Martin Basfeld und Staunen: Unterschied zwischen den Seiten

Aus AnthroWiki
(Unterschied zwischen Seiten)
imported>Odyssee
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
imported>Odyssee
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
Zeile 1: Zeile 1:
[[Datei:Basfeld Martin.png|mini|Martin Basfeld]]
'''Staunen''' ({{ELSalt|θαυμάζειν}} ''thaumazein'') bzw. '''Verwunderung''' ist die [[Seele|seelische]] Grundlage für alles [[Erkenntnis]]streben. Durch das tiefe '''Erstauenen''' über etwas, das als bisher unhinterfragtes [[Wissen]] völlig selbstverständlich schien, eröffnet sich der [[geist]]ige Blick auf bislang unentdeckte [[Wahrheit]]en.


'''Martin Basfeld''' (* [[Wikipedia:1956|1956]]) ist ein [[Wikipedia:Deutschland|deutscher]] [[Physik]]er, [[Anthroposoph]], [[Waldorflehrer]] und [[Wikipedia:Autor|Autor]].
{{GZ|Gerade die entwickelteren
Seelen sind es, die sich immer mehr und mehr verwundern können. Je
weniger man sich verwundern kann, desto weniger vorgerückt ist die
betreffende Seele.|143|70}}


Basfeld absolvierte ein Studium der Diplom-Physik an der [[Wikipedia:Universität Göttingen|Universität Göttingen]] und promovierte am [[Wikipedia:Max-Planck-Institut für Strömungsforschung|Max-Planck-Institut für Strömungsforschung]] in [[Wikipedia:Göttingen|Göttingen]]. Während des Studiums arbeitete er sich in die [[Anthroposophie]] [[Rudolf Steiner]]s ein. Von 1983 - 1996 war Basfeld wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich von Hardenberg Institut für Kulturwissenschaften in [[Wikipedia:Heidelberg|Heidelberg]]. Von 1996 - 2002 arbeitete er als Oberstufenlehrer für Physik und Mathematik an der Waldorfschule Karlsruhe. Seit 2002 lehrt Basfeld an der Freien Hochschule Mannheim Didaktik der Physik und anthroposophische Grundlagen der [[Waldorfpädagogik]]. Basfeld ist Autor mehrerer Bücher zur Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Physik.
[[Platon]] und [[Aristoteles]] sehen im Erstaunen den Anfang aller [[Philosophie]].


== Werke ==
{{Zitat|Μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη.|Übersetzung=Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.|Platon|[[Theaitetos]] ''155 d''}}


* ''Wärme: Ur-Materie und Ich-Leib: Beiträge zur Anthropologie und Kosmologie.'', Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1998, ISBN 978-3-7725-1630-6
== Staunen und Astralleib ==
* ''Erkenntnis des Geistes an der Materie. Der Entwicklungsursprung der Physik.'' Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-7725-1122-6
* ''Wie Denken uns zu Menschen macht. Vom selbstständigen Umgang mit der Anthroposophie – Rudolf Steiners Geheimwissenschaft im Umriss.'' Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-7725-1880-5
* ''Einsicht in Wiederverkörperung und Schicksal'', (gemeinsam mit  Wolf-Ulrich Klünker und Angelika Sandtman), Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-7725-1171-4


[[Kategorie:Mann]] [[Kategorie:Physiker]] [[Kategorie:Anthroposoph]] [[Kategorie:Waldorflehrer]]
{{GZ|Aus einem schönen Instinkte heraus haben die alten griechischen Philosophen
schon gesagt: Die Philosophie nimmt ihren Ausgangspunkt vom
Staunen, von der Verwunderung. - Was ist dieses Staunen, diese Verwunderung?
Es gibt ein solches Verhältnis gegenüber den Erscheinungen,
die uns entgegentreten, daß wir in Verwunderung, in Staunen
hineinkommen. Dann kommt manchmal anstelle des Staunens etwas
anderes, in das sich nicht mehr Staunen und Verwunderung hineinmischt.
Das ist nämlich dann der Fall, wenn wir anfangen, die betreffenden
Tatsachen zu verstehen. Wir wollen jetzt die Frage aufwerfen:
Wie ist es eigentlich mit diesem Staunen, mit dieser Verwunderung?
Wir treten einer Erscheinung gegenüber, sie ringt uns Verwunderung
ab. Es kann kein Verhältnis sein zum Verstände, zur Intelligenz, denn
diese suchen Verständnis, leben sich nicht in Verwunderung aus. Es ist
ein viel unmittelbareres Verhältnis. Das Verständnis muß sich mit den
einzelnen Teilen befassen; die Verwunderung tritt unmittelbar auf, der
ganzen Sache gegenüber. Das kommt daher, daß beim Verständnis das
Ich zur Sache in Beziehung steht, beim Erstaunen aber steht der Astralleib
der Sache gegenüber. Der hat nicht das volle Bewußtsein, sondern
eine Art von Unterbewußtsein. Wenn der Astralleib eine Beziehung
hat zur Sache und diese Beziehung sich noch nicht heraufhebt zum Ich,
so tritt Verwunderung ein. Dadurch, daß der Mensch erstaunen kann
über eine Sache, ist es möglich, eine unter der Schwelle des Bewußtseins
liegende Verbindung mit dem Gegenstand einzugehen. Dies ist in vielen
Fällen sehr wichtig, diese unterbewußte Verbindung, wie es für die
Philosophie nach der Auffassung der alten Griechen wichtig ist, daß
erst Verwunderung da ist.|127|37f}}
 
== Das Stauenen im Zusammenhang mit dem vorgeburtlichen und nachtodlichen Leben ==
 
{{GZ|Wenn nun gerade der vorgerückte Mensch den Drang hat, sich vieles
zu erklären, sich Alltägliches zu erklären, weil er auch über Alltägliches
zu staunen vermag, so setzt das in gleicher Weise voraus, daß er früher
die Sache anders gesehen hat. Niemand würde zu einer anderen Erklärung
des Sonnenaufganges gekommen sein als eben zu derjenigen des bloßen
Augenscheines, daß die Sonne aufgeht, wenn nicht in seiner Seele
die Empfindung liegt, daß er es früher anders gesehen habe. Aber, so
könnte man einwenden, den Sonnenaufgang sehen wir doch von frühester
Jugend an in der gleichen Weise sich abspielen, und wäre es da nicht
geradezu tölpelhaft, darüber in Erstaunen zu geraten? - Dafür gibt es
keine andere Erklärung als diese, daß, wenn wir dennoch darüber in
Erstaunen geraten, wir es früher in einem anderen Zustande einmal
anders erlebt haben müssen als heute, als jetzt in diesem Leben. Denn
wenn eben die Geisteswissenschaft sagt, daß der Mensch zwischen der
Geburt und einem vorhergehenden Leben in einem anderen Zustand
vorhanden war, so haben wir in der Tatsache des Erstaunens über einen
so alltäglichen Vorgang wie denjenigen des gewohnten Sonnenaufgangs
nichts anderes als einen Hinweis auf diesen früheren Zustand, in welchem
der Mensch auch diesen Sonnenaufgang wahrgenommen hat, aber in
einer anderen Weise, ohne körperliche Organe. Da hat er alles dieses mit
Geistesaugen und mit Geistesohren wahrgenommen. Und in dem Augenblicke,
wo er dunkel fühlend sich sagt: Du stehst gegenüber der
aufgehenden Sonne, gegenüber dem brausenden Meer, gegenüber der
sprossenden Pflanze, und du bist erstaunt! - liegt in dem Erstaunen die
Erkenntnis, es einmal anders wahrgenommen zu haben als mit dem
leiblichen Auge. Es sind eben seine geistigen Organe, mit denen er das
geschaut hatte, bevor er hereingetreten ist in die physische Welt. Er
fühlt nun dunkel, daß es doch anders ausschaut, als er es früher gesehen
hat. Das war und kann nur gewesen sein vor der Geburt. Diese Tatsachen
nötigen uns anzuerkennen, daß eine Erkenntnis überhaupt nicht
möglich wäre, wenn der Mensch in dieses Leben nicht aus einem
vorhergehenden übersinnlichen Dasein einträte. Sonst gäbe es keine
Erklärung für das Staunen und für die dadurch bedingte Erkenntnis.
Natürlich erinnert sich der Mensch nicht in klaren Vorstellungen an
das, was er vorgeburtlich anders erlebte, aber wenn es auch gedanklich
nicht klar ist, so tritt es eben im Gefühl auf. Nur durch die Einweihung
kann es als klare Erinnerung mitgebracht werden.|143|63f}}
 
{{GGZ|Es gibt Theoretiker, die der Ansicht sind, daß das, was wir uns an
Begriffen von Wolf und Lamm bilden, nur in uns lebe, und daß das mit
dem Wolf und dem Lamm selbst nichts zu tun habe. Einen Mann, der
solches behauptet, sollte man veranlassen, einen Wolf so lange Zeit mit
Lämmern zu füttern, bis nach wissenschaftlichen Forschungen alle
materiellen Teilchen des Wolfskörpers sich erneuert haben, der Wolf
also ganz aus Lamm-Materie aufgebaut sei. Und nun sollte dieser
Mann einmal sehen, ob aus dem Wolf ein Lamm geworden ist! Wenn
es sich herausstellt, daß der Wolf kein Lamm geworden ist, so ist
erwiesen, daß das, was Objekt «Wolf» ist, sich unterscheidet von dem
materiellen Wolf, und daß das Objektive am Wolfe über das Materielle
hinausgeht.
 
Dieses Unsichtbare, was man sich im gewöhnlichen Leben nur als
einen Begriff bildet, das sieht man nach dem Tode. Nicht die weiße
Farbe des Lammes sieht man da und nicht die Töne, die das Lamm von
sich gibt, hört man da, sondern das schaut man, was als das unsichtbar
Waltende im Lamme wirkt, das ebenso wirklich ist und das da ist für
den, der in der geistigen Welt lebt. An derselben Stelle, an der das
Lamm steht, steht auch ein real Geistiges, das man dann nach dem
Tode sieht. Und so ist es mit allen Erscheinungen der physischen
Umwelt. Man sieht die Sonne anders, den Mond anders, alles anders;
und davon bringt man etwas mit, wenn man durch die Geburt ins neue
Dasein tritt. Und wenn einen hierdurch dann die Empfindung ergreift,
man habe das einmal ganz anders gesehen, dann kommt mit dem
Staunen, mit der Verwunderung die Erkenntnis herunter.|143|67}}
 
== Die soziale Bedeutung des Erstaunens ==
 
{{GZ|Es ist gut für die Menschen, daß sie, bevor sie ihre Intelligenz auf
eine Sache anwenden, erst ihren Astralleib über die Sache ausbreiten.
Dadurch wird eine Gefühls- und Gemütsbasis geschaffen, und in diese
wird dann das Verständnis eingetaucht. Das ist etwas ganz anderes, als
wenn wir gleich mit dem Verstände abstrakt an die Sache herangehen.
Das bewirkt, daß wir auf einer viel breiteren Basis des Verständnisses
arbeiten. Ein vollsaftigeres Verständnis ist die Folge. Deshalb ist es so
wichtig für den Erzieher, daß er erst das heilige Staunen entwickle
gegenüber dem Kinde, gegenüber der einzelnen Individualität, die wie
aus dem Dunkel herauftaucht; wenn wir uns offenhalten das, was wir
mit der Intelligenz gar nicht überschauen können: die Unendlichkeit
einer Individualität. Wir versetzen uns künstlich dieser Individualität
gegenüber in die Verwunderung. Sie wird schon kommen, denn es gibt
reichlich Gelegenheit zur Verwunderung und zum Staunen einer jeden
Individualität gegenüber. Diese Gefühle sind nicht verdorben durch
unseren engeren Intellekt, sie sind manchmal viel sicherer, reicher,
richtiger als das durch den engen Intellekt Erkannte. Die Grundlagen
für die auf das praktische Leben anwendbaren Erkenntnisse sind
durch Staunen, durch das Gemütsleben zu gewinnen. Etwas sehr Wichtiges
beruht hierauf: das Vertrauen, welches ein Mensch zum anderen
Menschen hat. Wie oft kommt es vor im Leben, daß ein Mensch zum
anderen Vertrauen oder auch Mißtrauen hat - denn das Negative gilt
wie das Positive - , bevor er dem Menschen erst in Begriffen, im Alltagsverstande
entgegengetreten ist, Vertrauen und Mißtrauen treten
manchmal ganz unmittelbar auf. Wieviele Menschen gibt es, die oft in
eine Art Klage ausbrechen: Hätte ich doch meinem ersten Eindrucke
getraut! Den wahren Eindruck, den ich vorher geahnt habe, habe ich
mir verdorben. - Solche Menschen haben manchmal sehr recht. Aus
dem Gemütsleben sollte unser soziales Verhältnis, unsere Beziehung
zum Leben herauswachsen. Es gibt Menschen, die nicht viel Anlage
dazu haben, dieses Unbestimmte, Ahnungsvolle an den Menschen zu
empfinden. Es gibt Menschen, die stundenlang den Blick staunend zum
Sternenhimmel richten können, ohne viel Astronomie zu verstehen,
und es gibt andere, die wie ein Stock dem Sternenhimmel gegenüber
bleiben, bis sie Bücher in die Hand bekommen, durch die sie sich das
alles zergliedern können. Das sind die Menschen, welche diese Gemütsgrundlage
nicht haben können. Solche Menschen gehen auch wie
Stöcke oft an den Menschen vorbei, bis sie genügend Zeit gehabt
haben, sich den Menschen zu zergliedern.|127|38f}}
 
== Das Erstaunen als Astralleib des in der Menschheitsentwicklung fortwirkenden Christus-Impulses ==
Eine noch tiefere Bedeutung kommt dem Erstaunen-Können seit dem [[Mysterium von Golgatha]] zu. Seit der [[Jordan-Taufe]] lebte der [[Christus]] in den [[Leibeshüllen]] des [[Jesus von Nazareth]], also in dessen [[Astralleib]], [[Ätherleib]] und [[Physischer Leib|physischem Leib]]. Mit dem [[Kreuzestod]] legte er diese Hüllen ab. Von da an bis zum Ende der [[Erdentwicklung]] bilden sich seine neuen Hüllen aus dem, was die [[Mensch]]en an Erstaunen, an [[Liebe]] und [[Mitleid]] und als [[Gewissen]] entwickeln. Aus dem Staunen der Menschen wird der neue Astralleib des Christus gewoben, aus Liebe und Mitleid sein neuer Ätherleib und aus den Gewissenskräften entsteht sein neuer physischer Leib.
 
{{GZ|Aus dem, was nur aus der Erde
genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwickelung,
die mit dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde
auslebt seit dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen
oder Verwunderung über die Dinge, alles was in uns leben kann als
Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an den Christus heran
und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in
den Menschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den
ätherischen Leib des Christus-Impulses, und was als Gewissen in den
Menschen lebt und sie beseelt, von dem Mysterium von Golgatha bis
zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oder das, was ihm
entspricht, für den Christus-Impuls.|133|113f}}
 
== Literatur ==
 
#Rudolf Steiner: ''Die Mission der neuen Geistesoffenbarung'', [[GA 127]] (1989), ISBN 3-7274-1270-4 {{Vorträge|127}}
#Rudolf Steiner: ''Der irdische und der kosmische Mensch'', [[GA 133]] (1989), ISBN 3-7274-1330-1 {{Vorträge|133}}
#Rudolf Steiner: ''Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus'', [[GA 143]] (1994), ISBN 3-7274-1430-8 {{Vorträge|143}}
 
{{GA}}
 
[[Kategorie:Menschheitsentwicklung]] [[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Ethik]] [[Kategorie:Christus]] [[Kategorie:Seelenleben]]

Version vom 23. Dezember 2016, 20:36 Uhr

Staunen (griech. θαυμάζειν thaumazein) bzw. Verwunderung ist die seelische Grundlage für alles Erkenntnisstreben. Durch das tiefe Erstauenen über etwas, das als bisher unhinterfragtes Wissen völlig selbstverständlich schien, eröffnet sich der geistige Blick auf bislang unentdeckte Wahrheiten.

„Gerade die entwickelteren Seelen sind es, die sich immer mehr und mehr verwundern können. Je weniger man sich verwundern kann, desto weniger vorgerückt ist die betreffende Seele.“ (Lit.:GA 143, S. 70)

Platon und Aristoteles sehen im Erstaunen den Anfang aller Philosophie.

„Μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη.“

„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Platon: Theaitetos 155 d

Staunen und Astralleib

„Aus einem schönen Instinkte heraus haben die alten griechischen Philosophen schon gesagt: Die Philosophie nimmt ihren Ausgangspunkt vom Staunen, von der Verwunderung. - Was ist dieses Staunen, diese Verwunderung? Es gibt ein solches Verhältnis gegenüber den Erscheinungen, die uns entgegentreten, daß wir in Verwunderung, in Staunen hineinkommen. Dann kommt manchmal anstelle des Staunens etwas anderes, in das sich nicht mehr Staunen und Verwunderung hineinmischt. Das ist nämlich dann der Fall, wenn wir anfangen, die betreffenden Tatsachen zu verstehen. Wir wollen jetzt die Frage aufwerfen: Wie ist es eigentlich mit diesem Staunen, mit dieser Verwunderung? Wir treten einer Erscheinung gegenüber, sie ringt uns Verwunderung ab. Es kann kein Verhältnis sein zum Verstände, zur Intelligenz, denn diese suchen Verständnis, leben sich nicht in Verwunderung aus. Es ist ein viel unmittelbareres Verhältnis. Das Verständnis muß sich mit den einzelnen Teilen befassen; die Verwunderung tritt unmittelbar auf, der ganzen Sache gegenüber. Das kommt daher, daß beim Verständnis das Ich zur Sache in Beziehung steht, beim Erstaunen aber steht der Astralleib der Sache gegenüber. Der hat nicht das volle Bewußtsein, sondern eine Art von Unterbewußtsein. Wenn der Astralleib eine Beziehung hat zur Sache und diese Beziehung sich noch nicht heraufhebt zum Ich, so tritt Verwunderung ein. Dadurch, daß der Mensch erstaunen kann über eine Sache, ist es möglich, eine unter der Schwelle des Bewußtseins liegende Verbindung mit dem Gegenstand einzugehen. Dies ist in vielen Fällen sehr wichtig, diese unterbewußte Verbindung, wie es für die Philosophie nach der Auffassung der alten Griechen wichtig ist, daß erst Verwunderung da ist.“ (Lit.:GA 127, S. 37f)

Das Stauenen im Zusammenhang mit dem vorgeburtlichen und nachtodlichen Leben

„Wenn nun gerade der vorgerückte Mensch den Drang hat, sich vieles zu erklären, sich Alltägliches zu erklären, weil er auch über Alltägliches zu staunen vermag, so setzt das in gleicher Weise voraus, daß er früher die Sache anders gesehen hat. Niemand würde zu einer anderen Erklärung des Sonnenaufganges gekommen sein als eben zu derjenigen des bloßen Augenscheines, daß die Sonne aufgeht, wenn nicht in seiner Seele die Empfindung liegt, daß er es früher anders gesehen habe. Aber, so könnte man einwenden, den Sonnenaufgang sehen wir doch von frühester Jugend an in der gleichen Weise sich abspielen, und wäre es da nicht geradezu tölpelhaft, darüber in Erstaunen zu geraten? - Dafür gibt es keine andere Erklärung als diese, daß, wenn wir dennoch darüber in Erstaunen geraten, wir es früher in einem anderen Zustande einmal anders erlebt haben müssen als heute, als jetzt in diesem Leben. Denn wenn eben die Geisteswissenschaft sagt, daß der Mensch zwischen der Geburt und einem vorhergehenden Leben in einem anderen Zustand vorhanden war, so haben wir in der Tatsache des Erstaunens über einen so alltäglichen Vorgang wie denjenigen des gewohnten Sonnenaufgangs nichts anderes als einen Hinweis auf diesen früheren Zustand, in welchem der Mensch auch diesen Sonnenaufgang wahrgenommen hat, aber in einer anderen Weise, ohne körperliche Organe. Da hat er alles dieses mit Geistesaugen und mit Geistesohren wahrgenommen. Und in dem Augenblicke, wo er dunkel fühlend sich sagt: Du stehst gegenüber der aufgehenden Sonne, gegenüber dem brausenden Meer, gegenüber der sprossenden Pflanze, und du bist erstaunt! - liegt in dem Erstaunen die Erkenntnis, es einmal anders wahrgenommen zu haben als mit dem leiblichen Auge. Es sind eben seine geistigen Organe, mit denen er das geschaut hatte, bevor er hereingetreten ist in die physische Welt. Er fühlt nun dunkel, daß es doch anders ausschaut, als er es früher gesehen hat. Das war und kann nur gewesen sein vor der Geburt. Diese Tatsachen nötigen uns anzuerkennen, daß eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre, wenn der Mensch in dieses Leben nicht aus einem vorhergehenden übersinnlichen Dasein einträte. Sonst gäbe es keine Erklärung für das Staunen und für die dadurch bedingte Erkenntnis. Natürlich erinnert sich der Mensch nicht in klaren Vorstellungen an das, was er vorgeburtlich anders erlebte, aber wenn es auch gedanklich nicht klar ist, so tritt es eben im Gefühl auf. Nur durch die Einweihung kann es als klare Erinnerung mitgebracht werden.“ (Lit.:GA 143, S. 63f)

„Es gibt Theoretiker, die der Ansicht sind, daß das, was wir uns an Begriffen von Wolf und Lamm bilden, nur in uns lebe, und daß das mit dem Wolf und dem Lamm selbst nichts zu tun habe. Einen Mann, der solches behauptet, sollte man veranlassen, einen Wolf so lange Zeit mit Lämmern zu füttern, bis nach wissenschaftlichen Forschungen alle materiellen Teilchen des Wolfskörpers sich erneuert haben, der Wolf also ganz aus Lamm-Materie aufgebaut sei. Und nun sollte dieser Mann einmal sehen, ob aus dem Wolf ein Lamm geworden ist! Wenn es sich herausstellt, daß der Wolf kein Lamm geworden ist, so ist erwiesen, daß das, was Objekt «Wolf» ist, sich unterscheidet von dem materiellen Wolf, und daß das Objektive am Wolfe über das Materielle hinausgeht.

Dieses Unsichtbare, was man sich im gewöhnlichen Leben nur als einen Begriff bildet, das sieht man nach dem Tode. Nicht die weiße Farbe des Lammes sieht man da und nicht die Töne, die das Lamm von sich gibt, hört man da, sondern das schaut man, was als das unsichtbar Waltende im Lamme wirkt, das ebenso wirklich ist und das da ist für den, der in der geistigen Welt lebt. An derselben Stelle, an der das Lamm steht, steht auch ein real Geistiges, das man dann nach dem Tode sieht. Und so ist es mit allen Erscheinungen der physischen Umwelt. Man sieht die Sonne anders, den Mond anders, alles anders; und davon bringt man etwas mit, wenn man durch die Geburt ins neue Dasein tritt. Und wenn einen hierdurch dann die Empfindung ergreift, man habe das einmal ganz anders gesehen, dann kommt mit dem Staunen, mit der Verwunderung die Erkenntnis herunter.“ (S. 67)

Die soziale Bedeutung des Erstaunens

„Es ist gut für die Menschen, daß sie, bevor sie ihre Intelligenz auf eine Sache anwenden, erst ihren Astralleib über die Sache ausbreiten. Dadurch wird eine Gefühls- und Gemütsbasis geschaffen, und in diese wird dann das Verständnis eingetaucht. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir gleich mit dem Verstände abstrakt an die Sache herangehen. Das bewirkt, daß wir auf einer viel breiteren Basis des Verständnisses arbeiten. Ein vollsaftigeres Verständnis ist die Folge. Deshalb ist es so wichtig für den Erzieher, daß er erst das heilige Staunen entwickle gegenüber dem Kinde, gegenüber der einzelnen Individualität, die wie aus dem Dunkel herauftaucht; wenn wir uns offenhalten das, was wir mit der Intelligenz gar nicht überschauen können: die Unendlichkeit einer Individualität. Wir versetzen uns künstlich dieser Individualität gegenüber in die Verwunderung. Sie wird schon kommen, denn es gibt reichlich Gelegenheit zur Verwunderung und zum Staunen einer jeden Individualität gegenüber. Diese Gefühle sind nicht verdorben durch unseren engeren Intellekt, sie sind manchmal viel sicherer, reicher, richtiger als das durch den engen Intellekt Erkannte. Die Grundlagen für die auf das praktische Leben anwendbaren Erkenntnisse sind durch Staunen, durch das Gemütsleben zu gewinnen. Etwas sehr Wichtiges beruht hierauf: das Vertrauen, welches ein Mensch zum anderen Menschen hat. Wie oft kommt es vor im Leben, daß ein Mensch zum anderen Vertrauen oder auch Mißtrauen hat - denn das Negative gilt wie das Positive - , bevor er dem Menschen erst in Begriffen, im Alltagsverstande entgegengetreten ist, Vertrauen und Mißtrauen treten manchmal ganz unmittelbar auf. Wieviele Menschen gibt es, die oft in eine Art Klage ausbrechen: Hätte ich doch meinem ersten Eindrucke getraut! Den wahren Eindruck, den ich vorher geahnt habe, habe ich mir verdorben. - Solche Menschen haben manchmal sehr recht. Aus dem Gemütsleben sollte unser soziales Verhältnis, unsere Beziehung zum Leben herauswachsen. Es gibt Menschen, die nicht viel Anlage dazu haben, dieses Unbestimmte, Ahnungsvolle an den Menschen zu empfinden. Es gibt Menschen, die stundenlang den Blick staunend zum Sternenhimmel richten können, ohne viel Astronomie zu verstehen, und es gibt andere, die wie ein Stock dem Sternenhimmel gegenüber bleiben, bis sie Bücher in die Hand bekommen, durch die sie sich das alles zergliedern können. Das sind die Menschen, welche diese Gemütsgrundlage nicht haben können. Solche Menschen gehen auch wie Stöcke oft an den Menschen vorbei, bis sie genügend Zeit gehabt haben, sich den Menschen zu zergliedern.“ (Lit.:GA 127, S. 38f)

Das Erstaunen als Astralleib des in der Menschheitsentwicklung fortwirkenden Christus-Impulses

Eine noch tiefere Bedeutung kommt dem Erstaunen-Können seit dem Mysterium von Golgatha zu. Seit der Jordan-Taufe lebte der Christus in den Leibeshüllen des Jesus von Nazareth, also in dessen Astralleib, Ätherleib und physischem Leib. Mit dem Kreuzestod legte er diese Hüllen ab. Von da an bis zum Ende der Erdentwicklung bilden sich seine neuen Hüllen aus dem, was die Menschen an Erstaunen, an Liebe und Mitleid und als Gewissen entwickeln. Aus dem Staunen der Menschen wird der neue Astralleib des Christus gewoben, aus Liebe und Mitleid sein neuer Ätherleib und aus den Gewissenskräften entsteht sein neuer physischer Leib.

„Aus dem, was nur aus der Erde genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwickelung, die mit dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde auslebt seit dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen oder Verwunderung über die Dinge, alles was in uns leben kann als Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an den Christus heran und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in den Menschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den ätherischen Leib des Christus-Impulses, und was als Gewissen in den Menschen lebt und sie beseelt, von dem Mysterium von Golgatha bis zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oder das, was ihm entspricht, für den Christus-Impuls.“ (Lit.:GA 133, S. 113f)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Die Mission der neuen Geistesoffenbarung, GA 127 (1989), ISBN 3-7274-1270-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Der irdische und der kosmische Mensch, GA 133 (1989), ISBN 3-7274-1330-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus, GA 143 (1994), ISBN 3-7274-1430-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.