Spontanzeugung und Pierre Gassendi: Unterschied zwischen den Seiten

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'''Spontanzeugung''' ({{ELSalt|γένεσις αὐτόματος}} ''génesis autómatos''; [[lat.]] ''generatio spontanea'')oder '''Urzeugung''', auch ''Abiogenese'' oder ''Archigenese'' genannt, bezeichnet die [[Hypothese]] einer Entstehung von [[Lebewesen]] aus unbelebter [[Materie]].
[[Datei:PierreGassendi.jpg|mini|Pierre Gassendi]]


== Begriffsentwicklung ==
'''Pierre Gassendi''' (auch ''Pierre Gassend'', lateinisch ''Petrus Gassendi''; * [[Wikipedia:22. Januar|22. Januar]] [[Wikipedia:1592|1592]] in [[Wikipedia:Champtercier|Champtercier]], [[Wikipedia:Provence|Provence]]; † [[Wikipedia:24. Oktober|24. Oktober]] [[Wikipedia:1655|1655]] in [[Wikipedia:Paris|Paris]]) war ein französischer [[Theologe]], [[Naturwissenschaft]]ler, [[Philosoph]] und [[Astronom]] und stand als solcher im reger Korrespondenz mit [[Galileo Galilei]] und [[Wikipedia:Christoph Scheiner|Christoph Scheiner]]. Seine engsten Vertrauten waren der Astronom und Gelehrte [[Wikipedia:Nicolas-Claude Fabri de Peiresc|Nicolas-Claude Fabri de Peiresc]] und der [[Mathematik]]er und Theologe [[Wikipedia:Marin Mersenne|Marin Mersenne]].
=== Antike ===
In der [[Antike]] nahm man an, dass es sich bei der Urzeugung um einen normalen biologischen Vorgang handle, der sich ständig überall abspiele. In diesem Sinne betrachtete [[Aristoteles]] die „spontane Erzeugung“ ({{ELSalt|γένεσις αὐτόματος}}) als die dritte Art der Entstehung von Lebewesen neben der sexuellen und der vegetativen Fortpflanzung, die man vor allem in der vermeintlichen Entstehung von [[Larve|Insektenlarven]] und anderen [[Gliederfüßer]]n aus [[Fäulnis|fauliger]] oder schmutziger Materie bestätigt sah. An seine Lehre knüpfte die mittelalterliche Biologie an, die meist von einer ''generatio ex putrefactione'' ([[lat.]], „Entstehung aus Fäulnis“) sprach.  


=== Mittelalter ===
Gassendi lehnte den von [[Descartes]] vertretenen [[Dualismus]] ab und begründete eine rein [[Materialismus|materialistische]] Lehre, mit der er an den [[Atomismus]] von [[Epikur]] anknüpfte. Daraus leitete er auch die Möglichkeit einer [[Spontanzeugung]] ab, indem er die Existenz von [[Lebewesen]] auf für das Leben geeigneten Atomkombinationen zurückführte, die sich auch außerhalb eines bereits existierenden Körpers ergeben könnten. Daher könne neues Leben grundsätzlich auch aus unbelebter Materie entstehen.<ref>Hasse: ''Urzeugung und Weltbild.'' 2006, S. 9.</ref>
[[Avicenna]] ging im [[Wikipedia:11. Jahrhundert|11. Jahrhundert]] davon aus, dass die Materie unablässig von einem immateriellen „Geber der Formen“ geformt werde. Dieser Vorgang könne sich auch außerhalb eines [[Lebewesen]]s als Spontanzeugung abspielen. Im [[Wikipedia:12. Jahrhundert|12. Jahrhundert]] sah [[Averroes]] die Ursache der spontanen Erzeugung im Einfluss der [[Gestirn]]e. Da er an dem aristotelische Grundsatz festhielt, dass in der Natur Gleiches nur aus Gleichem entstehen könne, sah er diesen Vorgang aber als widernatürlich an. Im [[Wikipedia:13. Jahrhundert|13. Jahrhundert]] schloss sich [[Thomas von Aquin]] dieser Theorie an und meinte, dass bei der Spontanzeugung die Kraft der Sonne und der anderen Himmelskörper an die Stelle der formenden Kraft trete, deren Träger bei geschlechtlicher Fortpflanzung der Same sei. Im Gegensatz zu Averroes hielt er aber die so entstandenen Lebewesen nicht für widernatürlich.


=== Neuzeit ===
== Schriften ==
In der frühen [[Neuzeit]] wurde die Spontanzeugung sogar als Alternative zum biblischen Bericht von der Erschaffung des ersten Menschen [[Adam und Eva|Adam]] in Betracht gezogen. So vertrat Tiberio Russiliano im frühen [[Wikipedia:16. Jahrhundert|16. Jahrhundert]] die Ansicht, dass die Ureinwohner Amerikas durch Urzeugung entstanden sein müssten, da sie ihre Siedlungsgebiete nicht auf Booten hätten erreichen können. Wenn man die Frage naturphilosophisch (''phisice'', also nicht theologisch) betrachte, sei dies auch für den ersten Menschen auf der Erde anzunehmen.<ref>Hasse: ''Urzeugung und Weltbild.'' 2006, S. 8 f., 34.</ref>
* ''Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos'' (1624)
 
* ''Epistolica Exercitatio, in qua precipua principia philosophiae Roberti Fluddi deteguntur'' (1631), Streitschrift gegen Robert Fludd
Im [[Wikipedia:17. Jahrhundert|17. Jahrhundert]] erklärte [[Pierre Gassendi]] die Spontanzeugung im Rahmen seines [[Materialismus|materialistischen]] [[Atomismus]]. Er führte die Existenz von Lebewesen auf das Vorliegen einer für das Leben geeigneten Atomkombination zurück; eine solche Kombination sei nicht nur im Körper eines bereits existierenden, sich fortpflanzenden Wesens möglich, sondern grundsätzlich auch außerhalb. Daher könne neues Leben auch in der Erde aus unbelebter Materie entstehen.<ref>Hasse: ''Urzeugung und Weltbild.'' 2006, S. 9.</ref>
* ''Disquisitiones Anticartesianae'' (1643)
 
* ''Disquisitio metaphysica'' (1644), Streitschrift gegen Descartes
Im Gegensatz dazu stand der ebenfalls im 17. Jahrhundert entwickelte Grundsatz {{" |lang=la |Text=Omne animal ex ovo |Übersetzung=Jedes Tier ist aus einem Ei entstanden}}. Hauptvertreter dieser Anschuung war [[Francesco Redi]] (1626–1697). Mittels eines Experiments widerlegte er 1668 die verbreitete Ansicht, dass [[Made]]n in [[Fäulnis|verfaulendem]] Fleisch spontan entstehen. Er nahm drei Töpfe und füllte sie mit Fleisch. Einen Topf schloss er vollständig ab. Den zweiten Topf ließ er offen und den dritten Topf bedeckte er mit [[Gaze]]. Maden erschienen nur in dem offenen, aber nicht in dem verschlossenen Topf. Auf der Gaze des dritten Topfs fand er sich entwickelnde Maden. Die Eier der Fliegen waren wegen ihrer Kleinheit mit bloßem Auge nicht erkennbar. Im selben Jahr publizierte Redi die Abhandlung ''Esperienze intorno alla generazione degli insetti''.<ref>Francesco Redi: ''[[s:it:Esperienze intorno alla generazione degl'insetti|Esperienze intorno alla generazione degli insetti]]'' in der italienischsprachigen [[Wikisource]].</ref>
* ''De vita, moribus et placitis Epicuri'' (1647)
 
* ''Syntagma philosophiae Epicurii'' (1649)
Nach der Entdeckung verschiedener [[Mikroorganismus|Mikroorganismen]] wurde die Urzeugungstheorie neu belebt. [[Johann Gottfried Herder]] verwendete in seiner Schrift ''Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts'' (1774) die Bezeichnung „Urerzeugung“. Als Fachbegriff wurde die „Urzeugung“ von [[Wikipedia:Samuel Thomas von Soemmerring|Samuel Thomas von Soemmerring]] und [[Friedrich Wilhelm Joseph Schelling]] eingeführt.
* ''Tychonis Brahei, equitis Dani, Astronomorum Coryphaei, vita. Accessit Nicolai Copernici, Georgii Peurbachii, & Joannis Regiomontani, Astronomorum celebrium, vita'' (1655)[http://books.google.com/books?id=SQAVAAAAQAAJ&source=gbs_navlinks_s online]
 
* ''Syntagma philosophicum'' (1658)
Seit dem späten [[Wikipedia:18. Jahrhundert|18. Jahrhundert]] gilt die Theorie der Urzeugung als widerlegt. Im 19. Jahrhundert zeigte u.&nbsp;a. [[Wikipedia:Louis Pasteur#Die spontane Entstehung von Leben|Experimente von Louis Pasteur]] 1861, dass auch Mikroorganismen keine Spontanzeugung zeigen und veröffentlichte 1864 den Grundsatz ''Omne vivum e vivo'' ([[Latein|lat.]] für ‚Alles Lebende entsteht aus Lebendem‘).
 
Einen Sonderfall bildet die moderne Hypothese der [[Chemische Evolution|chemischen Evolution]], die sich auf die spontane Entstehung des [[Leben]]s vor Beginn der biologischen Evolution bezieht. Als Voraussetzung dafür gilt die vor ca. 4 Milliarden Jahren vorhandene, reduzierende [[Erdatmosphäre]]. Nach allgemeiner Auffassung handelt es sich dabei um einen Prozess der [[Emergenz]] und [[Selbstorganisation]]. Das berühmte [[Wikipedia:Miller-Urey-Experiment|Miller-Urey-Experiment]] zeigte erste Schritte der Erzeugung der [[Aminosäuren]], die als „Lebensbausteine“ gelten. In der heutigen [[sauerstoff]]reichen Atmosphäre ist eine solche Spontanzeugung nicht mehr möglich.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==


* {{WikipediaDE|Spontanzeugung}}
* {{WikipediaDE|Pierre Gassendi}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* John Farley: ''The Spontaneous Generation Controversy from Descartes to Oparin.'' Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u.&nbsp;a. 1977, ISBN 0-8018-1902-4.
* [[Wikipedia:Eduard Jan Dijksterhuis|Eduard Jan Dijksterhuis]]: ''Die Mechanisierung des Weltbildes.'' Reprint der Ausgabe 1956. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1983, ISBN 3-540-02003-9
* [[Wikipedia:Dag Nikolaus Hasse|Dag Nikolaus Hasse]]: ''Urzeugung und Weltbild. Aristoteles – Ibn Ruschd – Pasteur.'' Olms, Hildesheim u.&nbsp;a. 2006, ISBN 3-487-13306-7.
* [[Wikipedia:Dag Nikolaus Hasse|Dag Nikolaus Hasse]]: ''Urzeugung und Weltbild. Aristoteles – Ibn Ruschd – Pasteur.'' Olms, Hildesheim u.&nbsp;a. 2006, ISBN 3-487-13306-7
* [[Wikipedia:Werner Köhler (Mediziner)|Werner Köhler]]: ''Entwicklung der Mikrobiologie mit besonderer Berücksichtigung der medizinischen Aspekte.'' In: [[Wikipedia:Ilse Jahn|Ilse Jahn]] (Hrsg.): ''Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien.'' 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg u.&nbsp;a. 2000, ISBN 3-8274-1023-1, S. 620–641.
* Matthias Risch: ''Pierre Gassendi und die kopernikanische Zeitenwende.'' In: ''Physik in unserer Zeit.'' Heft 5/2007, S. 249–253
* Sven P. Thoms: ''Ursprung des Lebens'' (= ''Fischer'' 16128 ''Fischer kompakt''). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-596-16128-2.
* Reiner Tack: ''Untersuchungen zum Philosophie- und Wissenschaftsbegriff bei Pierre Gassendi: (1592–1655).'' Hain, Meisenheim (am Glan) 1974, ISBN 3-445-01103-6
* [[Wikipedia:Richard Toellner|Richard Toellner]]: ''Urzeugung''. In: ''[[Wikipedia:Historisches Wörterbuch der Philosophie|Historisches Wörterbuch der Philosophie]].'' Band 11: ''U–V.'' Lizenzausgabe, völlig neubearbeitete Ausgabe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, ISBN 3-7965-0115-X, Sp. 490–496.


== Weblinks ==
== Einzelnachweise ==
* Russell Levine, Chris Evers: [http://webprojects.oit.ncsu.edu/project/bio183de/Black/cellintro/cellintro_reading/Spontaneous_Generation.html ''The Slow Death of Spontaneous Generation (1668–1859).''] National Health Museum, Washington D.C. 1999
* [http://www.bio.vobs.at/spezial/x-hist/x-hist07.htm ''Urzeugung''.] Vorarlberger Bildungsserver.


== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


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[[Kategorie:Biologie]]
[[Kategorie:Überholte Theorie]]


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[[Kategorie:Gestorben 1655]]
[[Kategorie:Mann]]

Version vom 1. September 2018, 11:01 Uhr

Pierre Gassendi

Pierre Gassendi (auch Pierre Gassend, lateinisch Petrus Gassendi; * 22. Januar 1592 in Champtercier, Provence; † 24. Oktober 1655 in Paris) war ein französischer Theologe, Naturwissenschaftler, Philosoph und Astronom und stand als solcher im reger Korrespondenz mit Galileo Galilei und Christoph Scheiner. Seine engsten Vertrauten waren der Astronom und Gelehrte Nicolas-Claude Fabri de Peiresc und der Mathematiker und Theologe Marin Mersenne.

Gassendi lehnte den von Descartes vertretenen Dualismus ab und begründete eine rein materialistische Lehre, mit der er an den Atomismus von Epikur anknüpfte. Daraus leitete er auch die Möglichkeit einer Spontanzeugung ab, indem er die Existenz von Lebewesen auf für das Leben geeigneten Atomkombinationen zurückführte, die sich auch außerhalb eines bereits existierenden Körpers ergeben könnten. Daher könne neues Leben grundsätzlich auch aus unbelebter Materie entstehen.[1]

Schriften

  • Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos (1624)
  • Epistolica Exercitatio, in qua precipua principia philosophiae Roberti Fluddi deteguntur (1631), Streitschrift gegen Robert Fludd
  • Disquisitiones Anticartesianae (1643)
  • Disquisitio metaphysica (1644), Streitschrift gegen Descartes
  • De vita, moribus et placitis Epicuri (1647)
  • Syntagma philosophiae Epicurii (1649)
  • Tychonis Brahei, equitis Dani, Astronomorum Coryphaei, vita. Accessit Nicolai Copernici, Georgii Peurbachii, & Joannis Regiomontani, Astronomorum celebrium, vita (1655), online
  • Syntagma philosophicum (1658)

Siehe auch

Literatur

  • Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes. Reprint der Ausgabe 1956. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1983, ISBN 3-540-02003-9
  • Dag Nikolaus Hasse: Urzeugung und Weltbild. Aristoteles – Ibn Ruschd – Pasteur. Olms, Hildesheim u. a. 2006, ISBN 3-487-13306-7
  • Matthias Risch: Pierre Gassendi und die kopernikanische Zeitenwende. In: Physik in unserer Zeit. Heft 5/2007, S. 249–253
  • Reiner Tack: Untersuchungen zum Philosophie- und Wissenschaftsbegriff bei Pierre Gassendi: (1592–1655). Hain, Meisenheim (am Glan) 1974, ISBN 3-445-01103-6

Einzelnachweise

  1. Hasse: Urzeugung und Weltbild. 2006, S. 9.