Gnosis

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Avanzino Nucci: Petrus' Auseinandersetzung mit Simon Magus (1620)
Der bereits in der Apostelgeschichte erwähnte Simon Magus († 65 in Rom) gilt als erster historisch fassbarer Gnostiker und als erster Häretiker der Kirche.

Die Gnosis (von griech. γνῶσις, gnōsis, „[Er-]Kenntnis“), oft auch als Gnostizismus oder Gnostik bezeichnet, ist eine sehr heterogene synkretistische, weitgehend esoterisch gehaltene, weltabgewandte geistige Strömung, die ihre Blütezeit in der spätantiken Welt des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. hatte und das alte Mysterienwissen mit dem philosophischen Denken der Antike und vielfach auch mit christlichem Gedankengut zu verbinden suchte. Großen Einfluss auf die Formulierung der gnostischen Lehren hatte der zur selben Zeit weit verbreitete Neuplatonismus, aber auch Teile der aristotelischen Lehre. Es gab christliche, jüdische, heidnische und zugleich meist stark hellenistisch geprägte Gnostiker, die sich selbst als Wissende bezeichneten und sich oft auf eigene unmittelbare geistige Erfahrungen beriefen. Wie viele antike Lehrer verbreiteten sie den okkulten Kern ihrer Lehre nicht oder nur selten öffentlich. Vielfach wurde die gnostische Mystik auch als Mathesis aufgefasst, weil sie mit der selben Gedankenklarheit wie die Mathematik nach geistiger Erkenntnis strebte.

Der geistige Hintergrund der Gnosis

Gnosis und die Offenbarung des Göttlichen durch die Empfindungsseele

Gnosis beruht auf der hellsichtigen Erforschung des Übersinnlichen, das der äußeren Welt zugrunde liegt. Der Gnosis-Forscher Hans Leisegang bemerkt dazu:

„Gnosis ist Erkenntnis des Übersinnlichen, das in und hinter der durch die Sinne des Körpers wahrnehmbaren Welt „in ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar“ als treibende Kraft alles Geschehens angenommen wird... Das Übersinnliche selbst aber wird als ein System von Ideen gedacht, die zugleich kosmische Kräfte sind und als persönliche göttliche Wesen, als Dämonen, Geister, Engel oder als Gestalten der heidnischnen und christlichen Mythen vorgestellt wurden, die das Schicksal der Welt und des Menschen in ihren Händen tragen.“

Hans Leisegang: Die Gnosis, S 1

Die Gnosis schöpfte dabei, wie Rudolf Steiner aufgezeigt hat, aus den Kräften der Empfindungsseele, die ihre Blütezeit in der ägyptisch-chaldäischen Zeit hatte. Diese alte, tief esoterische Mysteriengnosis, die etwa vom 4. bis zum 1. Jahrtausend v. Chr. gepflegt wurde, blieb als gut gehütetes Geheimnis in den Mysterien beschlossen und ist äußerlich in ihrem wesentlichen Gehalt nicht überliefert. Sie beruhte auf intimen Seelenerlebnissen, die zwar erfahren, aber nicht in äußere Worte gefasst werden konnte - zumindest nicht in Worte, die heute noch verständlich wären. Zur Zeitenwende war bereits die Verstandesseele erwacht, mit der der tiefere Gehalt dieser alten Mysteriengnosis nur mehr schattenhaft erfasst werden konnte. Die Seelenerlebnisse, die ihren tieferen Inhalt bildeten, waren bereits verblasst. Ein Bild davon gibt die exoterisch überlieferte Gnosis, die sich letztlich nicht nachhaltig durchsetzen konnte, weil sie an ihre eigenen geistigen Wurzeln nicht mehr heranreichte und zugleich den neuen Anforderungen des Intellekts nicht mehr entsprach.

"Ein bedeutsamer Umschwung tritt ein, wenn sich die Empfindungsseele entfaltet. Die Offenbarung des Göttlichen durch die Sinne dämmert ab. An die Stelle tritt das Wahrnehmen der gewissermaßen entgöttlichten Sinneseindrücke, der Farben, Wärmezustände und so weiter. Im Innern offenbart sich das Göttliche in geistiger Form, in Bild-Ideen. Und der Mensch nimmt die Welt von zwei Seiten her wahr: von außen durch die Sinnes-Eindrücke, von innen durch die ideenhaften Geist-Eindrücke.

Der Mensch muß nun dazu kommen, die Geist-Eindrücke so bestimmt, so gestaltet wahrzunehmen, wie er vorher die durchgöttlichten Sinnes-Eindrücke wahrgenommen hat. - Solange das Zeitalter der Empfindungsseele waltet, kann er das. Denn aus seinem inneren Wesen steigen ihm die Ideenbilder in vollgestalteter Art auf. Er ist von innen erfüllt mit einem sinnlichkeitsfreien Geist-Inhalt, der ein Abbild des Welt-Inhaltes ist. Haben sich ihm früher die Götter im sinnlichen Kleide geoffenbart; sie offenbaren sich ihm jetzt im Geist-Kleide.

Das ist das Zeitalter der eigentlichen Entstehung und des Lebens der Gnosis." (Lit.: GA 026, S. 208)

Einen letzter Nachklang dieser Bild-Ideen lebte noch im Platonismus und im Neuplatonismus fort. Diese lebendig bildhaften Ideen konnten die Gnostiker zur Zeitenwende gut aufgreifen. Auch was Aristoteles über die Seele und über das Himmelsgebäude gesagt hatte, konnten sie aufgreifen, um ihre Lehren auszubauen, viel weniger jedoch den trockenen logischen Verstand.

"Die Gnosis besteht eigentlich darin, daß sich die Menschen, die Gnostiker werden, bewußt sind: Man kann zu demjenigen, in dem die Seele urständet, zu dem Geistigen nur kommen durch Erkenntnis, durch klare, helle, lichtvolle Erkenntnis. - Aber es war schon die Zeit, in welcher sich doch im Dunkeln vorbereitete der Intellektualismus, die Zeit, in der man den Intellektualismus als den Feind des menschlichen Seelenbezuges zum Geistigen betrachtete. Man sah gewissermaßen prophetisch in die Zukunft, wie der Intellektualismus heranrückt, man sah gewissermaßen schon dieses Kommen des Intellektualismus, der die Welt vollständig entgeistigen, vollständig entgöttlichen wollte, wie ich das gestern charakterisiert habe. Man sah das, und man fühlte sich dem Intellektualismus als einer Gefahr gegenüber. Man wollte mit allen Fasern festhalten an einem Geistigen, das nicht erfaßt wird von dem Intellektualismus." (Lit.: GA 343a, S. 269)

Wissen und Glauben

Gnosis - als religiöse Erkenntnis - wird schon im Neuen Testament angesprochen. Zum Volk spricht der Christus in Gleichnissen, doch seinen Jüngern offenbart er deren tieferen Sinn. So heißt es z.B. im Matthäus-Evangelium:

„10 Und die Jünger traten zu ihm und sprachen: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? 11 Er antwortete und sprach zu ihnen: Euch ist's gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen[1], diesen aber ist's nicht gegeben. 12 Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. 13 Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht. 14 Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt (Jes 6,9-10 EU): »Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht erkennen. 15 Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt: Ihre Ohren hören schwer und ihre Augen sind geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich ihnen helfe.« 16 Aber selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören. 17 Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt, zu sehen, was ihr seht, und haben's nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben's nicht gehört.“

Matthäusevangelium: Mt 13,10-17 EU

Das Johannes-Evangelium, die Apokalypse des Johannes und besonders auch die Briefe des Paulus haben deutlich gnostische Züge. Und Clemens von Alexandria († vor 215/16) betonte ausdrücklich:

„Mehr aber als das Glauben ist das Erkennen, ebenso wie natürlich auch mehr als das Gerettetwerden ist, wenn man nach dem Gerettetwerden der höchsten Ehre gewürdigt wird.“

Clemens von Alexandrien: Teppiche (Stromateis) VI 14,109 [1]

Weiter sagte er über die Gnosis:

„1. Sodann versetzt sie den Menschen auch leicht in den göttlichen und heiligen Zustand, der der Seele verwandt[2] ist, und mit einem nur ihr eigenen Licht führt sie ihn durch die mystischen Entwicklungsstufen, bis sie ihn zu dem alles überragenden Ort der Ruhe gebracht und den, der "reinen Herzens"[3] ist, Gott "von Angesicht zu Angesicht"[4] mit klarem Wissen und mit vollem Verständnis zu schauen gelehrt hat.

2. Denn darin besteht wohl die Vollendung der gnostischen Seele, daß sie über alle Formen der Reinigung und des Gottesdienstes hinauskommt und sich mit dem Herrn vereinigt[5], wo sie in unmittelbarer Nähe unter ihm steht.

3. Der Glaube ist also sozusagen eine kurz zusammengefaßte Erkenntnis der wichtigsten Dinge, die Erkenntnis ein fester und sicherer Beweis der durch den Glauben angenommenen Lehren[6], da sie durch den Unterricht des Herrn auf dem Glauben aufgebaut wird[7] und uns zu unerschütterlicher Überzeugung und zu wissenschaftlicher Gewißheit führt.

4. Und, wie ich früher sagte[8], scheint mir eine erste heilbringende Veränderung die aus dem Heidentum zum Glauben, eine zweite aber die aus dem Glauben zur Erkenntnis zu sein; die letztere aber geht in Liebe über[9] und bringt dann das Erkennende und das Erkannte in ein nahes freundschaftliches Verhältnis[10].

5. Und vielleicht hat derjenige, der so weit gekommen ist, bereits hier unten den Zustand des "Engelgleichseins"[11] vorausgenommen und zu eigen. Jedenfalls wird er, wenn er die letzte und höchste im Fleisch erreichbare Stufe erstiegen hat, sich immer noch, wie es sich geziemt, nach dem Besseren hin verändern und darnach streben, durch die heilige Siebenzahl hindurch[12] in das Haus des Vaters[13] zu der wirklichen Wohnung des Herrn zu gelangen, wo er sozusagen ein feststehendes und ewig bleibendes, in jeder Hinsicht vollkommen unveränderliches Licht sein wird[14].“

Clemens von Alexandrien: Teppiche (Stromateis) VII 10,57 [2]

Im 1. Brief des Paulus an Timotheus[15] wird vor den Irrlehren der Gnosis («Erkenntnis») gewarnt:

„20 Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten «Erkenntnis»! 21 Nicht wenige, die sich darauf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen. Die Gnade sei mit euch!“

1. Timotheus: 1 Tim 6,20-21 EU

Die frühen Kirchenväter rechneten vor allem mit den Menschen des Verstandesseelenzeitalters, denen der unmittelbare Einblick in die geistige Welt verwehrt ist. Das Streben nach höherer Erkenntnis gilt ihnen als eitel, ganz im Sinne der Worte, die der Christus dem zweifelnden Thomas entgegen hält: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29 EU) Das Wissen wird ersetzt durch den Glauben an die überlieferte und durch die Kirche bewahrte Offenbarung. So schreibt etwa Irenäus:

„Besser ist es also und nützlicher, in schlichter Einfalt wenig zu wissen und durch die Liebe Gott nahe zu kommen, als sich für gelehrt zu halten und bei vieler Erfahrung als ein Gotteslästerer erfunden zu werden, der sich einen andern Gott Vater gemacht hat. Darum ruft der hl. Paulus: „Wissenschaft bläst auf, Liebe erbaut“[16], nicht als ob er die wahre Gottesgelehrtheit tadelte, sonst würde er sich ja selbst anklagen, sondern weil er weiß, daß manche, mit falscher Wissenschaft sich spreizend, von der Liebe Gottes abgefallen sind, darob sich für vollkommen hielten und einen unvollkommenen Weltenmeister aufbrachten.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 26,1 [3]

Die Erkenntnis hat sich auf die sinnliche Welt zu beschränken:

„Wer aber gesunden Verstandes und geraden, frommen und wahrheitsliebenden Herzens ist, der wird eifrig erforschen, was Gott in die Gewalt der Menschen gegeben und unserer Kenntnis unterworfen hat, und wird darin fortschreiten und durch tägliche Übung leicht zu einer Wissenschaft von diesen Dingen gelangen. Hierzu gehören die, welche uns vor Augen liegen und was offen und mit unzweideutigen Ausdrücken in den Schriften niedergelegt ist.“

Irenäus von Lyon: Contra Haereses II 27,1 [4]

In der Enzyklika «Fides et Ratio» von Johannes Paul II. heißt es:

„37. Wenn man auf diese Annäherungsbewegung der Christen an die Philosophie hinweist, muß man freilich auch die vorsichtige Haltung erwähnen, die andere Elemente der heidnischen Kulturwelt, wie zum Beispiel die Gnosis, bei ihnen hervorriefen. Als praktische Weisheit und Lebensschule konnte die Philosophie leicht mit einer Erkenntnis höherer, esoterischer Art, die nur wenigen Vollkommenen vorbehalten war, verwechselt werden. Zweifellos denkt der hl. Paulus an diese Weise esoterischer Spekulationen, wenn er die Kolosser warnt: »Gebt acht, daß euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen« Kol 2,8 EU. Die Worte des Apostels erscheinen äußerst aktuell, wenn wir sie auf die verschiedenen Formen der Esoterik beziehen, die heutzutage auch bei manchen Gläubigen, denen es am erforderlichen kritischen Sinn mangelt, um sich greifen. Dem Beispiel des hl. Paulus folgend erhoben andere Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, im besonderen der hl. Irenäus und Tertullian, ihrerseits Vorbehalte gegen eine kulturelle Konzeption, die forderte, die Wahrheit der Offenbarung der Interpretation der Philosophen unterzuordnen.“

Johannes Paul II.: Fides et Ratio § 37 [5]

Mysterien-Gnosis und exoterische Gnosis

Mit den letzten verbliebenen Resten der Mysteriengnosis konnte noch der kosmische Christus erfasst werden, der sich mit der Jordan-Taufe in Jesus von Nazareth inkarniert hatte und dessen Herabkunft auch schon in den alten Mysterien erwartet worden war.

"Aber hinter alle dem stand die Mysterienwelt. In ihr wurde treu aufbewahrt, was von Gnosis aus dem Zeitalter der Empfindungsseele vorhanden war. Die Seelen wurden für dieses treuliche Aufbewahren geschult. Auf dem Wege der gewöhnlichen Entwickelung erstand die Verstandes- oder Gemütsseele. Durch besondere Schulung wurde die Empfindungsseele belebt. So gab es hinter dem gewöhnlichen Kulturleben gerade im Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele ein reich entwickeltes Mysterienwesen.

In diesem lebten die Welt-Götter-Bilder auch insofern, als sie zum Inhalte eines Kultus gemacht wurden. Man schaut in das Innere dieser Mysterien und erblickt die Welt im Abbilde der wunderbarsten Kultusverrichtungen.

Die Menschen, die das erlebten, sie waren diejenigen, die auch das Mysterium von Golgatha, als es sich vollzog, in seinem tiefen kosmischen Zusammenhange durchschauten." (Lit.: GA 026, S. 209)

Die exoterische Gnosis hat ihren Ursprung vermutlich in den Randgebieten des Judentums, vermischt mit damals noch allgegenwärtigen späthellenistischen Elementen. Das Alte Testament bildet, in gnostischer Umdeutung, die wesentliche Grundlage der meisten gnostischen Systeme. Die Hebräische Sprache hat noch einen starken, aber unterschwelligen imaginativen Charakter, der den Gnostikern entgegenkam. Das gilt ganz besonders für die Tora, d.h. für die fünf Bücher Mose.

"Wenn diese Sprache, in der die ersten Partien der Bibel uns zunächst vorliegen, heute auch nicht mehr so wirkt, einstmals hat sie so gewirkt, daß, wenn ein Buchstabe durch die Seele lautete, ein Bild in ihr wachgerufen wurde. Vor der Seele dessen, der mit lebendigem Anteil die Worte auf sich wirken ließ, tauchten in einer gewissen Harmonie, ja in einer organischen Form Bilder auf, die sich vergleichen lassen mit dem, was der Seher heute noch sehen kann, wenn er von dem Sinnlichen zum Übersinnlichen vorschreitet. Man möchte sagen, die hebräische Sprache, oder besser gesagt die Sprache der ersten Partien der Bibel, war eine Art von Mittel, aus der Seele herauszurufen bildhafte Vorstellungen, welche nahe heranrückten an die Gesichte, die der Seher erhält, wenn er fähig wird, leibfrei zu schauen in die übersinnlichen Partien des Daseins." (Lit.: GA 122, S. 32)

Der jüdische Schöpfergott, der die äußere Schöpfung, die nach Ansicht der Gnostiker das Reich des Bösen war, wurde allerdings entschieden abgelehnt.

"Schon die Kirchenväter haben immer wieder festgehalten, daß die ersten Gnostiker aus dem Orient, näherhin aus dem samaritanisch-palästinischen Raum stammten und ihre Lehren der biblisch-jüdischen Überlieferung verpflichtet waren. Ein Großteil der älteren und neuen Originalschriften hat diese Angaben bestätigen können. Vor allem durch die koptischen Nag-Hammadi-Texte ist die These, daß die Mehrzahl der gnostischen Bildungen am Rande des Judentums entstanden sind, weitgehend erhärtet worden. Viele der Schriften lassen sich, wie wir gesehen haben, als Auslegungen oder Umschreibungen alttestamentlicher Texte verstehen, und auch sonst ist die Verwendung biblischen Materials auffällig, trotz der dabei oft zutage tretenden Polemik gegen die herkömmliche Sinngebung. Gerade daß man sich auch in der Abgrenzung gegen die offizielle Deutung der alttestamentlichen Überlieferung auf ebendiese Überlieferung beruft, zeigt, daß auch die Gnosis auf die Autorisierung durch die «Heilige Schrift» angewiesen ist." (Lit.: Rudolph, S 296)

Durch die Berührung mit dem Christentum entstand die christliche Gnosis, für die auch die frühchristlichen Schriften bedeutsam waren, die allmählich als Neues Testament kanonisiert wurden, aber auch viele Schriften, die heute zu den Apokryphen zählen. Im Gärungsprozess des frühen Christentums waren die Grenzen zwischen anerkannten und als häretisch empfundenen Lehrmeinungen noch sehr fließend. Schon die Lehren des Paulus, aber auch das Johannes-Evangelium und die Apokalypse des Johannes sind deutlich von gnostischen Elementen durchsetzt.

In der verborgenen Mysteriengnosis konnte man sich immer weniger zu Seelenerlebnissen erheben, in denen sich die tieferen geistigen Inhalte offenbaren sollten. Dieser Welt-Bild-Inhalt wurde darum von höheren Geistwesen als Gefühlsgehalt bewahrt, etwa in der Gralslegende, damit er im gegenwärtigen Zeitalter der Bewusstseinsseele für die Menschheit fruchtbar werden kann.

"In der esoterischen Mysteriengnosis wurden die Menschen immer unfähiger, sich zur Entfaltung der Empfindungsseele zu erheben. Es ging diese esoterische Weisheit immer mehr an die bloße Pflege der «Götter» über. Und das ist ein Geheimnis der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit, daß in ihr gewissermaßen «göttliche Mysterien» von den ersten christlichen Jahrhunderten an bis ins Mittelalter wirkten.

In diesen «göttlichen Mysterien» bewahrten Engelwesen im irdischen Dasein, was Menschen nicht mehr bewahren konnten. So waltete die Mysterien-Gnosis, während man an der Ausrottung der exoterischen Gnosis arbeitete. Der Welt-Bild-Inhalt, der in der Mysterien-Gnosis auf geistige Art von geistigen Wesen bewahrt wurde, solange er im Werdegang der Menschheit wirken sollte: er konnte dem bewußten Begreifen der Menschenseele nicht erhalten werden. Aber der Gefühlsgehalt sollte bewahrt werden.

Und dieser sollte im rechten kosmischen Augenblicke der dazu vorbereiteten Menschheit gegeben werden, damit unter seiner Seelenwärme die Bewußtseins seele später auf neue Art in das Geistesreich eindringen könne. Geisteswesen haben so die Brücke gebaut zwischen dem alten Welt-Inhalt und dem neuen." (Lit.: GA 026, S. 210f)

Gnosis als luziferische Weisheit

Da die Gnosis auf die Kräfte der Empfindungsseele zurückgreifen, deren Blütezeit zur Zeitenwende längst vorrüber war, hat ihre Weisheit einen deutlich luziferischen Charakter, aus dem sich auch die weltflüchtige Lebenshaltung der Gnostiker erklärt. Luzifer erstrebt ja eine frühzeitig Vergeistigung des Menschen, wodurch aber viele essentielle Früchte des Erdenlebens nicht geerntet werden könnten.

"Allerdings ist es wahr, daß mit Sokrates auf der einen Seite ein großes Zeitalter der Menschheit angebrochen ist, das seine Kulmination gefunden hat im Übergang des 14. und 15. Jahrhunderts, daß aber dieses Zeitalter des Sokrates heute abgelaufen ist, richtig abgelaufen ist: denn das sokratische Zeitalter ist dasjenige, welches aus der früheren impulsiven Weisheit herausgenommen hat die bloße Logik, die bloße Dialektik. Dieses Herausnehmen der bloßen Logik, der bloßen Dialektik aus der alten hellseherischen Weisheit, das ist das Charakteristikum unserer abendländischen Kultur. Das hat auch dem Christentum sein Gepräge aufgedrückt; denn auch die Theologie des Abendlandes ist eine dialektische. Aber was als Dialektik, als bis zur Abstraktion filtrierte Geistigkeit in Griechenland aufgeht, geht eben zurück bis zu den Mysterien des Orients, und bei diesen Mysterien waren auch diejenigen, die eine Kultur begründet haben, welche dann zur chinesischen Kultur geworden ist, innerhalb derer sich inkarniert hat die Gestalt des Luzifer. Das darf man sich nicht verhehlen, daß Luzifer selber einmal in einem Leibe war, wie der Christus während der Zeit des Mysteriums von Golgatha in einem Leibe auf der Erde herumgewandelt ist. Aber man verkennt in philiströser Weise diese luziferische Inkarnation, wenn man wie eine Art Rührmichnichtan alles betrachten will, was von Luzifer ausgegangen ist. Von Luzifer ist ausgegangen zum Beispiel auch die Höhe der griechischen Kultur selber, die eigentliche alte Kunst, der Kunstimpuls der Menschheit, so wie wir selber ihn noch immer eigentlich betrachten. Nur ist das alles in Europa bis zur Phrase, bis zur Inhaltslosigkeit erstarrt. Und luziferische Weisheit war es, durch die zuerst das Christentum in Europa begriffen worden ist. Das ist das Bedeutsame, daß in der griechischen Weisheit, die sich herausgebildet hat als Gnosis, um das Mysterium von Golgatha zu begreifen, die alte luziferische Weisheit mitgewirkt hat, der alten Gnosis die Gestaltung gegeben hat. Es ist für die damalige Zeit der größte Sieg des Christentums gewesen, daß die Tatsache des Mysteriums von Golgatha sich gekleidet hat in das, was Luzifer der Erdenentwickelung gegeben hat. Aber während die Luzifer-Kultur, die also durch die reale Inkarnation des Luzifer der Menschheit übergeben worden ist, abflutet, flutet auf nach und nach, was die künftige Inkarnation des Ahriman auf der westlichen Erde vorbereitet." (Lit.: GA 195, S. 52f)

Gnosis und Anthroposophie

Die Anthroposophie wird von Außenstehenden oft als neognostische Strömung angesehen. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Zwar wird in beiden Fällen geistige Erkenntnis erstrebt, doch mit ganz unterschiedlichen Mitteln. Während die Gnostiker noch im heraufkommenden Verstandesseelenzeitalter nach der Zeitenwende aus den Kräften der Empfindungsseele zu schöpfen versuchten (siehe oben), was schon damals nicht mehr zeitgemäß war, arbeitet die Anthroposophie voll und ganz mit den Kräften der Bewusstseinsseele, die gegenwärtig entwickelt werden soll, doch versucht sie das Bewusstsein nicht nur auf die sinnliche Außenwelt, sondern auch auf die geistige Innenwelt zu richten, in der sich der Geistgehalt der Welt offenbaren kann.

"Die Anthroposophie kann nicht eine Erneuerung der Gnosis sein, denn diese hing an der Entfaltung der Empfindungsseele. Anthroposophie muß im Lichte der Michael-Tätigkeit aus der Bewußtseinsseele heraus ein Welt- und Christus-Verständnis auf neue Art entwickeln. Die Gnosis war die aus alter Zeit bewahrte Erkenntnisart, die das Mysterium von Golgatha bei seinem Eintritte am besten zum Menschenverständnisse bringen konnte." (Lit.: GA 026, S. 212)

"Anthroposophie will durchaus keine Erneuerung dessen, was man als Gnosis bezeichnet, sein. Die Gnosis ist die letzte Phase der alten atavistischen Wissenschaft, während die Anthroposophie die erste Phase einer vollbewußten Wissenschaft darstellt. Es ist eine Verleumdung, wenn man beide zusammenwirft. Da ich das vorausgeschickt habe, darf ich doch sagen, daß jene Gnosis es zuerst war, welche versucht hat, das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Und es war eine tiefe geistige Wissenschaft - wenn auch instinktiver, atavistischer Art —, welche dazumal versuchte, das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Diese Gnosis, die dazumal ausgebreitet war, ist ja dann vollständig ausgerottet worden. Sie ist so vollständig ausgerottet worden, daß nur weniges in positiver Weise übrig geblieben ist, nur wenige Schriften, die noch dazu wenig besagen. Die allmählich ganz römisch gewordene Form des Christentums, die das Christentum durchsetzt hat mit den römischen Staatsbegriffen, hat dafür gesorgt, daß alles, was von der ersten Auffassung des durchgeistigten Christentums in der Gnosis vorhanden war, mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden ist. Und wenn heute die Theologen von der Gnosis sprechen, kennen sie sie nur von den Gegnern." (Lit.: GA 342, S. 191f)

Quellen

Die Pistis Sophia (griech. Πίστις Σοφία; von πίστις: Glaube und σοφία: Weisheit) ist einer der wichtigsten koptisch-gnostischen Texte. Er gibt Lehrgespräche wieder, die der Christus nach seiner Auferstehung mit den Jüngern gehalten haben soll. Die Schrift ist besonders bedeutsam, weil sie, neben den «Zwei Büchern des Jeû» und den erst viel später aufgefundenen Nag-Hammadi-Schriften, eines der wenigen direkten Zeugnisse der antiken Gnosis ist, das nicht aus den teilweise sehr polemischen und entstellenden patristischen apologetischen Schriften gegen die als Häretiker verdammten Gnostiker stammt. Die Schriften der Kirchenväter bildeten lange Zeit die Hauptquelle für die Lehren der verschiedenen gnostischen Schulen.

Die Situation änderte sich durch die Nag-Hammadi-Schriften, die im Dezember 1945 in der Nähe des kleinen ägyptischen Ortes Nag Hammadi von ansässigen Bauern gefunden wurde. Sie sind eine reiche Sammlung von 47 unterschiedlichen frühchristlichen Texten hauptsächlich gnostischer Orientierung. Die meisten dieser Schriften waren bis dahin gar nicht oder nur in Fragmenten bekannt. Dazu gehört insbesondere das Thomasevangelium.

Hauptmerkmale

Hildegard von Bingen (1098 - 1179) beschreibt in ihrem Liber divinorum operum eine Schau von Mensch und Welt, die deutlich gnostische Züge trägt. Charakteristisch ist die Abriegelung der oberen von der unteren, irdisch-materiellen Welt durch einen dunklen Feuerkreis, der das Reich des gefallenen Luzifer ist. Außen umgeben wird er von einem doppelt so starken rötlichen Lichtkreis. Christus trägt das ganze Weltenrad in seinen Händen, über ihm ist das Antlitz des Vaters sichtbar. In der Mitte steht der Mensch, der den ganzen Makrokosmos umspannt.[17]

Auf dem Kongreß über die «Ursprünge des Gnostizismus» 1966 in Messina wurden folgende, allen gnostischen Systemen des 2. Jahrhunderts gemeinsame «zusammenhängende Charakteristika» genannt:

„... die Vorstellung von der Gegenwart eines göttlichen ‹Funkens› im Menschen ..., welcher aus der göttlichen Welt hervorgegangen und in diese Welt des Schicksals, der Geburt und des Todes gefallen ist und der durch das göttliche Gegenstück seiner selbst wiedererweckt werden muß, um endgültig wiederhergestellt zu sein. Diese Vorstellung ... gründet sich ontologisch auf die Anschauung von einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen, dessen äußerster Rand (oftmals sophia oder ennoia genannt) schicksalhaft einer Krise anheimfallen und — wenn auch nur indirekt — diese Welt hervorbringen mußte, an welcher es dann insofern nicht desinteressiert sein kann, als es den göttlichen ‹Funken› (oft als pneuma, ‹Geist›, bezeichnet) wieder herausholen muß.“

Ursprünge des Gnostizismus: Messina 1966[18]

Gemeinsam ist den Gnostikern eine weitgehend weltabgewandte luziferische Geisteshaltung, die das Heil des Menschen darin sieht, sich von der Befleckung durch sinnlich-materielle Welt zu reinigen. Im Zentrum steht der „unbekannte Gott“, der sich aller Vorstellungskraft entzieht, umgeben von einer Fülle (Pleroma) von geistigen Wesen, die er aus seinem unergründlichen Urgrund emaniert. Als unterster Äon erscheint die Sophia, durch deren Fall das Chaos als materielle Grundlage der äußeren Welt gebildet wird. Die äußere sinnlich-materielle Welt, der Kosmos, ist nicht die Schöpfung des unbekannten Gottes, sondern die einer untergeordneten Wesenheit, des Demiurgen, der negativ und sogar als gefallener Engel, als böser Widersacher empfunden wird (vgl. → Jaldabaoth) und seine Kräfte der Sophia geraubt hat. Der Mensch, weil er den «göttlichen Funken» des höchsten Göttlichen in sich trägt, steht höher als der Demiurg, der nur ein untergeordneter Schöpfergott ist, und der Mensch steht auch höher als die Engelwesen, die diesem dienen. Die Paradiesesschlange, die dem Menschen seine Göttlichkeit bewusst macht, indem sie ihn vom Baum der Erkenntnis essen lässt, wird in den verschiedenen gnostischen Lehren unterschiedlich, oft aber weitgehend positiv bewertet.

Der ethisch-religiöse Dualismus, wie ihn auch die Manichäer vertreten, der das Weltgeschehen als den Kampf von Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, ansieht, ist auch für die Gnosis von zentraler Bedeutung. Die Materie ist Ausdruck des Bösen; sie ist das Reich der Finsternis, das dem göttlichen Licht entgegensteht. Die Wurzel des Bösen liegt in der durch die Finsternis bewirkten Unwissenheit, dem mangelnden Wissen von dem «unbekannten Gott». Erlösung kann nur durch Erkenntnis („Gnosis“) geschehen, die durch den Erlöser erweckt wird, der aus höchsten Höhen in die Finsternis herab- und anschließend wieder - beispielgebend für die wissend gewordenen Menschen - in die reine Geistwelt aufsteigt. Die ganze äußere Schöpfung - bis in die höchsten Sphären des sichtbaren Himmels - ist schlecht, weil sie der Finsternis verfallen ist. Mithin wird auch das körperliche Dasein als solches negativ beurteilt. Die christlichen Gnostiker wussten daher viel über das geistige Wesen des Christus zu sagen, konnten jedoch für die eigentliche Menschwerdung Gottes und für die Auferstehung, die aber der entscheidende Mittelpunkt des Christuswirkens ist, kein rechtes Verständnis entwickeln.

„Man geht nicht fehl, wenn man darunter eine aus mehreren Schulen und Richtungen bestehende dualistische Religion sieht, die zu Welt und damaliger Gesellschaft in einer betont ablehnenden Haltung stand und eine Befreiung («Erlösung») des Menschen eben aus den Zwängen des irdischen Seins durch die «Einsicht» in seine — zeitweise verschüttete — wesenhafte Bindung, sei es als «Seele» oder «Geist», an ein überirdisches Reich der Freiheit und der Ruhe verkündet hat.“

Kurt Rudolph: Die Gnosis, S 7

Mit der Verwerfung der ganzen äußeren Schöpfung und überhaupt aller äußeren Verhältnise übten die Gnostiker eine radikale Gesellschaftskritik, die in der gesamten antiken Welt beispiellos ist. Im Grunde wurden alle irdischen und überirdischen Herrschaftsstrukturen, die sich auf den Schöpfergott berufen, vollkommen verneint. Allerdings resultierte daraus kein «Reformmodell», denn es ging nicht darum, die äußere Welt zu verändern, sondern sie - letztlich - endgültig zu vernichten[19].

Christoph Markschies schlägt folgende Typologie zur Charakterisierung der «Gnosis» vor:

  1. Die Erfahrung eines vollkommen jenseitigen, fernen obersten Gottes;
  2. die unter anderem dadurch bedingte Einführung weiterer göttlicher Figuren oder Aufspaltung der vorhandenen Figuren in solche, die dem Menschen näher sind als der ferne oberste Gott;
  3. die Einschätzung von Welt und Materie als böser Schöpfung und eine dadurch bedingte Erfahrung der Fremdheit des Gnostikers in der Welt;
  4. die Einführung eines eigenen Schöpfergottes oder Assistenten; er wird mit der platonischen Tradition „Handwerker" - griechisch: „Demiurgós" - genannt und zum Teil nur als unwissend, zum Teil aber auch als böse geschildert;
  5. die Erklärung dieses Zustandes durch ein mythologisches Drama, in dem ein göttliches Element, das aus seiner Sphäre in eine böse Welt fällt, als göttlicher Funke in Menschen einer Klasse schlummert und daraus befreit werden kann;
  6. eine Erkenntnis („Gnosis") über diesen Zustand, die aber nur durch eine jenseitige Erlösergestalt zu gewinnen ist, die aus einer oberen Sphäre hinab- und wieder hinaufsteigt;
  7. die Erlösung durch die Erkenntnis des Menschen, „daß Gott (bzw. der Funke) in ihm ist" (TestVer NHC IX,3 p. 56,15-20), sowie schließlich
  8. eine unterschiedlich ausgeprägte Tendenz zum Dualismus, die sich im Gottesbegriff, in der Entgegensetzung von Geist und Materie und in der Anthropologie äußern kann.

(Lit.: Markschies, S 25f)

Frauengestalten in der Gnosis

Frauengestalten kommt in den Lehren der Gnosis eine bedeutsame, teils positive, teils negative Rolle zu, etwa in Form der Ennoia oder der Barbelo und besonders auch in der zwiespältigen Stellung der Sophia oder Achamoth, durch deren Fall die materielle Welt der Finsternis entsteht. Für Simon Magus war Helena besonders bedeutsam und für Ptolemaios eine gewisse Flora. Eine Vermittlerin wichtiger Offenbarungen ist Maria Magdalena, die als Erste dem Auferstandenen begegnet war.

Im Gemeindeleben der Gnostiker sollen alle wichtigen Positionen auch von Frauen eingenommen worden sein, wogegen die Kirchenväter häufig abfällig polemisiert haben. So schreibt etwa Tertullian († um 220):

„Und selbst die häretischen Weiber, wie frech und anmaßend sind sie! Sie unterstehen sich, zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, Heilungen zu versprechen, vielleicht auch noch zu taufen.“

Tertullian: De praescriptione haereticorum 41 [6]

Frauen waren Lehrerinnen oder sogar Schulhäupter, wie z.B. Marcellina, waren als Prophetinnen und Missionarinnen tätig und führten kultische und magische Handlungen aus. Wie weit es eine tatsächliche Gleichstellung der Frau in einzelnen gnostischen Sekten gab, ist allerdings umstritten[20].

Kosmologie

Das kosmologische Weltbild der Ophiten, rekonstruiert von Hans Leisegang (Lit.: Leisegang, S 20f)

Die Kosmologie der Gnostiker orientiert sich am geozentrischen Weltbild der Antike. Im Mittelpunkt steht die Erde mit ihrem Luftkreis, umgeben von den sieben Planetensphären. Die Archonten, die dämonischen Beherrscher dieser Hebdomas (griech. εβδομάς, „Siebenheit“), bewirken die Schicksalsnotwendigkeit (Heimarmene) und gehören dem finsteren Reich der äußeren Schöpfung an. Auf die 7 Planetensphären folgt als «Achtheit» die Fixsternregion mit dem Tierkreis (δώδεκα, dodeka), die entweder noch zum finsteren Reich gezählt wird oder schon den Übergang zur geistigen Lichtsphäre mit den reinen Engelwesenheiten des Pleromas bildet. Der (böse) «Oberarchon», der von den meisten Gnostikern dem Demiurgen gleichgesetzt wird, thront entsprechend entweder in der siebenten Sphäre oder in der Achtheit. Bei den Ophiten umwindet Leviathan als Ouroborosschlange (von griech. οὐροβóρος „Schwanzfresser“) die Planetensphären und trennt sie von der Tierkreisregion; Leviathan ist hier zugleich der Herr und König der geschaffenen Welt und die Weltseele, die alle Dinge durchdringt.[21]

Der «unbekannte Gott»

Der unbekannte, unermessliche, unergründliche und unbegrenzte Gott oder Vater überragt alle Sphären und ist für die Gnostiker der geheime Mittelpunkt der Welt und die Quelle alles Seins, vergleichbar dem Ain Soph (hebr. אין סוף nicht endlich) der Kabbalisten. Im Apokryphon des Johannes wird Johannes von dem Christus ausführlich über das Wesen des «unbekannten Vaters» belehrt:

„Die Einheit ist eine Einherrschaft, über der nichts ist. Er ist der, der existiert als Gott und Vater des Alls, der Unsichtbare, der über dem All ist, der existiert als Unvergänglichkeit und als reines Licht, in das kein Auge blicken kann. Er ist der unsichtbare Geist, in bezug auf den es nicht passend ist, sich ihn als Gott oder etwas ähnliches vorzustellen. Denn er ist mehr als Gott, da es keinen über ihm gibt, denn niemand ist Herr über ihn. Denn er existiert nicht in irgendeiner Untergeordnetheit, denn alles existiert in ihm.

Denn er ist der, der sich selbst befestigt. Er ist ewig, denn er braucht nichts. Denn er ist die ganze Vollendung. Er brauchte nichts, daß er vollkommen werde durch es; vielmehr ist er immer gänzlich vollkommen im Licht. Er ist unbegrenzbar, da es keinen, der vor ihm ist, gibt, der ihn begrenzt. Er ist unergründbar, da es dort keinen, der vor ihm ist, gibt, um ihn zu ergründen. Er ist unmeßbar, da es keinen, der vor ihm ist, gab, um ihn zu messen. Er ist unsichtbar, da keiner ihn gesehen hat. Er ist ewig, da er ewiglich existiert. Er ist unaussprechbar, da keiner in der Lage war, ihn zu begreifen, um dann über ihn zu reden. Er ist unbenennbar, da dort keiner ist, der vor ihm ist, um ihn zu benennen. Er ist das unmeßbare Licht, das rein, heilig und gereinigt ist. Er ist unaussprechbar, indem er vollkommen ist in der Unvergänglichkeit. Er ist nicht in Vollkommenheit noch in Seligkeit noch in Göttlichkeit, sondern er ist weitaus vorzüglicher. Er ist weder körperlich noch ist er unkörperlich. Er ist weder groß noch ist er klein. Es gibt keine Art und Weise zu sagen: Wie groß ist er? Oder: Was ist seine Art? denn keiner ist in der Lage, ihn zu erkennen. Er gehört nicht zu den Existierenden, sondern er ist weitaus vorzüglicher, nicht als ob er an sich vorzüglicher wäre, sondern dieses, was das Seine ist, ist vorzüglicher. Er hat keinen Anteil, weder an den Äonen noch an Zeit. Denn wer nämlich Anteil hat an einem Äon, diesen haben andere bereitet. Man hat ihn nicht in eine Zeit eingeschlossen, denn er empfängt nicht von jemand anderem, denn es würde empfangen werden als Anleihe.

Denn der, der über allen steht, hat keinen Mangel, damit er empfange von ihm. Denn er ist der, der erwartungsvoll auf sich selbst blickt in seinem Licht.

Denn er ist groß. Zu ihm gehört eine unermeßliche Reinheit. Er ist Ewigkeit, die Ewigkeit gibt. Er ist Leben, das Leben gibt.

Er ist ein Seliger, der Seligkeit gibt. Er ist Erkenntnis, die Wissen gibt. Er ist Güte, die Güte gibt. Er ist Erbarmen, das Erbarmen und Rettung gibt. Er ist Gnade, die Gnade gibt.

Nicht weil er es besitzt, sondern weil er das unmeßbare unbegreifbare Licht gibt.

Wie soll ich sprechen mit dir über ihn? Denn sein Äon ist unvergänglich, er schweigt und existiert im Schweigen, indem er ruht und vor allen Dingen ist. Denn er ist das Haupt aller Äonen, und er ist der, der ihnen Stärke gibt in seiner Güte. Denn wir wissen nicht die unaussprechbaren Dinge, und wir wissen nicht, was unmeßbar ist außer ihm, der aus ihm offenbar geworden ist, nämlich aus dem Vater. Er nämlich ist es, der es uns allein gesagt hat. Denn er ist der, der sich anblickt in seinem Licht, welches ihn umgibt, das ist die Quelle des lebendigen Wassers. Und er ist es, der allen Äonen gibt. Und in jeder Gestalt nimmt er sein Bild wahr, indem er es in der Quelle des Geistes sieht.“

Apokryphon des Johannes: Der unbekannte Vater [7]

Das Pleroma

Der Begriff «Pleroma» umfasst für die Gnostiker die Gesamtheit aller geistigen Wesen und Äonen, die der «unbekannte Gott» emaniert hat. Im nachfolgenden Text identifiziert Steiner den Demiurg mit diesem «unbekannten Gott», der die Quelle alles Seins ist. In den meisten gnostischen Texten wird als Demiurg allerdings nur der untergeordnete, negativ bewertete Schöpfergott bezeichnet, der die äußere Welt der Finsternis bzw. der Materie hervorgebracht hat, also Jahve oder Jaldabaoth.

"Alles das, was sich da gewissermaßen nun erhebt - für die ältere Menschheit durchaus verständlich, für die spätere Menschheit nicht mehr verständlich -, was sich da erhebt auf der Grundlage desjenigen, was uns im Erdenleben sinnlich umgibt, das alles faßte man zusammen unter dem Ausdrucke Pleroma (siehe Schema). Das Pleroma ist also eine Welt, von individualisierten Wesen bevölkert, die sich erhebt über der Welt des Physischen. Gewissermaßen auf der untersten Stufe dieser Welt, dieser Pleroma-Welt, erscheint der durch Jahve oder Jehova ins Dasein gerufene Mensch. Auf der untersten Stufe dieses Pleromas ersteht eine Wesenheit, die eigentlich nicht in dem einzelnen Menschen, auch nicht etwa in einer Völkergruppe, sondern in der ganzen Menschheit lebt, die aber eine Erinnerung hat an die Abstammung vom Pleroma, vom Demiurgen, und wiederum zurückstrebt nach der Geistigkeit. Es ist das die Wesenheit Achamoth, mit der man in Griechenland eben das Hinaufstreben der Menschheit nach dem Geistigen andeutete. So daß also durch Achamoth ein wiederum Zurückstreben zu dem Geistigen vorhanden ist (roter Pfeil). Nun gliederte sich an diese Vorstellungswelt die andere an, daß der Demiurg dem Streben der Achamoth entgegengekommen ist und

Tafel 7
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einen sehr frühen Äon herabgeschickt hat, der sich mit dem Menschen Jesus vereinigte, damit das Streben der Achamoth in Erfüllung gehen könne. So daß in dem Menschen Jesus ein Wesen aus der Äon- Entwickelung steckt, das von viel höherer geistiger Wesenheit, von höherer geistiger Art als Jahve oder Jehova gedacht wurde (grüner Pfeil)." (Lit.: GA 225, S. 119f)

Gnosis und Neuplatonismus

Es gibt manche Gemeinsamkeiten zwischen der Gnosis und dem Neuplatonismus, vor allem wenn es um die Bedeutung der rein geistigen Weltbereiche geht. Auch die Neuplatoniker hatten eine ausgefeilte Emanationslehre. Womit sie aber nicht mitgehen konnten, war die Verteufelung der ganzen äußeren Welt. Für die Platoniker war der äußere Kosmos trotz seiner Trübung durch die Materie ein Ort der Schönheit und Ordnung, in der sich die Gesetze des ewigen Geistes widerspiegeln. Plotin, der führende Denker der Neuplatoniker, wandte sich daher entschieden gegen die weltverneinenden Lehren der Gnostiker.

„Das Vorhaben der Gnostiker ist, anders als die Philosophie, nicht rational. Plotin stellt die Lehre der Gnostiker als absurd, lächerlich und unvernünftig dar. Philosophie an sich ist eine rationale Beschäftigung. Daher sind die Gnostiker keine Philosophen, sondern sogar das Gegenteil.“

Johanna Brankaer: Die Gnosis, S 104

In seinen Enneaden schreibt Plotin «Gegen die Gnostiker oder gegen die welche sagen, der Weltbildner sei schlecht und die Welt sei schlecht»:

„Wer also die Natur der Welt tadelt, weiss nicht was er thut noch wieweit er sich in seiner Frechheit versteigt. Dies kommt aber daher, weil sie das Gesetz der Stufenfolge vom Ersten, Zweiten, Dritten u.s.f. bis zum Letzten nicht kennen, weil sie nicht wissen, dass man es den Dingen nicht vorwerfen darf, weil sie schlechter sind als das Erste, sondern geduldig sich in das Naturgesetz des Alls zu fügen hat, rüstig zum Ersten emporeilend und ablassend von der theatralischen Ausschmückung der eingebildeten Schrecken, welche das Sphärensystem der Welt verursachen soll, das im Gegentheil doch alles zu ihrem Heile fördert. Was liegt denn Furchtbares in diesen Sphären, wie sie es doch den Leuten einzureden suchen, die in philosophischen Untersuchungen nicht geübt sind und einer auf Bildung begründeten richtigen Erkenntniss entbehren? Wenn ihre Körper feurig sind, so braucht man sich deshalb nicht vor ihnen zu fürchten, da sie trotzdem das richtige Verhältniss zum All und zur Erde bewahren; auf ihre Seelen muss man blicken, durch die ja auch sie jedenfalls geehrt sein wollen. Und doch sind auch ihre Körper ausgezeichnet durch Grösse und Schönheit, sie tragen thätig und hülfreich mit bei zu dem, was gemäss der Natur entsteht, was niemals aufhören kann zu entstehen so lange es das Erste giebt, sie helfen das All ergänzen und sind grosse Theile des Alls. Wenn aber den Menschen gegenüber den andern lebendenWesen ein besonderer Werth zukommt, so in noch viel höherem Grade ihnen, die nicht zur Tyrannei im All vorhanden sind, sondern ihm seinen Schmuck und seine Ordnung verleihen.“

Plotin: Enneaden II 9,13

Rudolf Steiner über die Gnosis

Rudolf Steiner sagt über die Gnosis:

"Deshalb ist es für die Menschen so schwierig, sich in die Gedanken der Gnosis hineinzuversetzen. Denn die Gnosis setzt wahrhaftig alles, was gar nicht irgendwie an das Materielle erinnert, zunächst an den Ausgangspunkt ihrer Weltbetrachtung. Vielleicht wird sich sogar ein Geist, der so recht in der Gegenwartsbildung drinnensteckt, eines leisen Lächelns nicht enthalten können, wenn ihm im Sinne der Gnosis zugemutet wird, zu denken, daß die Welt, in der er sich befindet, die er mit seinem Darwinismus so herrlich schön erklärt, daß diese Welt gar nichts zu tun haben soll mit dem, was in Wirklichkeit die Urgründe unserer Welt darstellt. Eines leisen Lächelns wird sich der heutige Mensch, der in der Gegenwartsbildung drinnensteckt, wirklich nicht enthalten können, wenn ihm zugemutet wird, zu denken, die Urgründe der Welt seien bei jenen Weltenwesen, zu denen überhaupt Begriffe zunächst nicht reichen, zu denen nichts reicht von all dem, was man heute aufwendet zum Weitenverständnis: In dem göttlichen Urvater liegt das, was der Weltengrund genannt werden kann. Und gleichsam von ihm ausgehend, ihm zur Seite, ist erst dasjenige, wozu die Seele sich hindurchringen kann, wenn sie abseits aller materialistischen Vorstellungen ein wenig nur ihr Tiefstes sucht: Schweigen, das unendliche Schweigen, in dem noch nicht Zeit und Raum ist, sondern nur Schweigsamkeit ist. Zu dem Paar des Urvaters der Welt und des Schweigens, das noch vor Raum und Zeit ist, schaute der Gnostiker auf, und dann ließ er hervorgehen gleichsam aus der Vermählung des Urvaters mit dem Schweigen andere — man kann sie ebensogut Welten wie Wesen nennen. Und aus diesen wieder andere und wieder andere und wieder andere, und so durch dreißig Stufen hindurch. Und auf der dreißigsten Stufe steht erst das, was unserem Gegenwartssinn vorliegt, und was mit dem Darwinismus so herrlich nach diesem Gegenwartssinn erklärt wird. Auf der dreißigsten Stufe steht es erst, eigentlich auf der einunddreißigsten; denn dreißig solche Wesenheiten, die man ebensogut Welten wie Wesenheiten nennen kann, gehen voran dieser Welt. Äon ist der Ausdruck, den man gewöhnlich annimmt für diese dreißig unserer Welt vorangehenden Wesenheiten oder Welten.

Man bekommt nur dann eine Vorstellung von dem, was mit dieser Äonenwelt gemeint ist, wenn man sich klar und deutlich sagt: Nicht nur das, was die Sinne wahrnehmen, was du deine Welt um dich herum nennst, gehört sozusagen der einunddreißigsten Welt an, sondern auch das, was du aufbringst als physischer Mensch mit deinen Gedanken als Erklärungen dieser Welt, gehört dieser einunddreißigsten Stufe an. Es ist ja noch leicht, sich abzufinden mit einer spirituellen Weltanschauung, wenn man sagt: Nun ja, die äußere Welt ist ja allerdings Maja, aber durch unser Denken dringen wir in die geistige Welt ein —, und wenn man dann die Hoffnung hat, daß dieses Denken wirklich hinaufkommen kann in die geistigen Welten. Das war aber nach der Ansicht der Gnostiker nicht der Fall. Dieses Denken gehört zum einunddreißigsten Äon, zur physischen Welt, nach der Ansicht der Gnostiker. So daß zunächst nicht nur der sinnlich wahrnehmende, sondern auch der denkende Mensch herausversetzt war aus den dreißig Äonen, die stufenweise aufwärts angeschaut werden können durch die geistige Entwicklung und die in immer größerer und größerer Vollkommenheit sich darstellen. Man braucht wirklich nur sich einmal hineinzuversetzen in das Lächeln, das einem heutigen, auf der Höhe seiner Zeit stehenden Monisten sich abringt, wenn man ihm zumutet, zu glauben: Dreißig Welten gehen voran, in denen etwas ganz anderes ist, als du selbst zu denken vermagst. — Das aber war die Anschauung der Gnostiker.

Und dann fragten sie sich: Wie ist es denn eigentlich in dieser Welt?

Wir wollen eine Weile davon absehen, was wir selbst über diese Welt gesagt haben im Sinne des Beginnes des zwanzigsten Jahrhunderts. Das, was ich jetzt sage, soll nicht für uns als irgendeine uns etwa überzeugende Ideenwelt dargestellt werden - in der Anthroposophie des zwanzigsten Jahrhunderts wird selbstverständlich die Gnosis zu überwinden sein —, aber wir wollen uns in diese Gnosis versetzen. Die umliegende Welt, auch mit dem, was der Mensch über sie denken kann, warum ist sie denn abgeschlossen von den dreißig Äonen? — Da muß man hinblicken, sagte sich der Gnostiker, auf den untersten, aber noch rein geistigen Äon. Was ist da vorhanden? Da ist vorhanden die göttliche Sophia, die göttliche Weisheit. In geistiger Art abstammend durch die 29 Stufen hindurch, zu dem höchsten Äon schaute sie hinauf innerhalb der geistigen Welt, zu dieser Reihe der geistigen Wesenheiten oder Welten. Aber es wurde ihr eines Tages, eines Weltentages, klar, daß sie etwas von sich auszusondern habe, wenn sie den freien Ausblick erhalten wollte in die geistige Welt der Äonen. Und sie sonderte von sich aus dasjenige, was in ihr vorhanden war als Begierde. Und das, was fortan nicht mehr in ihr vorhanden ist, in dieser göttlichen Sophia, in dieser göttlichen Weisheit, das irrt nunmehr herum in der Raumeswelt, das durchdringt alles Werden der Raumeswelt. Es lebt nicht nur in der Sinneswahrnehmung, es lebt auch im Menschendenken, lebt da mit der Sehnsucht nach der geistigen Welt, lebt aber doch wie ausgeworfen in die menschlichen Seelen. Gleichsam als die andere Seite, das Ebenbild, aber als das in die Außenseite geworfene Ebenbild der göttlichen Sophia lebt die Begierde, die in alles hineingeworfen ist, die Welt durchdringend: Achamod. Schaust du in deine Welt, ohne dich aufzuschwingen in die geistigen Welten, so schaust du in die begierdenerfüllte Welt von Achamod. Weil sie die von Begierden erfüllte Welt ist, deshalb kann sich in ihr zunächst nicht darstellen, was sich als Ausblick ergibt in die Welt der Äonen.

Weit, weit zurückliegend in der Welt der Äonen, erzeugt aus der reinen Geistigkeit der Äonen heraus, dachte sich die Gnosis, was sie nannte den Sohn des Vatergottes, und auch das, was sie nannte den reinen, Heiligen Geist. So daß wir in ihnen gleichsam eine andere Generationsreihe, eine andere Reihe der Entwickelung haben als diejenige, die dann zu der göttlichen Sophia geführt hat. Wie sich im physischen Leben in der Fortpflanzungsströmung die Geschlechter sondern, so sonderte sich einmal im Fortgang der Äonen, durchaus auf einer Hochstufe der geistigen Welt, eine andere Strömung heraus, die Strömung des vom Vater stammenden Sohngeistes und des Heiligen Geistes. So daß man fließend hat in der Welt der Äonen das, was auf der einen Seite zur göttlichen Sophia führte und auf der anderen Seite zum Sohngeist und Heiligen Geist. Wenn man hinaufgeht durch die Äonen, so begegnet man einmal einem Äon, von dem abstammt auf der einen Seite die Äonenfolge, die dann zur göttlichen Sophia hinführte, wie auf der anderen Seite die Äonenfolge, von der abstammen der Gottessohn und der Heilige Geist. Dann kommen wir hinauf zum Vatergott und dem göttlichen Schweigen.

Dadurch nun, daß die menschliche Seele mit Achamod versetzt ist in die materielle Welt, dadurch lebt in ihr im Sinne der Gnosis die Sehnsucht nach der geistigen Welt, lebt in ihr vor allen Dingen die Sehnsucht nach der göttlichen Sophia, nach der göttlichen Weisheit, von der sie aber durch ihr Erfülltsein mit Achamod getrennt ist. Dieses Gefühl der Trennung von der göttlichen Äonenwelt, dieses Gefühl, nicht in dem Göttlich-Geistigen zu sein, das wird nach der Anschauung der Gnostiker als die materielle Welt empfunden. Und abstammend von der göttlich-geistigen Welt, doch verbunden mit Achamod, erscheint der Gnosis das, was man nennen könnte, an die griechische Sprache sich anlehnend, den Weltenbaumeister, den Demiurgos. Dieser Demiurgos, dieser Weltenbaumeister, ist der eigentliche Durchschöpfer und Durcherhalter dessen, was von Achamod und dem Materiellen durchzogen ist. In seine Welt sind einverflochten die Menschenseelen. Die Menschenseelen sind einverflochten mit ihrer Sehnsucht zunächst nach der göttlichen Sophia, und in der Welt der Äonen erscheint rein göttlich- geistig, wie in der Ferne, der Gottessohn und der Heilige Geist, aber nur für den, der — im Sinne der Gnosis — sich erhebt über all das, in das hinein Achamod, die im Raume schweifende Begierde, einverleibt ist.

Warum ist in den Seelen, die in die Welt der Achamod versetzt sind, doch die Sehnsucht? Warum fühlen sie nach der Trennung von der göttlich-geistigen Welt die Sehnsucht nach der göttlichgeistigen Welt? Auch diese Frage legte sich die Gnosis vor, und sie sagte: Achamod ist herausgeworfen aus der göttlichen Weisheit, der göttlichen Sophia; aber bevor sie diese völlig materielle Welt wurde, in der der Mensch jetzt lebt, kam ihr wie eine kurze Überstrahlung ein Licht von dem Gottessohn, das gleich wieder verschwand. Das ist ein wichtiger Begriff der Gnostiker, daß Achamod, wie sie in den Menschenseelen lebt, ansichtig wurde in urferner Vergangenheit des Gotteslichtes, das ihr nur gleich wiederum entschwunden war. Aber die Erinnerung lebt jetzt in der Menschenseele, wie sehr sie auch verstrickt sein kann in die materielle Welt. In der Welt der Achamod lebe ich — so hätte eine solche Seele sagen können — in der materiellen Welt. Mit einer Hülle bin ich umgeben, die dieser materiellen Welt entnommen ist. Aber indem ich mich in mich versenke, lebt in mir eine Erinnerung auf. Das, was mich gefesselt hält an die materielle Welt, sehnt sich nach der göttlichen Sophia, nach der göttlichen Weisheit, weil das Wesen Achamod, das in mir lebt, einstmals überleuchtet worden ist von dem Gottessohn, der in der Welt der Äonen lebt. — Man mache sich diese Verfassung einer Seele, die sozusagen eine Schülerseele der Gnostiker war, einmal klar. Solche Seelen lebten; sie sind nicht eine hypothetische Konstruktion, sie lebten. Und die verständig schauenden Geschichtsforscher werden durch äußere Dokumente darauf kommen, daß zahlreiche solche Seelen gelebt haben in jener Zeit, von der wir eben sprechen." (Lit.: GA 149, S. 18ff)

Gnosis als Weltanschauungsstimmung

Die Gnosis ist auch eine der sieben grundlegenden Weltanschauungsstimmungen, die Rudolf Steiner unterschieden und den sieben Planetensphären zugeordnet hat; die Gnosis entspricht der Saturnsphäre.

"Man ist ein Gnostiker, wenn man daraufhin gestimmt ist, durch gewisse in der Seele selbst liegende Erkenntniskräfte, nicht durch die Sinne oder dergleichen, die Dinge der Welt kennenzulernen. Man kann ein Gnostiker sein und zum Beispiel eine gewisse Neigung haben, sich bescheinen zu lassen von dem Geistes-Tierkreisbilde, das wir hier als Spiritualismus bezeichnet haben. Dann wird man in seiner Gnostik tief hineinleuchten können in die Zusammenhänge der geistigen Welten.

Man kann aber auch zum Beispiel ein Gnostiker des Idealismus sein; dann wird man eine besondere Veranlagung haben, die Ideale der Menschheit und die Ideen der Welt klar zu sehen. Der Unterschied ist ja vorhanden zwischen dem einen und dem anderen Mensehen auch in bezug auf den Idealismus, den die beiden Menschen haben können. So ist der eine ein idealistischer Schwärmer, der immer davon redet, daß er Idealist ist, der nur immer das Wort Ideal, Ideal, Ideal im Munde führt, aber nicht viele Ideale kennt, der nicht die Fähigkeit hat, in scharfen Konturen und mit innerlichem Schauen wirklich die Ideale vor seine Seele zu rufen. Ein solcher unterscheidet sich dann von dem anderen, der nicht nur von Idealen redet, sondern die Ideale in seiner Seele so zu zeichnen weiß wie ein scharf hingemaltes Bild. Der letztere, der den Idealismus ganz konkret innerlich ergreift, so intensiv ergreift, wie man mit der Hand äußere Dinge ergreift, der ist auf dem Gebiete des Idealismus ein Gnostiker. Man könnte auch so sagen: Er ist überhaupt ein Gnostiker, aber er läßt sich insbesondere von dem Geistes-Tierkreisbilde des Idealismus bescheinen.

Es gibt Menschen, welche sich besonders stark bescheinen lassen von dem Weltanschauungsbilde des Realismus, die aber so durch die Welt gehen, daß sie durch die ganze Art, wie sie die Welt empfinden, wie sie der Welt gegenübertreten, den andern Menschen viel, viel sagen können von dieser Welt. Sie sind weder Idealisten noch Spirituaüsten; sie sind ganz gewöhnliche Realisten. Sie sind imstande, wirklich fein zu empfinden, was in der äußeren Realität um sie herum ist, sie sind fein empfänglich für die Eigentümlichkeiten der Dinge. Sie sind Gnostiker, richtige Gnostiker; nur sind sie Gnostiker des Realismus. Solche Gnostiker des Realismus gibt es, und manchmal sind Spirituaüsten oder Idealisten gar nicht Gnostiker des Realismus. Wir können sogar finden, daß Leute, die sich gute Theosophen nennen, durch eine Bildergalerie durchgehen und gar nichts zu sagen haben über die Bilder, während andere, die gar nicht Theosophen sind, die aber Gnostiker des Realismus sind, unendlich Bedeutungsvolles dadurch zu sagen wissen, daß sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit in Berührung sind mit der ganzen Realität der Dinge. Oder wie viele Theosophen gehen hinaus in die Natur und wissen gar nicht das ganz Erhabene und Große der Natur mit der ganzen Seele aufzufassen: sie sind nicht Gnostiker des Realismus. Es gibt Gnostiker des Realismus.

Es gibt auch Gnostiker des Materialismus. Das sind allerdings sonderbare Gnostiker. Aber ganz in dem Sinne, wie man Gnostiker des Realismus ist, kann man Gnostiker des Materialismus sein; aber es sind das Menschen, die nur Sinn und Gefühl und Empfinden haben für alles Stoffliche, die das Stoffliche durch die unmittelbare Berührung kennenzulernen suchen, wie der Hund, der die Stoffe beriecht und dadurch intim kennenlernt und der eigentlich in bezug auf die materiellen Dinge ein ausgezeichneter Gnostiker ist.

Man kann Gnostiker sein für alle zwölf Weltanschauungsbilder. Das heißt, wenn wir die Gnosis richtig hineinstellen wollen, müssen wir es so machen, daß wir einen Kreis zeichnen und daß uns der ganze Kreis bedeutet: Die Gnosis kann herumwandeln durch alle zwölf Weltanschauungsbilder. Wie ein Planet die zwölf Tierkreisbilder durchwandelt, so kann die Gnosis alle zwölf Weltanschauungsbilder durchwandeln.

Allerdings wird die Gnosis die größten Dienste für das Heil der Seelen dann leisten, wenn die gnostische Stimmung angewendet wird für den Spiritualismus. Man könnte sagen: Die Gnosis ist im Spiritualismus so recht zu Hause. Sie ist da in «ihrem» Hause. Sie ist außer ihrem Hause in den anderen Weltanschauungsbildern. Logisch hat man nicht die Berechtigung zu sagen, es könnte keine materialistische Gnostik geben. Die Pedanten der Begriffe und Ideen werden mit solchen Dingen leichter fertig als die gesunden Logiker, die es etwas komplizierter haben. Man könnte zum Beispiel sagen: Ich will nichts anderes Gnosis nennen, als was in den Geist eindringt. Das ist eine willkürliche Begriffsbestimmung, ist ebenso willkürlich, wie wenn jemand sagen würde: Veilchen habe ich bis jetzt nur in Österreich gesehen, also nenne ich Veilchen nur das, was in Österreich wächst und die Veilchenfarbe hat, anderes nicht. Logisch ist es ebenso unmöglich zu sagen, Gnosis gebe es nur im Weltanschauungsbilde des Spiritualismus; denn Gnosis ist ein «Planet», der die Geistes-Sternbilder durchläuft." (Lit.: GA 151, S. 49ff)

Siehe auch

Anmerkungen

  1. γνωναι τα μυστηρια της βασιλειας των ουρανων gnonai ta mysteria tes basileias ton ouranon „zu wissen (erkennen) die Mysterien der Königreiche des Himmels“
  2. Vgl. Platon, Phaidon
  3. Vgl. Mt 5,8 EU
  4. Vgl. 1 Kor 13,12 EU
  5. Vgl. 1 Thess 4,17 EU
  6. Vgl. Strom. II 48,1
  7. Vgl. Strom. VII 20,2
  8. Vgl. Strom. VII 46,3
  9. § 57, 3 f. (bis hierher) ist Sacra Par. 268 Holl.
  10. Vgl. Strom. IV 53,1
  11. Vgl. Lk 20,36 EU
  12. Vgl. Strom. V 106,2-4; Exc. ex Theod. 63,1
  13. Vgl. Joh 14,2 EU
  14. Vgl. Strom. I 163,6
  15. Nach heute weit verbreiteter Meinung stammt der Brief nicht von Paulus selbst, sondern vermutlich von einem seiner Schüler; vgl dazu:
    Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK Bd. XV, hrsg. v. Hans-Josef Klauck, François Bovon et al.), Benziger: Zürich 1988, S. 23-28.
  16. 1 Kor 8,1 EU
  17. Leisegang, S 20-24
  18. zit. nach: Rudolph, S 65f
  19. vgl. Rudolph, S 284f
  20. vgl. Rudolph, S 229f und Brankaer, S 108ff
  21. vgl. Rudolph, S 76ff

Literatur

  1. Hans Jonas: Gnosis uns spätantiker Geist I, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1934, 1964, 1988 ISBN 978-3525531235
  2. Hans Leisegang: Die Gnosis. A. Kröner, Leipzig 1924. 2. Auflage 1936. 5. Auflage, Kröner, Stuttgart 1985. ISBN 3-520-03205-8
  3. Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005 ISBN 3-525-52110-3
  4. Johanna Brankaer: Die Gnosis. Texte und Kommentar, Marix Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3865399540
  5. Christoph Markschies: Die Gnosis, 3. Aufl., C.H.Beck, München 2010
  6. Karl Reinhold Köstlin: Das gnostische System des Buches Pistis Sophia. Tübingen 1854. In: Theologische Jahrbücher Hrg. von Ferdinand Christian Baur, E. Zeller. Bd 13, Jg. 1854, S. 1–105; 137–196.
  7. Carl Schmidt (Hrsg.): Koptisch-gnostische Schriften. Bd. I. Die Pistis Sophia. Die beiden Bücher des Jeû. Unbekanntes altgnostisches Werk, Leipzig 1905. 4., um d. Vorw. erw. Auflage, Berlin 1981 (Koptisch-gnostische Schriften; Bd. 1: Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte). Erste deutsche Übersetzung.
  8. Carl Schmidt: Pistis Sophia neu herausgegeben mit Einleitung nebst griechischem und koptischem Wort- und Namenregister. Gyldendalsk Boghandel-Nordisk Forlag, Hauniae 1925. (deutsches Vorwort, koptischer Text)
  9. G.R.S. Mead: Pistis Sophia, a Gnostic gospel (with extracts from the books of the Saviour appended) originally tr. from Greek into Coptic and now for the first time Englished from Schwartze's Latin version of the only known Coptic ms. and checked by Amélineau's French version with an introduction by G.R.S. Mead ... Published 1896 by The Theosophical publishing society [etc., etc.] in London, New York. Englische Erstausgabe.
  10. G. R. S. Mead: Pistis Sophia : a Gnostic miscellany : being for the most part extracts from the books of the Saviour, to which are added excerpts from a cognate literature ; englished (with an introduction and annotated bibliography), Watkins, London 1921.
Rudolf Steiner
  1. Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze, GA 26 (1998), ISBN 3-7274-0260-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Christus und die geistige Welt. Von der Suche nach dem heiligen Gral, GA 149 (2004), ISBN 3-7274-1490-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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  9. Rudolf Steiner: Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Dokumentarische Ergänzungen GA 343bpdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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Weblinks

  1. Die Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi - Erste deutsche Gesamtübersetzung (Gerd Lüdemann, Martina Janßen).
  2. Die gnostischen Schriften (Gerd Albrecht)
  3. Bibliothek der Kirchenväter - eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung