Phänomenologie

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Die Phänomenologie (von griech. φαινόμενον phainómenon „Sichtbares, Erscheinung“ und λόγος lógos „Rede, Lehre“, wörtlich also Erscheinungslehre) ist die Lehre bzw. systematische Untersuchung der Erscheinungen, der Phänomene, wie sie sich der sinnlichen oder übersinnlichen Anschauung als unmittelbar Gegebenes darbieten.

Goethe hat seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen auf eine reine Phänomenologie gegründet und damit die Grundlagen für den Goetheanismus geschaffen. Als philosophische Strömung wurde die Phänomenologie nachhaltig von Edmund Husserl geprägt, die wesentlich von Franz Brentanos phänomenologischer resp. deskriptiver Psychologie beeinflusst ist. Eine in den 1960er Jahren von Hermann Schmitz eingeführte und seitdem beständig weiterentwickelte Variante ist die Neue Phänomenologie.

Anthroposophie als phänomenologische Wissenschaft

„Phänomenologie, das ist das Ideal des wissenschaftlichen Strebens, das in der Anthroposophie vorliegt.“ (Lit.:GA 73a, S. 362)

In GA 259 ist die Kritik Rudolf Steiners an einer falschen Auffassung von "phänomenologischer" Forschung, die mit anthroposophischer Wissenschaft nichts zu tun habe, dokumentiert.[1]

Phänomenologie im Anschluß an Husserl

Im Anschluß an Husserl entstanden weiterhin realistische (wie Husserl noch mit seinem ersten Hauptwerk "Logische Untersuchungen" (1900/1901)) philosophische phänomenologische Schulen, die Husserls spätere Wendung zu einem transzendentalen[2] Idealismus nicht mitmachten. Realistische phänomenologische Positionen, die z.B. ablehnen, daß gegebene Phänomene abhängig seien von subjektiver Konstitution durch ein transzendentales Ego, und sie als bewußtseinsunabhängig objektiv existierend (und erkennbar, im Unterschied zu Kants Auffassung, das Ding an sich sei nicht erkennbar) auffassen (Realismus), müssen nicht unbedingt gleichzeitig einem Materialismus oder Naturalismus zugerechnet werden. Es gibt auch ideenrealistische Positionen. Ein solcher ideenrealistischer (oder auch ontologischer, metaphysischer) Idealismus muß von einem erkenntnistheoretischen Idealismus unterschieden werden.

Reinachs Auffassung der platonischen Ideenlehre ermöglicht den Zugang zu einer Wesensphänomenologie, die einen Weg über den von Kant aufgerissenen erkenntnistheoretischen Abgrund hinweg zum Ding-an-sich eröffnet. Für Reinach ist die Phänomenologie dabei Methode, kein eigenes System. Er versteht die neuen Versuche in dem mit Husserl und Scheler herausgegebenen "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung" als eine "Bewegung in Richtung der platonischen Ideenlehre. Phänomenologie [als] Rückgang zu Platon! [Doch] ist [auch] Kants Frage noch zulässig [und] eine wichtige Frage der Phänomenologie: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Gegen Hume, Kant und nominalistische Einwände setzt er seine Untersuchungen der allgemeinen Wesenheiten, denen sein Augenmerk gilt. Seine Wesensauffassung besagt, daß Wesen im Bereich von aktunabhängigen materialen Apriori freigelegt werden können. (...) Die Intuition bildet nach Reinach dabei das Vehikel zum Sprung über den erkenntnistheoretischen Abgrund und ermöglicht die Schau der reinen Wesenheiten. Allerdings ist es methodologisch nicht leicht, den Akt der Intuition abzugrenzen von spontanen Eingebungen, obskuren oder mystischen Erleuchtungen. Die Verdächtigungen in diese Richtung entbehren nicht jeglicher Grundlage, denn es gelang Phänomenologen wie Walther oder Stein tatsächlich, von der Phänomenologie aus in die Gebiete der Mystik vorzudringen aufgrund der Verwandtschaft des intuitiven Akts mit der mystischen Schau.“ (Lit.: Beckmann: Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, S. 73f.)

Zitat

„Die phänomenologische Forschung, die der Boden für wissenschaftliche Arbeit sein sollte, ist zu Verwaschenheit, Leichtfertigkeit und Schnelligkeit herabgesunken, zum philosophischen Lärm des Tages und zu einem öffentlichen Skandal der Philosophie. Der Betrieb der Schülerschaften hat die Zugänge zur wirklichen Ergreifung verlegt. Der Georgekreis, Keyserling, Anthroposophie, Steiner usw. - alles läßt Phänomenologie in sich wirken. Wie weit es gekommen ist, zeigt ein neu erschienenes Buch: Zur Phänomenologie der Mystik, das im offiziellen Verlag und mit offiziellster Patenschaft erscheint. Es soll hier davor gewarnt werden!“ (Lit.: Heidegger: Vorlesung SoSe 1923, Heidegger Gesamtausgabe 63,73f. (gemeint ist das Buch von Gerda Walther))

Siehe auch

Literatur

  • Beckmann, Beate: Phänomenologie des religiösen Erlebnisses. Religionsphilosophische Überlegungen im Anschluß an Adolf Reinach und Edith Stein, Würzburg : Königshausen und Neumann, 2003, Diss., ISBN 3-8260-2504-0
  • Artemenko, Natalia (Ed.): Die Phänomenologie und die klassische deutsche Philosophie, Horizon, Studies in Phenomenology, Vol. 4, No 2, 2015, S. 10 - 217) Inhaltsverz. und PDF-Download; Texte (trotz englischen Überschriften teils auf deutsch), die den Beiträgen auf einer Konferenz entsprechen, deren Videoaufzeichnungen über youtube erreichbar sind: Youtube-Channel "Horizon Studies in Phenomenology" (die verwendete Sprache in den Vorträgen und Diskussionen ist teils englisch, teils deutsch)
  • Falter, Reinhard: Was ist Phänomenologie?, Zeitschrift Novalis, Nr. 3, 1996
  • Hardop, Benediktus: Elemente einer Neubestimmung des Geldes und ihre Bedeutung für die Finanzwirtschaft der Unternehmung, KIT Scientific Publishing, 2009, (Diss. 1958, erw. u. akt.), ISBN 3866442653, Volltext ;Ergänzung 2009: Geld, Wirtschaft, Assoziation, Kapital – und was darunter zu verstehen ist, S. 317 - 319, Inhaltsverzeichnis, Rezension (Rezension Kannenberg-Rentschler) ; (mit einem Kapitel: Die phänomenologischen Grundlagen und die soziologische Aufgabenstellung der eidetischen Ontologie)
  • Heinemann, Fritz: Goethe's phenomenological method, Journal of philosophical studies, Vol. 9, 1934, Inhalt
  • Hennigfeld, Iris: Zu den Sachen selbst. Horizonte wissenschaftlicher Anthroposophie-Forschung, in Die Drei, 3/2016, Inhalt ; [3] (u.a. zur Psychologismuskritik Husserls)
  • Hennigfeld, Iris: Goethes Urphänomen. Ein phänomenologischer Beitrag zu einem erweiterten Erfahrungsbegriff, in: Die Drei, Heft 1/2015, S. 37-47, Inhaltsangabe
  • Hennigfeld, Iris: Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung, in: Selbstgebung und Selbstgegebenheit: Zur Bedeutung eines universalen Phänomens, hg. von Markus Enders, Verlag Karl Alber: Freiburg 2018, S. 33-58, ISBN 978-3495489024
  • Jachmann, Otto: Denken wird Wahrnehmung. Die Philosophie von Brentano, Husserl, Heidegger und Derrida und die Anthroposophie. Verlag Ch. Möllmann 2009, ISBN 3899791266, Inhaltsverzeichnis
  • Kern, Holger: Analyse einer phänomenologischen Didaktik am Beispiel der Musik. Goethes Erkenntnisart als Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen, Diss. Univ. Bielefeld, 2007, Volltext
  • Koller, Hans-Christoph: Phänomenologie. In: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki/Michael Meuser (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, Opladen – Farmington Hills 2006, S. 83 – 85
  • Kollert, Günter: Der Logos der Erscheinungswelt, in: Das Goetheanum, 84. Jg., Nr.31/32, 2005, S.10-11, (Phänomenologie zwischen Akademismus und “spekulativer Romantik”. Steiners Phänomenologie-Begriff. Synopse, Urphänomen und Phänomenologie.)
  • Schmitz, Hermann: Goethes Farbenlehre im Licht der Neuen Phänomenologie, Kap. 15 in: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, de Gruyter, 1997, S. 197 - 210, google-view, ISBN 978-3-05-007411-5 ; (mit "Neue Phänomenologie" meint Schmitz seinen eigenen Ansatz)
  • Sijmons, Jaap: Phänomenologie und Idealismus. Struktur und Methode der Philosophie Rudolf Steiners, Schwabe Verlag Basel, 2008
  • Simms, Eva-Maria: Goethe und die Phänomenologie. Weltanschauung, Methode und Naturphilosophie, in: Maatsch, Jonas (HG): Morphologie und Moderne : Goethes "anschauliches Denken" in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin ; Boston, Mass. : De Gruyter 2014, Inhaltsverzeichnis: PDF, ISBN 978-3-11-037212-0, S. 177-194
  • Simms, Eva-Maria: Goethe, Husserl, and the Crisis of the European Sciences, in Janus Head 8/1, Sommer 2005 PDF
  • Steinbock, Anthony J.: Phenomenology and Mysticism. The Verticality of Religious Experience, Bloomington 2009.
  • Weik, Elke: Goethe and the study of life: a comparison with Husserl and Simmel, Continental Philosophy Review, September 2017 (2016), Volume 50, Issue 3, pp 335–357, Inhalt
  • Rudolf Steiner: Fachwissenschaften und Anthroposophie, GA 73a (2005), ISBN 3-7274-0735-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft. Vom Goetheanumbrand zur Weihnachtstagung., GA 259 (1991), ISBN 3-7274-2590-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org html
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. siehe GA 259, S. 230ff; vgl. dazu auch Thomas Brunner: Zum Verhältnis von Anthroposophie und akademischer Wissenschaft (2/2015) [1], und Gerhard Kienle: Anthroposophisch-medizinische Forschung und Öffentlichkeit, 1982, [2]
  2. "transzendental" hat bei Husserl nicht die gleiche Bedeutung wie bei Kant
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