Bernardus Silvestris und Biogenetisches Grundgesetz: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Bernardus Silvestris''' war einer der bedeutendsten Lehrer der [[Schule von Chartres]] im [[Wikipedia:12. Jahrhundert|12. Jahrhundert]]. Weder sein Geburtsdatum, noch sein Sterbedatum ist bekannt und auch über sein Leben ist nichts überliefert. Bernardus hat zwei bedeutende Werke hinterlassen, zum einen einen ''Kommentar zur Aeneide des Vergil'' und zum andern das bedeutende, auch als die ''Cosmographia'' bezeichnete, enzyklopädische Werk ''De mundi universitate libri duo sive megacosmus et microcosmus'' (''Über die allumfassende Einheit der Welt'').
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[[File:Anthropogenie; oder, Entwickelungsgeschichte des menschen, Keimes- und stammesgeschichte (1877) (18746553454).jpg|mini|Haeckels [[Embryo]]nen-Zeichnungen aus seiner ''Anthropogenie'' (3. Aufl., 1877, S. 288f.)]]
[[File:Anthropogenie; oder, Entwickelungsgeschichte des menschen, Keimes- und stammesgeschichte (1877) (19181455810).jpg|mini|Haeckels Zeichnungen verschiedener [[Embryo]]nen, die ihm schon zu seiner Zeit den Vorwurf der Fälschung einbrachten, da er sie aus anderen Lehrbüchern abgezeichnet habe (was mangels entsprechender Embryonen damals aber durchaus üblich war).]]


== Leben ==
Das '''biogenetische Grundgesetz''' ({{EnS|biogenetic law, embryological parallelism}}), heute im deutschen Sprachraum nur mehr als '''biogenetische Grundregel''' oder als '''Rekapitulationstheorie''' ({{EnS|recapitulation theory}}) bezeichnet, wurde zuerst [[Wikipedia:1866|1866]] von [[Ernst Haeckel]] (1834 - 1919) formuliert: ''"Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis."'', d.h. jedes tierische oder menschliche Lebewesen wiederholt im Laufe seiner individuellen Entwicklung die wesentlichen Züge der Stammesentwicklung. Ein Voräufer dieser Regel ist die 1828 von [[Karl Ernst von Baer]] formulierte [[Baer-Regel]], die er selbst als das ''Gesetz der Embryonenähnlichkeit'' bezeichnete.
Über Bernardus' Leben ist wenig bekannt. André Vernet, der Herausgeber von Bernardus' Hauptwerk ''Cosmographia'', gibt an, dass er von 1085 bis 1178 gelebt habe, andere Forscher nennen 1160 als Todesjahr. Gesichert ist, dass die Cosmographia 1147 Papst [[Wikipedia:Eugen III.|Eugen III.]] vorgelegt wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass Bernardus einer spanischen philosophischen Tradition verbunden war. Wahrscheinlich stammte er aus [[Wikipedia:Tours|Tours]], denn dass er mit dieser Stadt und ihrer Umgebung vertraut war, zeigen die genauen Beschreibungen in der ''Cosmographia''. Auch spätere mittelalterliche Autoren haben ihn mit Tours in Verbindung gebracht.


Mit Sicherheit studierte und lehrte Bernardus in [[Wikipedia:Chartres|Chartres]], wo die bedeutendste Kathedralschule Westeuropas, die [[Schule von Chartres]], bis zum Aufkommen der [[Wikipedia:Universität|Universität]]en im späteren 12. Jahrhundert ihren Sitz hatte. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurde angenommen, dass Bernardus Silvestris mit [[Bernhard von Chartres]] identisch sei, doch diese Identifikation ist als falsch erwiesen worden und wird heute nicht mehr vertreten.
{{Zitat|40. Die Ontogenesis oder die Entwickelung der organischen Individuen,
als die Reihe von Formveränderungen, welche jeder individuelle
Organismus während der gesammten Zeit seiner individuellen
Existenz durchläuft, ist unmittelbar bedingt durch die Phylogenesis
oder die Entwickelung des organischen Stammes (Phylon) , zu welchem
derselbe gehört.<br>
41. Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Recapitulation der
Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Functionen der Vererbung
(Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung).<br>
42. Das organische Individuum (als morphologisches Individuum
erster bis sechster Ordnung) wiederholt während des raschen und kurzen
Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von denjenigen
Formveränderungen , welche seine Voreltern während des langsamen
und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwickelung nach
den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.<br>
43. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen
durch die biontische Entwickelung wird verwischt und abgekürzt durch
secundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen immer geraderen
Weg einschlägt; daher ist die Wiederholung um so vollständiger,
je länger die Reihe der successiv durchlaufenen Jugendzustände ist.<br>
44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen
durch die biontische Entwickelung wird gefälscht und abgeändert durch
secundäre Anpassung, indem sich das Bion während seiner individuellen
Entwickelung neuen Verhältnissen anpasst ; daher ist die Wiederholung
um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedingungen sind, unter
denen sich das Bion und seine Vorfahren entwickelt haben.|[[Ernst Haeckel]]|Generelle Morphologie der Organismen. Zweiter Band. Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen, Verlag von Georg Reimer, Berlin 1866, S. 300 |ref=[http://ia802304.us.archive.org/13/items/generellemorphol02haec/generellemorphol02haec_bw.pdf#page=300&view=Fit]}}


== Werke ==
Mittlerweile ist das biogenetische Grundgesetz in der Fachwelt starker Kritik ausgesetzt. Einer der schärfsten Kritiker Ernst Haeckels war [[Wikipedia:Erich Blechschmidt|Erich Blechschmidt]], von 1942 - 1973 Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Göttingen. Er hat die nach ihm benannte ''Humanembryologische Dokumentationssammlung'' in Göttingen aufgebaut und mit ihr die Humanembryologie morphologisch begründet. Basierend auf dieser Sammlung  mehrerer hunderttausend Schnitte menschlicher Embryos kam er zu der Ansicht, daß sich die menschliche Embryonalentwicklung von der tierischen schon vom allerersten Moment an unterscheide, so daß von einer "Rekapitulation" im Sinne Haeckels niemals die Rede sein könne. Der Mensch ist von allem Anfang an Mensch und unterscheidet sich grundlegend vom Tier. Blechschmidt ging sogar soweit, das Rekapitulationsprinzip auch innerhalb des Tierreiches zu bezweifeln:


=== Cosmographia ===
:"Heute wissen wir, daß das sogenannte Biogenetische Grundgesetz eines der ernstesten Irrtümer des vorigen Jahrhunderts in der Biologie war. Dieses Grundgesetz ist falsch. Das steht unumstößlich fest. Es ist auch nicht ein bißchen oder in irgendeiner anderen Weise richtig; es besitzt in keiner Weise auch nur die geringste Gültigkeit." {{lit|Mees}}


Bernardus bekanntestes Werk ist die ''Cosmographia'' (''De mundi universitate libri duo sive megacosmus et microcosmus''), der er auch seinen Beinamen verdankt, da er darin die [[Materie]] als ''silva'' ([[Wikipedia:Griechische Sprache|griech.]] ''[[hyle]]'') bezeichnet.  Die Cosmoraphia ist ein [[Wikipedia:Epos|episches]] Gedicht über die [[Schöpfung|Erschaffung der Welt]] aus der Sicht eines stark vom [[Platonismus]] geprägten hochmittelalterlichen Denkers. Dieses Gedicht beeinflusste [[Wikipedia:Geoffrey Chaucer|Geoffrey Chaucer]] und andere durch seinen bahnbrechenden Gebrauch der [[Allegorie]] zur Diskussion [[Wikipedia:Metaphysik|metaphysischer]] und [[Wissenschaft|wissenschaftlicher]] Fragen. Bernardus greift darin auf Ideen aus dem ''[[Timaios]]''-Kommentar des [[Wikipedia:Calcidius|Calcidius]] zurück.
[[L. F. C. Mees]] hat allerdings gezeigt, daß gerade die Wiederholung wichtiger Entwicklungsstufen im Tierreich ein neues Licht auf die Evolution werfen kann, und daß dabei Blechschmidts Ansichten und das Biogenetische Grundgesetz vereinbar sind - nur muß es dann in anderem Sinn angewendet werden, als Haeckel es tat. Er stützt sich dabei auf Aussagen Rudolf Steiners. Steiner hat zwar die Tatsachen, die diesem Gesetz zugrundeliegen, durchaus anerkannt, Haeckels Interpretation dieser Tatsachen hielt er aber für verfehlt:


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px;">
"Am Beginn sehnt sich das formlose
"Nehmen wir jetzt ... einmal die Sinnesforschung, die sinnliche Abstammungslehre, die ja erst in der neueren Zeit ihren Ausbau gefunden hat. Da zeigt sich uns vor allen Dingen, daß ein wichtiges Gesetz aufgestellt worden ist ...: das biogenetische Grundgesetz, welches die äußeren Tatsachen in der Weise feststellt, daß der Mensch in seinem Keimeszustand kurz durchmacht alle diejenigen Formen, die erinnern an gewisse Tiergestalten; in gewissen Stadien erinnert er an ein Fischchen und so weiter. Er wiederholt, so könnte man sagen, die verschiedenen Formen des Tierreiches. Nun wissen Sie ja alle, daß insbesondere in demjenigen Stadium, wo diese Abstammungslehre wild geworden war, geschlossen worden ist aus dieser Tatsachenwelt, daß der Mensch nun wirklich in der Vorwelt diese Formen durchgemacht habe, welche sich da wiederholentlich zeigen in seinem Keimeszustand. Man möchte gegenüber dieser Tatsache sagen: Es war wahrhaftig für die Menschheit ein Glück, daß diese Beobachtung durch die Sorgfalt der Götter so lange verborgen geblieben ist bis in die Zeit hinein, wo sie gleichzeitig fast - die Dinge schieben sich ja fast immer übereinander-, nachdem sie in ihren wilderen Formen aufgestellt worden war, ihre Korrektur erfahren konnte durch die Geisteswissenschaft. - Das, was der Mensch durchmacht bis zu dem Zeitpunkt, wo er auf dem physischen Plan für die Sinneswahrnehmung erscheint, das wurde eingehüllt von den Göttern und konnte nicht beobachtet werden. Denn wäre es noch früher beobachtet worden, so hätte sich der Mensch vielleicht noch verkehrtere Begriffe darüber gemacht. Die Tatsachen sind selbstverständlich richtig, denn sie werden durch die Sinne beobachtet. Soll aber nun darüber geurteilt werden, dann kommt das in Betracht, was die Kraft der Verstandesseele ist. Die kann nicht heran an das, was nicht sinnlich gesehen werden kann. Sie ist daher, wenn sie nicht die Wahrheitsanlage im Innern hat, notwendigerweise dem Irrtum unterworfen. Und hier haben wir ein eklatantes Beispiel dafür, wie die Urteilskraft, die aus der Verstandesseele kommt, in den Irrtum hineinsegeln kann.
Chaos nach harmonischer Ordnung. [[Natura]] erhebt darüber Klage
bei Noys (= [[Wikipedia:Altgriechische Sprache|griech.]] {{Polytonisch|νοῦς}}), die eine weibliche Emanation der Gottheit
ist. Im Semitischen ist ''die'' Heilige Geist weiblich. Noys ist der
Intellekt des höchsten Gottes und die Vorsehung, in welchem er wie
in einem Spiegel den Ablauf der Zeiten sieht. Es treten die Kulturheroen
und wichtigsten Beispielfiguren auf. Die Exponenten der klassischen
Antike sind dem Autor wichtiger als die Jungfrau Maria und der
Papst, welche die beiden letzten Plätze einnehmen. Aus der Weltseele
lässt Noys den Himmel und die Gestirne hervorgehen. Über dem
Himmel thront wie in der Gnosis der "außerweltliche Gott". Detailliert
wird das Inventar der Erde beschrieben. Natura lobt ihr Werk wie
der Schöpfer in der Genesis (1,10.12.). Sie hatte die Materie geformt,
den Gestirnen die Bahn gewiesen und die Erde mit dem Samen des
Lebens begabt. Nun plante sie, ihre Schöpfung durch die Erschaffung
des Menschen zu krönen. Noys rät ihr, Urania und Physis aufzusuchen,
die sie im fünften, unwandelbaren Element findet. Urania begrüsst
Natura als leibliche Schwester und steigt mit ihr zum heiligsten
Himmelsort des Tugaton (= [[Wikipedia:Altgriechische Sprache|griech.]] ''to ágaton'') auf. Dann steigen
sie durch die Planetensphären, denen je ein antiker Gott als Herrscher
vorsteht wie in der Gnosis. Die Mondregion ist die Mitte der ''aurea catena'' (goldene Kette), Nabel der oberen und der unteren Welt. Im Lustort (''locus amoenus'') Granusion wohnt Physis mit ihren Töchtern
Theorie und Praxis. Zusammen mit Noys entwerfen sie die Idee des
Menschen, der zugleich göttlich und irdisch sein soll. Das Werk
schließt mit einer poetischen Beschreibung des Menschen, der sich als
Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos erweist." {{Lit|Ribi, S 185f}}
</div>


=== Mathematicus ===
Was zeigt denn die Tatsache, daß der Mensch auf einer gewissen Stufe seines Keimeslebens einem Fischchen ähnlich sieht? Diese Tatsache zeigt, daß der Mensch dasjenige, was Fischnatur ist, nicht brauchen kann, daß er es ausstoßen mußte, bevor er sein Menschendasein antrat. Und die nächste Keimesgestalt ist wiederum eine solche, die der Mensch ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehört, so wie der Mensch alle Tierformen ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehören. Der Mensch hätte nicht Mensch werden können, wenn er jemals in einer solchen Gestalt auf der Erde erschienen wäre, wie diese Tierformen sind. Er mußte sie eben gerade von sich absondern, damit er hat Mensch werden können. Wenn Sie in richtiger Weise diese Gedanken verfolgen, so werden Sie auch zu einem richtigen Urteil kommen. Was zeigen die Tatsachen, daß der Mensch im Keimesstadium zum Beispiel wie ein Fischchen aussieht? Diese Tatsachen zeigen, daß er niemals einem Fischchen ähnlich gesehen hat im Verlaufe seiner Abstammungslinie, daß er gerade in der Linie seiner Entwickelung ausgestoßen hat die Fischform, sie nicht brauchen konnte, weil er ihr nicht ähnlich sehen durfte. Nehmen Sie nun alle die andern aufeinanderfolgenden Gestalten, welche die moderne Wissenschaft in den Gestalten des Keimeslebens Ihnen zeigt. Was zeigen diese Formen? Sie zeigen alles dasjenige, was der Mensch in der Vorzeit nicht gewesen ist, was er gerade aus sich hat ausstoßen müssen. Sie zeigen alle diejenigen Bilder, denen er niemals ähnlich gesehen hat. So kann man in Wahrheit erfahren durch die Embryologie, wie der Mensch niemals in der Vorzeit ausgesehen hat. Alle die Dinge, die der Mensch nicht durchgemacht hat, sondern die er ausgestoßen hat, kann man dadurch kennenlernen. Wenn man aber daraus den Schluß zieht, daß der Mensch von alledem abstamme, daß er das durchgemacht habe, um auf seine heutige Entwickelungsstufe zu kommen, so steht man dann auf demselben Standpunkt wie jemand, der etwa sagte: Hier steht der Sohn, hier der Vater. Wenn ich beide vergleiche, so werde ich nimmermehr glauben, daß der Sohn vom Vater abstammt. Ich werde glauben, daß der Sohn von sich selber abstammt, oder der Vater vom Sohn. - Gerade die umgekehrte Reihenfolge der Evolution wurde durch das Hineinsegeln in den Irrtum angenommen, dadurch, daß der Verstand sich wirklich recht ungeeignet erwiesen hat, um diese Tatsachen der Wirklichkeit wahrhaftig zu durchdenken. Gewiß sind diese Bilder der Vorzeit für uns außerordentlich wichtig, weil wir eben daran erkennen, wie wir niemals ausgesehen haben.


Bernardus verfasste auch das Gedicht ''Mathematicus''. Mit "Mathematicus" ist nicht ein Mathematiker gemeint, sondern ein Astrologe, der die Bahnen der Gestirne und die von ihnen abhängigen Schicksale der Menschen errechnet. Dieses in 17 Handschriften erhaltene, in elegischen [[Wikipedia:Distichon|Distichen]] verfasste Gedicht (854 Verse) behandelt die ethische Problematik eines astrologischen [[Fatalismus]] und [[Determinismus]] anhand eines Stoffs aus der Antike. Den Eltern des Helden hat vor dessen Geburt ein Astrologe vorausgesagt, dass das Kind einst seinen Vater ermorden wird. Darauf beschließen sie gemeinsam, das Kind nach der Geburt zu töten. Die Frau vermag diesen Vorsatz aber nicht auszuführen, sondern täuscht ihren Mann und schickt den neugeborenen Knaben an einen fernen Ort, wo er aufgezogen wird. Er erhält den Namen Patricida (Vatermörder). Später bewährt er sich als Feldherr und erlangt dann die Königswürde. Als die Eltern von seinem Ruhm erfahren, gesteht die Frau ihrem Mann die Rettung seines Sohnes. Gemeinsam suchen sie den König auf und enthüllen ihm die ganze Wahrheit. Darauf beschließt der König, sich selbst zu töten. Er bittet die Volksversammlung und den Senat, ihm die Erlaubnis dazu zu erteilen, und legt die Königswürde nieder. – Auffallend ist die Unbefangenheit, mit der Bernardus die von der mittelalterlichen Theologie tabuisierten Themen Determinismus und Selbsttötung behandelt und die Absicht des Helden, lieber seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen als den Vater zu töten, in positivem Licht darstellt.      
Das kann man aber an etwas anderem viel besser erkennen. Man kann es erkennen an denjenigen Reichen, die uns durch die äußere Sinnenwelt selber geboten werden, die sich uns nicht entziehen. Nämlich alle diese Formen sind uns ja auch in der Außenwelt gegeben. Die kann man beobachten mit dem, was man die gewöhnliche, richtig verwertete menschliche Anschauung nennen kann. Solange die Menschen nur diese Beobachtung gehabt haben, solange sie ihren Verstand angewendet haben nicht auf das, was der Sinnesanschauung sich verschließt, sondern auf das, was vor der Sinnesanschauung ausgebreitet liegt, so lange sind sie zu jenem falschen Urteil nicht gekommen. Freilich haben dazumal die Menschen nicht aus dem Verstande geurteilt über ihre Abstammung, sondern sie haben aus ihrem natürlichen, geraden Wahrheitssinn geurteilt. Sie haben den Affen angeschaut und haben jenes eigentümliche Gefühl empfunden, das jeder gesunde Sinn empfindet, wenn er den Affen anschaut, und das man mit nichts anderem vergleichen kann als mit einem gewissen Schamgefühl. Und dieses Schamgefühl war wahrer als das, was nachher der irrende Verstand gesagt hat. In diesem Schamgefühl lag das Gefühlsurteil darinnen, daß eigentlich der Affe ein von der Menschenströmung abgefallenes Wesen ist, ein zurückgebliebenes Wesen ist, daß er herstammt aus der Menschenlinie und hat ausgesondert werden müssen. Also es lag das Gefühl darinnen, daß der Mensch nur hat auf seine heutige Höhe kommen können dadurch, daß er dasjenige, was die heutige Affengestalt geworden ist, erst aus sich aussondern mußte. Hätte er es behalten, so hätte er nie Mensch werden können. Das liegt in dem natürlichen, gesunden Gefühl. Dann wurden die Sachen durch den Verstand erforscht, und da zeigte sich durch den Verstand der Irrtum, daß der Mensch sagte, die Menschengestalt stamme her von der Affenströmung! Das ist ein Irrtum. Je weiter Sie nachdenken, desto mehr werden Sie finden, wie tief berechtigt gerade dasjenige ist, was eben jetzt gesagt worden ist. Daß der Mensch vom Affen herstamme, ist ein Irrtum ..." {{lit|{{G|115|81ff}}}}
</div>


=== Experimentarius und weitere Werke ===
Dem biogenetischen Grundgesetz, wenn es richtig verstanden wird, liegt ein allgemeines geistiges Entwicklungsprinzip zugrunde, das insbesondere zum Verständnis der gesamten [[Menschheitsentwicklung]] bedeutsam ist:
Bernardus schrieb wahrscheinlich auch das Gedicht ''Experimentarius'' sowie eine Anzahl kleinerer Gedichte. Im späteren Verlauf des Mittelalters wurden ihm noch andere Werke zugeschrieben, darunter ein Kommentar zu [[Wikipedia:Vergil|Vergil]]s [[Wikipedia:Aeneis|Aeneis]] und ein Kommentar zu [[Wikipedia:Martianus Mineus Felix Capella|Martianus Capella]], die beide unzweifelhaft vom selben Verfasser stammen. Der Kommentar zur Aeneis ist der längste mittelalterliche Kommentar zu diesem Werk, obwohl er unvollständig ist und etwa nach zwei Dritteln des sechsten Buches abbricht. Die Autorschaft ist weiterhin umstritten.<ref>Siehe Stephen Gersh: ''(Pseudo-?) Bernard Silvestris and the Revival of Neoplatonic Virgilian Exegesis'', in: ''Sophies maietores, "Chercheurs de sagesse". Hommage à Jean Pépin'', hg. Marie-Odile Goulet-Cazé, Paris 1992, S. 573-593. Er tritt S. 576-580 in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung wieder vorsichtig für Bernardus' Autorschaft ein.</ref>


== Moderne Rezeption ==
<div style="margin-left:20px">
[[Wikipedia:C.S. Lewis|C.S. Lewis]] schreibt über Bernardus Silvestris gegen Ende seines [[Wikipedia:Science Fiction|Science-Fiction-Romans]] ''Out of the Silent Planet'' (''Jenseits des Schweigenden Sterns'', erster Band der ''Perelandra''-Trilogie).
"Alles, was zu einer bestimmten
 
Zeit in der Menschheitsentwickelung auftritt, um diese Menschheitsentwickelung
== Textausgaben und Übersetzungen ==
fortzuführen, das muß in einer gewissen Beziehung in sich enthalten eine
*Winthrop Wetherbee: ''The Cosmographia of Bernardus Silvestris'', New York 1990 [englische Übersetzung]
Art Wiederholung des Früheren. In einer jeden späteren Epoche müssen in anderer
*Bernardus Silvestris, ''Über die allumfassende Einheit der Welt. Makrokosmos und Mikrokosmos'', übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Rath, 2. Auflage, J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1989
Form die früheren Erlebnisse der Menschheit wieder hervortreten." {{Lit|{{G|144|63}}}}
*Bernardus Silvestris: ''Mathematicus'', hrsg. von Jan Prelog, übers. von Manfred Heim und Michael Kießlich, EOS Verlag, St. Ottilien 1993. ISBN 3-88096-909-4 [kritische Edition mit deutscher Übersetzung]
</div>
 
== Literatur ==
*Christine Ratkowitsch: ''Die Cosmographia des Bernardus Silvestris. Eine [[Wikipedia:Theodizee|Theodizee]]'', Köln 1995. ISBN 3-412-03595-5
*Alfred Ribi: ''Eros und Abendland'', Peter Lang Verlag, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2005. ISBN 978-3-03910-243-3
*Frank Teichmann: ''Der Mensch und sein Tempel, Bd. 4: Chartres - Schule und Kathedrale'', Urachhaus Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 978-3878386889
 
== Weblinks ==
{{PND|118994077}}


== Einzelnachweise ==
==Literatur==
<references/>
#Prof. Dr. med. Erich Blechschmidt: ''Wie beginnt das menschliche Leben: vom Ei zum Embryo'', Christiana Verlag, Stein am Rhein, 6. Aufl., 1989
#L.F.C. Mees: ''Tiere sind, was Menschen haben'', J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1987, ISBN 978-3880692237
#Rudolf Steiner: ''Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie'', GA 115 (1980), Vierter Vortrag, Berlin, 27. Oktober 1909
#Rudolf Steiner: ''Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums'', [[GA 144]] (1985)


[[Kategorie:Theologe]]
{{GA}}
[[Kategorie:Philosoph]]
[[Kategorie:Schule von Chartres]]
[[Kategorie:Autor]]
[[Kategorie:Biographie]]
[[Kategorie:Geboren im 12. Jahrhundert]]
[[Kategorie:Gestorben im 12. Jahrhundert]]
[[Kategorie:Mann]]


{{Personendaten
==Weblinks==
|NAME=Bernardus Silvestris
#[http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Haeckel Ernst Heinrich Philipp August Haeckel] - Wikipedia-Artikel
|ALTERNATIVNAMEN=
#[http://de.wikipedia.org/wiki/Biogenetische_Grundregel Biogenetische Grundregel] - Wikipedia-Artikel
|KURZBESCHREIBUNG=Philosoph und Dichter des 12. Jahrhunderts
#[http://www.aktion-leben.de/Abtreibung/Embryonal-Entwicklung/sld01.htm Naturgesetz oder Irrtum? Interview mit Prof. Dr. Erich Blechschmidt, Göttingen]
|GEBURTSDATUM=
#[http://www.anthroposophie.net/bibliothek/nawi/biologie/haeckel/bib_haeckel_biogenetisch.htm Das biogenetische Grundgesetz] - weiterführende Linksammlung.
|GEBURTSORT=
#[http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/~stueber/haeckel/weltraethsel/kapitel05.html Ernst Haeckel: ''Die Welträtsel'', Kapitel 5] - Das biogenetische Grundgesetz im Originaltext.
|STERBEDATUM=
#[http://ftp.rudolf-steiner.org/FTP/bibliothek/philosophie/Haeckel/Haeckel_Die_Weltraetsel.pdf Ernst Haeckel: ''Die Welträtsel''] - Das gesamte Buch zum Download
|STERBEORT=
#[http://derstandard.at/2000067389831-1317/Die-ewige-Kontroverse-um-Haeckels-Embryos Die "ewige" Kontroverse um Haeckels Embryos] in: [http://derstandard.at derstandard.at] (8. November 2017)
}}


{{Wikipedia}}
[[Kategorie:Evolution]] [[Kategorie:Biologie]] [[Kategorie:Embryologie]]

Version vom 29. August 2018, 16:25 Uhr

Ernst Haeckel (1834-1919)
Haeckels Embryonen-Zeichnungen aus seiner Anthropogenie (3. Aufl., 1877, S. 288f.)
Haeckels Zeichnungen verschiedener Embryonen, die ihm schon zu seiner Zeit den Vorwurf der Fälschung einbrachten, da er sie aus anderen Lehrbüchern abgezeichnet habe (was mangels entsprechender Embryonen damals aber durchaus üblich war).

Das biogenetische Grundgesetz (eng. biogenetic law, embryological parallelism), heute im deutschen Sprachraum nur mehr als biogenetische Grundregel oder als Rekapitulationstheorie (eng. recapitulation theory) bezeichnet, wurde zuerst 1866 von Ernst Haeckel (1834 - 1919) formuliert: "Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis.", d.h. jedes tierische oder menschliche Lebewesen wiederholt im Laufe seiner individuellen Entwicklung die wesentlichen Züge der Stammesentwicklung. Ein Voräufer dieser Regel ist die 1828 von Karl Ernst von Baer formulierte Baer-Regel, die er selbst als das Gesetz der Embryonenähnlichkeit bezeichnete.

„40. Die Ontogenesis oder die Entwickelung der organischen Individuen, als die Reihe von Formveränderungen, welche jeder individuelle Organismus während der gesammten Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, ist unmittelbar bedingt durch die Phylogenesis oder die Entwickelung des organischen Stammes (Phylon) , zu welchem derselbe gehört.
41. Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Recapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Functionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung).
42. Das organische Individuum (als morphologisches Individuum erster bis sechster Ordnung) wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen , welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwickelung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.
43. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird verwischt und abgekürzt durch secundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen immer geraderen Weg einschlägt; daher ist die Wiederholung um so vollständiger, je länger die Reihe der successiv durchlaufenen Jugendzustände ist.
44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird gefälscht und abgeändert durch secundäre Anpassung, indem sich das Bion während seiner individuellen Entwickelung neuen Verhältnissen anpasst ; daher ist die Wiederholung um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedingungen sind, unter denen sich das Bion und seine Vorfahren entwickelt haben.“

Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Zweiter Band. Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen, Verlag von Georg Reimer, Berlin 1866, S. 300[1]

Mittlerweile ist das biogenetische Grundgesetz in der Fachwelt starker Kritik ausgesetzt. Einer der schärfsten Kritiker Ernst Haeckels war Erich Blechschmidt, von 1942 - 1973 Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Göttingen. Er hat die nach ihm benannte Humanembryologische Dokumentationssammlung in Göttingen aufgebaut und mit ihr die Humanembryologie morphologisch begründet. Basierend auf dieser Sammlung mehrerer hunderttausend Schnitte menschlicher Embryos kam er zu der Ansicht, daß sich die menschliche Embryonalentwicklung von der tierischen schon vom allerersten Moment an unterscheide, so daß von einer "Rekapitulation" im Sinne Haeckels niemals die Rede sein könne. Der Mensch ist von allem Anfang an Mensch und unterscheidet sich grundlegend vom Tier. Blechschmidt ging sogar soweit, das Rekapitulationsprinzip auch innerhalb des Tierreiches zu bezweifeln:

"Heute wissen wir, daß das sogenannte Biogenetische Grundgesetz eines der ernstesten Irrtümer des vorigen Jahrhunderts in der Biologie war. Dieses Grundgesetz ist falsch. Das steht unumstößlich fest. Es ist auch nicht ein bißchen oder in irgendeiner anderen Weise richtig; es besitzt in keiner Weise auch nur die geringste Gültigkeit." (Lit.: Mees)

L. F. C. Mees hat allerdings gezeigt, daß gerade die Wiederholung wichtiger Entwicklungsstufen im Tierreich ein neues Licht auf die Evolution werfen kann, und daß dabei Blechschmidts Ansichten und das Biogenetische Grundgesetz vereinbar sind - nur muß es dann in anderem Sinn angewendet werden, als Haeckel es tat. Er stützt sich dabei auf Aussagen Rudolf Steiners. Steiner hat zwar die Tatsachen, die diesem Gesetz zugrundeliegen, durchaus anerkannt, Haeckels Interpretation dieser Tatsachen hielt er aber für verfehlt:

"Nehmen wir jetzt ... einmal die Sinnesforschung, die sinnliche Abstammungslehre, die ja erst in der neueren Zeit ihren Ausbau gefunden hat. Da zeigt sich uns vor allen Dingen, daß ein wichtiges Gesetz aufgestellt worden ist ...: das biogenetische Grundgesetz, welches die äußeren Tatsachen in der Weise feststellt, daß der Mensch in seinem Keimeszustand kurz durchmacht alle diejenigen Formen, die erinnern an gewisse Tiergestalten; in gewissen Stadien erinnert er an ein Fischchen und so weiter. Er wiederholt, so könnte man sagen, die verschiedenen Formen des Tierreiches. Nun wissen Sie ja alle, daß insbesondere in demjenigen Stadium, wo diese Abstammungslehre wild geworden war, geschlossen worden ist aus dieser Tatsachenwelt, daß der Mensch nun wirklich in der Vorwelt diese Formen durchgemacht habe, welche sich da wiederholentlich zeigen in seinem Keimeszustand. Man möchte gegenüber dieser Tatsache sagen: Es war wahrhaftig für die Menschheit ein Glück, daß diese Beobachtung durch die Sorgfalt der Götter so lange verborgen geblieben ist bis in die Zeit hinein, wo sie gleichzeitig fast - die Dinge schieben sich ja fast immer übereinander-, nachdem sie in ihren wilderen Formen aufgestellt worden war, ihre Korrektur erfahren konnte durch die Geisteswissenschaft. - Das, was der Mensch durchmacht bis zu dem Zeitpunkt, wo er auf dem physischen Plan für die Sinneswahrnehmung erscheint, das wurde eingehüllt von den Göttern und konnte nicht beobachtet werden. Denn wäre es noch früher beobachtet worden, so hätte sich der Mensch vielleicht noch verkehrtere Begriffe darüber gemacht. Die Tatsachen sind selbstverständlich richtig, denn sie werden durch die Sinne beobachtet. Soll aber nun darüber geurteilt werden, dann kommt das in Betracht, was die Kraft der Verstandesseele ist. Die kann nicht heran an das, was nicht sinnlich gesehen werden kann. Sie ist daher, wenn sie nicht die Wahrheitsanlage im Innern hat, notwendigerweise dem Irrtum unterworfen. Und hier haben wir ein eklatantes Beispiel dafür, wie die Urteilskraft, die aus der Verstandesseele kommt, in den Irrtum hineinsegeln kann.

Was zeigt denn die Tatsache, daß der Mensch auf einer gewissen Stufe seines Keimeslebens einem Fischchen ähnlich sieht? Diese Tatsache zeigt, daß der Mensch dasjenige, was Fischnatur ist, nicht brauchen kann, daß er es ausstoßen mußte, bevor er sein Menschendasein antrat. Und die nächste Keimesgestalt ist wiederum eine solche, die der Mensch ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehört, so wie der Mensch alle Tierformen ausstoßen mußte, weil sie nicht zu ihm gehören. Der Mensch hätte nicht Mensch werden können, wenn er jemals in einer solchen Gestalt auf der Erde erschienen wäre, wie diese Tierformen sind. Er mußte sie eben gerade von sich absondern, damit er hat Mensch werden können. Wenn Sie in richtiger Weise diese Gedanken verfolgen, so werden Sie auch zu einem richtigen Urteil kommen. Was zeigen die Tatsachen, daß der Mensch im Keimesstadium zum Beispiel wie ein Fischchen aussieht? Diese Tatsachen zeigen, daß er niemals einem Fischchen ähnlich gesehen hat im Verlaufe seiner Abstammungslinie, daß er gerade in der Linie seiner Entwickelung ausgestoßen hat die Fischform, sie nicht brauchen konnte, weil er ihr nicht ähnlich sehen durfte. Nehmen Sie nun alle die andern aufeinanderfolgenden Gestalten, welche die moderne Wissenschaft in den Gestalten des Keimeslebens Ihnen zeigt. Was zeigen diese Formen? Sie zeigen alles dasjenige, was der Mensch in der Vorzeit nicht gewesen ist, was er gerade aus sich hat ausstoßen müssen. Sie zeigen alle diejenigen Bilder, denen er niemals ähnlich gesehen hat. So kann man in Wahrheit erfahren durch die Embryologie, wie der Mensch niemals in der Vorzeit ausgesehen hat. Alle die Dinge, die der Mensch nicht durchgemacht hat, sondern die er ausgestoßen hat, kann man dadurch kennenlernen. Wenn man aber daraus den Schluß zieht, daß der Mensch von alledem abstamme, daß er das durchgemacht habe, um auf seine heutige Entwickelungsstufe zu kommen, so steht man dann auf demselben Standpunkt wie jemand, der etwa sagte: Hier steht der Sohn, hier der Vater. Wenn ich beide vergleiche, so werde ich nimmermehr glauben, daß der Sohn vom Vater abstammt. Ich werde glauben, daß der Sohn von sich selber abstammt, oder der Vater vom Sohn. - Gerade die umgekehrte Reihenfolge der Evolution wurde durch das Hineinsegeln in den Irrtum angenommen, dadurch, daß der Verstand sich wirklich recht ungeeignet erwiesen hat, um diese Tatsachen der Wirklichkeit wahrhaftig zu durchdenken. Gewiß sind diese Bilder der Vorzeit für uns außerordentlich wichtig, weil wir eben daran erkennen, wie wir niemals ausgesehen haben.

Das kann man aber an etwas anderem viel besser erkennen. Man kann es erkennen an denjenigen Reichen, die uns durch die äußere Sinnenwelt selber geboten werden, die sich uns nicht entziehen. Nämlich alle diese Formen sind uns ja auch in der Außenwelt gegeben. Die kann man beobachten mit dem, was man die gewöhnliche, richtig verwertete menschliche Anschauung nennen kann. Solange die Menschen nur diese Beobachtung gehabt haben, solange sie ihren Verstand angewendet haben nicht auf das, was der Sinnesanschauung sich verschließt, sondern auf das, was vor der Sinnesanschauung ausgebreitet liegt, so lange sind sie zu jenem falschen Urteil nicht gekommen. Freilich haben dazumal die Menschen nicht aus dem Verstande geurteilt über ihre Abstammung, sondern sie haben aus ihrem natürlichen, geraden Wahrheitssinn geurteilt. Sie haben den Affen angeschaut und haben jenes eigentümliche Gefühl empfunden, das jeder gesunde Sinn empfindet, wenn er den Affen anschaut, und das man mit nichts anderem vergleichen kann als mit einem gewissen Schamgefühl. Und dieses Schamgefühl war wahrer als das, was nachher der irrende Verstand gesagt hat. In diesem Schamgefühl lag das Gefühlsurteil darinnen, daß eigentlich der Affe ein von der Menschenströmung abgefallenes Wesen ist, ein zurückgebliebenes Wesen ist, daß er herstammt aus der Menschenlinie und hat ausgesondert werden müssen. Also es lag das Gefühl darinnen, daß der Mensch nur hat auf seine heutige Höhe kommen können dadurch, daß er dasjenige, was die heutige Affengestalt geworden ist, erst aus sich aussondern mußte. Hätte er es behalten, so hätte er nie Mensch werden können. Das liegt in dem natürlichen, gesunden Gefühl. Dann wurden die Sachen durch den Verstand erforscht, und da zeigte sich durch den Verstand der Irrtum, daß der Mensch sagte, die Menschengestalt stamme her von der Affenströmung! Das ist ein Irrtum. Je weiter Sie nachdenken, desto mehr werden Sie finden, wie tief berechtigt gerade dasjenige ist, was eben jetzt gesagt worden ist. Daß der Mensch vom Affen herstamme, ist ein Irrtum ..." (Lit.: GA 115, S. 81ff)

Dem biogenetischen Grundgesetz, wenn es richtig verstanden wird, liegt ein allgemeines geistiges Entwicklungsprinzip zugrunde, das insbesondere zum Verständnis der gesamten Menschheitsentwicklung bedeutsam ist:

"Alles, was zu einer bestimmten Zeit in der Menschheitsentwickelung auftritt, um diese Menschheitsentwickelung fortzuführen, das muß in einer gewissen Beziehung in sich enthalten eine Art Wiederholung des Früheren. In einer jeden späteren Epoche müssen in anderer Form die früheren Erlebnisse der Menschheit wieder hervortreten." (Lit.: GA 144, S. 63)

Literatur

  1. Prof. Dr. med. Erich Blechschmidt: Wie beginnt das menschliche Leben: vom Ei zum Embryo, Christiana Verlag, Stein am Rhein, 6. Aufl., 1989
  2. L.F.C. Mees: Tiere sind, was Menschen haben, J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1987, ISBN 978-3880692237
  3. Rudolf Steiner: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie, GA 115 (1980), Vierter Vortrag, Berlin, 27. Oktober 1909
  4. Rudolf Steiner: Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums, GA 144 (1985)
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

  1. Ernst Heinrich Philipp August Haeckel - Wikipedia-Artikel
  2. Biogenetische Grundregel - Wikipedia-Artikel
  3. Naturgesetz oder Irrtum? Interview mit Prof. Dr. Erich Blechschmidt, Göttingen
  4. Das biogenetische Grundgesetz - weiterführende Linksammlung.
  5. Ernst Haeckel: Die Welträtsel, Kapitel 5 - Das biogenetische Grundgesetz im Originaltext.
  6. Ernst Haeckel: Die Welträtsel - Das gesamte Buch zum Download
  7. Die "ewige" Kontroverse um Haeckels Embryos in: derstandard.at (8. November 2017)