wenn man es bildlich auffaßt, durchaus der Realität entspricht. Man kann durchaus im realen Sinne von einem Sündenfall sprechen. Geradeso wie aber der alte Mensch richtig gefühlt hat, wenn er sich sagte: Ich bin hinuntergestürzt aus einer geistigen Höhe und habe mich mit Tief erstehendem vereinigt -, so sollte der neuere Mensch finden, wie ihn die immer abstrakter werdenden Gedanken auch in eine Art von Fall bringen, aber in einen Fall, bei dem es hinaufgeht, wo der Mensch gewissermaßen nach oben fällt, also steigt, aber in demselben Sinne zu seinem Verderben steigt, wie der alte Mensch sich fallen gefühlt hat zu seinem Verderben. So wie der alte Mensch, der noch den Sündenfall im Sinne des Alten verstanden hat, in dem Christus denjenigen gesehen hat, der den Menschen in das rechte Verhältnis zu dieser Sünde gebracht hat, nämlich zu der Möglichkeit einer Erlösung -, also wie der alte Mensch, wenn er Bewußtsein entwickelt hat, in dem Christus denjenigen sah, der ihn aus dem Fall heraufgehoben hat, so sollte der neuere Mensch, der in den Intellektualismus hineingeht, in dem Christus denjenigen sehen, der ihm Gewicht gibt, daß er nicht geistig fortfliegt von der Erde beziehungsweise von der Welt, in der er drinnen sein soll.

Hat der alte Mensch vorzugsweise das Christus-Ereignis im Sinne der Willensentwickelung angesehen, was ja zusammenhängt mit dem Sündenfall, so sollte der neuere Mensch lernen, den Christus anzusehen im Zusammenhange mit dem Gedanken, der aber die Realität verlieren muß, wenn der Mensch ihm nicht Gewicht zu geben vermag, so daß im Gedankenleben selber wiederum Realität zu finden ist.“ (Lit.:GA 214, S. 82f)

Literatur

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