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Dieses Gegenüber in Menschgestalt muss einerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann. Hegel hatte ein Gespür für den Unterschied zwischen göttlicher 'Schöpfung' und dem bloßen 'Hervorgehen' aus Gott. Gott bleibt nur solange ein "Gott freier Menschen", wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebenen. Nur so lange bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt."<ref>Jürgen Habermas "Dank", In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 Jürgen Habermas,
Dieses Gegenüber in Menschgestalt muss einerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann. Hegel hatte ein Gespür für den Unterschied zwischen göttlicher 'Schöpfung' und dem bloßen 'Hervorgehen' aus Gott. Gott bleibt nur solange ein "Gott freier Menschen", wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebenen. Nur so lange bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt."<ref>Jürgen Habermas "Dank", In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 Jürgen Habermas,
ISBN 3-7657-2447-5, S. 54</ref>
ISBN 3-7657-2447-5, S. 54</ref>
== System und Lebenswelt ==
''--> Hauptartikel: [[wikipedia:Jürgen Habermas#Theorie des kommunikativen Handelns (TdkH)|Jürgen Habermas#Theorie des kommunikativen Handelns (TdkH)]]
Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich für Habermas „stets im Horizont einer [[Lebenswelt]]“ (''TdKH'', Bd. I, S. 107). „Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“ (''TdkH'', Bd. II, S. 192). Lebenswelt ist der Komplementärbegriff zu dem des kommunikativen Handelns.
Der von [[Edmund Husserl]] erstmals entwickelte und von [[Alfred Schütz]] in die Soziologie eingeführte Begriff der ''Lebenswelt'' kennzeichnet die Teilnehmerperspektive der handelnden Subjekte. Er weist nach Habermas folgende Charakteristika auf (''TdkH'', Bd. II, S. 198–202):
* Die ''Lebenswelt'' „ist dem erlebenden Subjekt fraglos gegeben“ und kann „gar nicht problematisch werden“, sondern „allenfalls zusammenbrechen“.
* Die ''Lebenswelt'' verdankt ihre Gewissheit „einem in die [[Intersubjektivität]] sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen [[A priori|Apriori]]“.
* Die ''Lebenswelt'' lässt sich „nicht transzendieren“, sondern bildet „einen nicht hintergehbaren und prinzipiell unerschöpflichen Kontext“.
Habermas fixiert in seiner zweistufigen Gesellschaftstheorie mit den Komponenten „Lebenswelt“ und „System“ die Dualität von symbolischer und materieller Reproduktion der Gesellschaft. Ihr entspricht die Differenzierung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive, da {{"|die Selbsterhaltungsimperative der Gesellschaft (sich) nicht nur in der Teleologie der Handlungen ihrer individuellen Mitglieder, sondern zugleich in den funktionalen Zusammenhängen aggregierter Handlungseffekte durch(setzen)}} (''TdkH'', Bd. I, S. 533).
Erst in einem Prozess soziokultureller Evolution haben sich symbolische und materielle gesellschaftliche Reproduktion zu selbständigen, autonomen Handlungssphären entkoppelt, indem die Lebenswelt, der logisch und genetisch die primäre Bedeutung zukommt, funktionale Systeme – vornehmlich Wirtschaft ([[markt]]regulierte Ökonomie) und Politik ([[wikipedia:Bürokratie|bürokratischer]] Verwaltungsstaat) – „freisetzte“. Die ausschließliche Betrachtung der Gesellschaft als System, wie sie von [[Niklas Luhmann]] und [[Talcott Parsons]] vorgenommen wird, verstellt nach Habermas den theoretischen Zugang, „einen vernünftigen Maßstab für eine als [[wikipedia:Rationalisierung|Rationalisierung]] begriffene gesellschaftliche [[wikipedia:Modernisierung (Soziologie)|Modernisierung]] handlungstheoretisch zu begründen“ (''TdkH'', Bd. II, S. 422f).
Habermas ist der Ansicht, dass der gesellschaftliche [[wikipedia:Differenzierung (Soziologie)|Differenzierungsprozess]] in seinem Verlauf zu einer „Kolonialisierung“ der „Lebenswelt“ durch das „System“ geführt hat. Mit anderen Worten: Durch Ausbildung „generalisierter Steuerungsmedien“ – Geld und Macht – wird die materielle Reproduktion der Gesellschaft nicht nur unabhängig von ihrer kulturellen Reproduktion, sondern dringt auch zunehmend in diese ein. Dieser Prozess ist für Habermas ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. Er unterscheidet drei Entwicklungsstufen:
# ''Traditionale Gesellschaften'', in denen die „Lebenswelt“ noch nicht vom „System“ getrennt ist. Gemeint sind damit Gesellschaftsformen, deren materielle Reproduktion noch von ihrer kulturellen Wertsphäre dominiert wird; in denen kulturelle Normen noch entscheidend die Bedingungen materieller Reproduktion beeinflussen.
# In der zweiten Stufe, historisch gesehen die ''Zeit von der [[wikipedia:Reformation|Reformation]] bis zur [[wikipedia:Industrialisierung|Industrialisierung]]'', entkoppelt sich das „System“ von der „Lebenswelt“, mit der Folge, dass „Macht“ und „Geld“ als die Steuerungsmedien des „Systems“ den Menschen eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen abgelöste Handlungslogik aufzwingen. Es sind diese Übergriffe des „Systems“ auf die „Lebenswelt“, die Habermas als „'''Kolonialisierung der Lebenswelt'''“ charakterisiert.
# In der dritten Stufe treten nach Habermas die Konflikte zwischen „System“ und „Lebenswelt“ offen hervor: „Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt.“<ref>Habermas: ''Die neue Unübersichtlichkeit'', S. 189.</ref>


==Einzelnachweise==
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*[[Hjalmar Hegge]]: ''Freiheit, Individualität und Gesellschaft. Eine philosophische Studie zur menschlichen Existenz'', Reihe Logoi, Bd. 10, 1992, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 3772511112 (überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift "Frihet, individualitet og samfunn") {{IT|16|http://anthrowiki.at/Datei:Isbn3772511112.jpg|Inhaltsverzeichnis}}
*[[Hjalmar Hegge]]: ''Freiheit, Individualität und Gesellschaft. Eine philosophische Studie zur menschlichen Existenz'', Reihe Logoi, Bd. 10, 1992, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 3772511112 (überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift "Frihet, individualitet og samfunn") {{IT|16|http://anthrowiki.at/Datei:Isbn3772511112.jpg|Inhaltsverzeichnis}}
*Ralf Gleide: ''Hinter dem Rücken des Subjektes. Zu einem Essay von Jürgen Habermas über Bewusstsein und Freiheit'', Die Drei, 1/2005, S. 47-51
*Ralf Gleide: ''Hinter dem Rücken des Subjektes. Zu einem Essay von Jürgen Habermas über Bewusstsein und Freiheit'', Die Drei, 1/2005, S. 47-51
*[[Diether Lauenstein]]: ''Das Ich und die Gesellschaft. Einführung in die philosophische Soziologie im Kontrast zu [[Max Weber]] und Jürgen Habermas in der Denkweise Plotins und Fichtes''. Freies Geistesleben (Logoi 2), Stuttgart 1974
*GESIS Habermas-Bibliographie "Literatur zu Jürgen Habermas aus fünf Jahrzehnten", mit Inhaltsangaben, bearbeitet von Maria Zens, 2009 {{VT16|http://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/fachinformationen/recherche_spezial/RS6-09-Habermas.pdf}}
*GESIS Habermas-Bibliographie "Literatur zu Jürgen Habermas aus fünf Jahrzehnten", mit Inhaltsangaben, bearbeitet von Maria Zens, 2009 {{VT16|http://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/fachinformationen/recherche_spezial/RS6-09-Habermas.pdf}}
*Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch, J. B. Metzler Vlg., Stuttgart - Weimar 2015
*Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch, J. B. Metzler Vlg., Stuttgart - Weimar 2015
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* Ludwig Sieb über Habermas' rechtsstaatliche Wende mit seinem Werk Faktizität und Geltung (1992):[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679947.html] in: Der Spiegel Nr 43, 1992
* Ludwig Sieb über Habermas' rechtsstaatliche Wende mit seinem Werk Faktizität und Geltung (1992):[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13679947.html] in: Der Spiegel Nr 43, 1992
* [http://www.taz.de/!36281/ ''Habermas wird 80: Die Trümmerfrau der Philosophie'' von Isolde Charim, taz-Online vom 18.06.2009]
* [http://www.taz.de/!36281/ ''Habermas wird 80: Die Trümmerfrau der Philosophie'' von Isolde Charim, taz-Online vom 18.06.2009]
* [http://www.zeit.de/2012/37/Habermas-Krise-Europa-Rede-Georg-August-Zinn-Preis Jürgen Habermas: ''Politik und Erpressung'']
* [http://www.zeit.de/2012/37/Habermas-Krise-Europa-Rede-Georg-August-Zinn-Preis Jürgen Habermas: ''Politik und Erpressung'' (2012)]
* [https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/november/fuer-eine-demokratische-polarisierung Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht. Jürgen Habermas im Interview. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 61. Jahrgang, Heft 11/2016, Blätter Verlagsgesellschaft Berlin]


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Version vom 27. September 2017, 21:24 Uhr

Habermas 2007 an der Hochschule für Philosophie München

Jürgen Habermas (* 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist einer der weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart. In der philosophischen Fachwelt wurde er bekannt durch Arbeiten zur Sozialphilosophie mit diskurs-, handlungs- und rationalitätstheoretischen Beiträgen, mit denen er die Kritische Theorie auf einer neuen Basis weiterführte. Für Habermas bilden kommunikative Interaktionen, in denen rationale Geltungsgründe erhoben und anerkannt werden, die Grundlage für die Handlungskoordinierung vergesellschafteter Individuen, deren Handlungsräume durch den Dualismus von System und Lebenswelt bestimmt werden.

Überblick

Habermas ist der bekannteste Vertreter der nachfolgenden Generation der Kritischen Theorie. Vom hegelianisch-marxistischen Ursprung der Frankfurter Schule hat er sich durch die Rezeption und Integration eines breiten Spektrums neuerer Theorien gelöst. Nicht zuletzt durch regelmäßige Lehrtätigkeiten an ausländischen Universitäten, vor allem in den USA, sowie aufgrund von Übersetzungen seiner wichtigsten Arbeiten werden seine Theorien weltweit diskutiert.

Wegen der Vielfalt seiner philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aktivitäten gilt Habermas als ein produktiver und engagierter Intellektueller.[1] Er verband den historischen Materialismus von Marx mit dem amerikanischen Pragmatismus, der Entwicklungstheorie von Piaget und Kohlberg und der Psychoanalyse von Freud. Zudem beeinflusste er maßgeblich die deutschen Sozialwissenschaften, die Moral- und Sozialphilosophie. Meilensteine waren vor allem seine Theorie des kommunikativen Handelns und, wiederholt inspiriert durch die diskurstheoretische Auseinandersetzung mit Karl-Otto Apel, seine Diskurstheorie der Moral und des Rechts.

Als übergeordnetes Motiv seines multidisziplinären Werks gilt ihm „die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne“.[2] Dazu verfolgt er die Strategie, anders als Apel generell auf Letztbegründungen zu verzichten und „die universalistischen Fragestellungen der Transzendentalphilosophie, bei gleichzeitiger Detranszendentalisierung des Vorgehens und der Beweisziele, aufzunehmen“.[3] Habermas war an allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik beteiligt und bezog zu gesellschaftspolitischen Kontroversen, wie Historikerstreit, Bioethik, deutsche Vereinigung, Europäische Verfassung und Irak-Krieg, mit dem Engagement eines „öffentlichen Intellektuellen“[4] prononciert Stellung.

Obwohl er sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnete, vertritt Habermas in der Gentechnikdebatte eine Position, die sich explizit auf die religiös notwendige Bewahrung der Schöpfung beruft.

"Dass der Menschen-Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben. Dieses Gegenüber in Menschgestalt muss einerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser Andere als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann. Hegel hatte ein Gespür für den Unterschied zwischen göttlicher 'Schöpfung' und dem bloßen 'Hervorgehen' aus Gott. Gott bleibt nur solange ein "Gott freier Menschen", wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebenen. Nur so lange bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt."[5]

System und Lebenswelt

--> Hauptartikel: Jürgen Habermas#Theorie des kommunikativen Handelns (TdkH)

Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich für Habermas „stets im Horizont einer Lebenswelt“ (TdKH, Bd. I, S. 107). „Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“ (TdkH, Bd. II, S. 192). Lebenswelt ist der Komplementärbegriff zu dem des kommunikativen Handelns.

Der von Edmund Husserl erstmals entwickelte und von Alfred Schütz in die Soziologie eingeführte Begriff der Lebenswelt kennzeichnet die Teilnehmerperspektive der handelnden Subjekte. Er weist nach Habermas folgende Charakteristika auf (TdkH, Bd. II, S. 198–202):

  • Die Lebenswelt „ist dem erlebenden Subjekt fraglos gegeben“ und kann „gar nicht problematisch werden“, sondern „allenfalls zusammenbrechen“.
  • Die Lebenswelt verdankt ihre Gewissheit „einem in die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen Apriori“.
  • Die Lebenswelt lässt sich „nicht transzendieren“, sondern bildet „einen nicht hintergehbaren und prinzipiell unerschöpflichen Kontext“.

Habermas fixiert in seiner zweistufigen Gesellschaftstheorie mit den Komponenten „Lebenswelt“ und „System“ die Dualität von symbolischer und materieller Reproduktion der Gesellschaft. Ihr entspricht die Differenzierung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive, da „die Selbsterhaltungsimperative der Gesellschaft (sich) nicht nur in der Teleologie der Handlungen ihrer individuellen Mitglieder, sondern zugleich in den funktionalen Zusammenhängen aggregierter Handlungseffekte durch(setzen)“ (TdkH, Bd. I, S. 533).

Erst in einem Prozess soziokultureller Evolution haben sich symbolische und materielle gesellschaftliche Reproduktion zu selbständigen, autonomen Handlungssphären entkoppelt, indem die Lebenswelt, der logisch und genetisch die primäre Bedeutung zukommt, funktionale Systeme – vornehmlich Wirtschaft (marktregulierte Ökonomie) und Politik (bürokratischer Verwaltungsstaat) – „freisetzte“. Die ausschließliche Betrachtung der Gesellschaft als System, wie sie von Niklas Luhmann und Talcott Parsons vorgenommen wird, verstellt nach Habermas den theoretischen Zugang, „einen vernünftigen Maßstab für eine als Rationalisierung begriffene gesellschaftliche Modernisierung handlungstheoretisch zu begründen“ (TdkH, Bd. II, S. 422f).

Habermas ist der Ansicht, dass der gesellschaftliche Differenzierungsprozess in seinem Verlauf zu einer „Kolonialisierung“ der „Lebenswelt“ durch das „System“ geführt hat. Mit anderen Worten: Durch Ausbildung „generalisierter Steuerungsmedien“ – Geld und Macht – wird die materielle Reproduktion der Gesellschaft nicht nur unabhängig von ihrer kulturellen Reproduktion, sondern dringt auch zunehmend in diese ein. Dieser Prozess ist für Habermas ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. Er unterscheidet drei Entwicklungsstufen:

  1. Traditionale Gesellschaften, in denen die „Lebenswelt“ noch nicht vom „System“ getrennt ist. Gemeint sind damit Gesellschaftsformen, deren materielle Reproduktion noch von ihrer kulturellen Wertsphäre dominiert wird; in denen kulturelle Normen noch entscheidend die Bedingungen materieller Reproduktion beeinflussen.
  2. In der zweiten Stufe, historisch gesehen die Zeit von der Reformation bis zur Industrialisierung, entkoppelt sich das „System“ von der „Lebenswelt“, mit der Folge, dass „Macht“ und „Geld“ als die Steuerungsmedien des „Systems“ den Menschen eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen abgelöste Handlungslogik aufzwingen. Es sind diese Übergriffe des „Systems“ auf die „Lebenswelt“, die Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ charakterisiert.
  3. In der dritten Stufe treten nach Habermas die Konflikte zwischen „System“ und „Lebenswelt“ offen hervor: „Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt.“[6]

Einzelnachweise

  1. Laut Michael Funken ist er „der meistzitierte deutsche Philosoph der Gegenwart, und zwar mit Abstand“ und Ralf Dahrendorf sieht in ihm „den bedeutendsten Intellektuellen meiner Generation“. In: Michael Funken (Hrsg.): Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, S. 7 und 124.
  2. Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, S. 202.
  3. Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 505 f.
  4. Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, S. 130.
  5. Jürgen Habermas "Dank", In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 Jürgen Habermas, ISBN 3-7657-2447-5, S. 54
  6. Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, S. 189.

Werke

  • Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (Dissertation), Bonn 1954. ASIN B0000BIXRS.
  • Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten (zus. mit L. v. Friedeburg, Ch. Oehler und F. Weltz), Luchterhand, Neuwied 1961. ASIN B0000BODJX.
  • Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Habilitationsschrift). Luchterhand, Neuwied 1962. (Neuauflage: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-518-28491-6.)
  • Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied 1963, ISBN 978-3-518-27843-7. (Neuauflage: Suhrkamp Taschenbuch 9, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-518-06509-2.)
  • Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968. (Mit einem neuen Nachwort, 1994, ISBN 3-518-06731-1.)
  • Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1968, ISBN 3-518-10287-7.
  • Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt am Main 1969. Broschiert in 2008: ISBN 978-3-518-41984-7.
  • Zur Logik der Sozialwissenschaften, [zuerst Beiheft 5 der Philosophischen Rundschau, Tübingen 1967] Frankfurt am Main 1970 (5., erw. Aufl. 1982, ISBN 3-518-28117-8.)
  • Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? (zus. mit Niklas Luhmann), Frankfurt am Main 1971, ISBN 978-3-518-06358-3.
  • Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1971. (erw. 1991, ISBN 978-3-518-28259-5.)
  • Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt am Main 1973, ISBN 978-3-518-36625-7.
  • Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-10623-6. Verlagsauskunft und Inhaltsangabe/Kommentar
  • Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-27754-5.
  • Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen. Stuttgart 1978, ISBN 3-15-009902-1.
  • Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-28775-3.
  • Kleine politische Schriften I–IV, Frankfurt am Main 1981, ISBN 978-3-518-56560-5 2001: ISBN 978-3-518-06561-7.
  • Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-28022-8.
  • Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1984, ISBN 978-3-518-28776-7.
  • Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-11321-6.
  • Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-57722-0.
  • Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt am Main 1987, ISBN 978-3-518-11453-7.
  • Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, ISBN 978-3-518-28604-3.
  • Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt am Main 1990, ISBN 978-3-518-11633-3.
  • Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990, ISBN 978-3-379-00658-3.
  • Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3-518-28575-6.
  • Texte und Kontexte, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3-518-28544-2.
  • Vergangenheit als Zukunft? Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, Zürich 1991, ISBN 978-3-85842-251-4.
  • Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-28961-6.
  • Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII,Frankfurt am Main 1995, ISBN 978-3-518-11967-9.
  • Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-29044-4.
  • Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-22233-3.
  • Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998, ISBN 978-3-518-12095-8.
  • Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3-518-29323-2.
  • Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001, ISBN 978-3-518-12262-4.
  • Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001, ISBN 978-3-518-29344-7.
  • Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Reclam Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018164-X.
  • Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-12383-1.
  • Freiheit und Determinismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 52, Heft 6, Seiten 871–890, ISSN (Online) , DOI: 10.1524/dzph.2004.52.6.871, December 2004, Inhaltsangabe; (zum gleichen Thema: Essay "Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr", Frankfurter Allgemeine Zeitung, Abdruck der Rede zum Erhalt des Kyoto-Preises, FAZ Nr.267, 15.11.2004, S.35-36)
  • Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-58447-2.
  • Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt am Main 2008, ISBN 3-518-12551-6.
  • Philosophische Texte, 5 Bände, Studienausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-58515-3. Inhaltsverzeichnis
  • Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-06214-2.
  • Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Suhrkamp, Berlin 2012. ISBN 978-3-518-58581-8.
  • Im Sog der Technokratie. Kleine politische Schriften XII. Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-12671-4

Sekundärliteratur

  • Mosmuller-Crull, Mieke: Ethisch individualisme versus kommunikatief handelen. Kritiek op Habermas' theorie. Deel 1, Baarle-Nassau, Den Haag, Occident Verlag, 1998 (2007), 245 pp., ISBN 90-75240-06-6 Klappentext u. Rezension (Klappentext und Rezension auf niederländisch)
  • Hjalmar Hegge: Freiheit, Individualität und Gesellschaft. Eine philosophische Studie zur menschlichen Existenz, Reihe Logoi, Bd. 10, 1992, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 3772511112 (überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift "Frihet, individualitet og samfunn") Inhaltsverzeichnis
  • Ralf Gleide: Hinter dem Rücken des Subjektes. Zu einem Essay von Jürgen Habermas über Bewusstsein und Freiheit, Die Drei, 1/2005, S. 47-51
  • Diether Lauenstein: Das Ich und die Gesellschaft. Einführung in die philosophische Soziologie im Kontrast zu Max Weber und Jürgen Habermas in der Denkweise Plotins und Fichtes. Freies Geistesleben (Logoi 2), Stuttgart 1974
  • GESIS Habermas-Bibliographie "Literatur zu Jürgen Habermas aus fünf Jahrzehnten", mit Inhaltsangaben, bearbeitet von Maria Zens, 2009 Volltext
  • Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch, J. B. Metzler Vlg., Stuttgart - Weimar 2015

Weitere Literatur siehe Jürgen Habermas - Artikel in der deutschen Wikipedia

Weblinks


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