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{{Textbox|<poem>Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.
== Beschreibung ==
                  <small>[[Goethe]]: ''Maximen und Reflexionen''<ref>[[Johann Wolfgang von Goethe]]: ''Maximen und Reflexionen'', Werke - Hamburger Ausgabe Bd. 12, 9. Aufl. München: dtv, 1981, S. 408, ISBN 3423590386</ref></small></poem>}}
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Ein '''Urteil''' ([[Latein|lat.]] ''iudicium'', {{ELSalt|αποφανσις}}, ''apophansis'', als Glied des Schlusses ''propositio'' bzw. {{polytonisch|προτασις}}, ''protasis'' genannt) ist eine [[Aussage (Logik)|logische Aussage]], welche die durch das [[Denken]] vollzogene Verbindung zweier [[Begriff]]e bezeichnet.
 
== Kategorisches Urteil ==
 
Ein '''kategorisches Urteil''' (von {{ELSalt|κατηγορία}} ''kategoria'' „Kategorie, Klasse“; [[lat.]] ''categoria'' „Grundaussage“) spricht einer Klasse von Gegenständen, dem ''Subjekt'' (S), mittels einer '''Kopula''' ([[lat.]] ''copula'' „Verbindendes, Verknüpfendes, Band“) ein ''Prädikat'' (P), z.B. eine bestimmte [[Eigenschaft]], zu oder ab. Nach ihrer [[Quantität]] kann man dabei '''allgemeine''' und '''partikuläre Urteile''' unterscheiden. Damit sind insgesamt folgende vier ''Typen'' von Urteilen möglich:
 
{| width="450px" |
|-
| A || allgemein bejahendes Urteil || alle '''S''' sind '''P''' || (SaP)
|-
| E || allgemein verneinendes Urteil || kein '''S''' ist '''P''' || (SeP)
|-
| I || partikulär bejahendes Urteil || einige '''S''' sind '''P''' || (SiP)
|-
| O || partikulär verneinendes Urteil || einige '''S''' sind nicht '''P''' || (SoP)
|}
 
== Vorurteil ==
 
{{Hauptartikel|Vorurteil}}
 
Urteile, die in einer gegebenen Situation nicht unmittelbar durch das aktuelle Denken gefällt werden, sondern [[gewohnheit]]smäßgig mehr oder weniger fertig dem [[Gedächtnis]] entnommen werden, sind ganz allgemein als [[Vorurteil]]e zu werten. Tatsächlich ist unser Alltagsleben weitgehend durch derartige Vorurteile geprägt. Sie erleichtern die Orientierung im täglichen Leben, sind dafür geradezu unverzichtbar, verhindern derart aber auch sehr leicht das Streben nach einer tiefer gehenden [[Erkenntnis]].
 
== Der Astralleib als Träger der Urteilskraft ==
 
Träger der [[Urteilskraft]] ist der [[Astralleib]] des [[Mensch]]en; die logische Urteilskraft erwacht darum auch erst so richtig etwa mit dem [[12. Lebensjahr]], wenn sich mit der nahenden [[Geschlechtsreife]] die Geburt des eigenständigen Astralleibs ankündigt. Eben weil das Urteil eigentlich im Astralleib sitzt und dieser nicht über ein ganz [[wach]]es, sondern über ein [[Traumbewusstsein]] verfügt, können Urteile sehr gut in die träumende [[Seele]] hinuntersteigen. Darauf ist in der [[Waldorfpädagogik]] besonders Rücksicht zu nehmen.
 
<div style="margin-left:20px">
"Das Urteil entwickelt sich ja zunächst auch, selbstverständlich, im
vollwachenden Leben. Aber das Urteil kann schon hinuntersteigen in
die Untergründe der menschlichen Seele, da, wo die Seele träumt. Der
Schluß sollte nicht einmal in die träumende Seele hinunterziehen, sondern
nur das Urteil kann in die träumende Seele hinunterziehen. Also
alles, was wir uns als Urteil über die Welt bilden, zieht in die träumende
Seele hinunter.
 
Ja, was ist denn diese träumende Seele eigentlich? Sie ist mehr das
Gefühlsmäßige, wie wir gelernt haben. Wenn wir also im Leben Urteile
gefällt haben und dann über die Urteilsfällung hinweggehen und das
Leben weiterführen, so tragen wir unsere Urteile durch die Welt; aber
wir tragen sie im Gefühl durch die Welt. Das heißt aber weiter: das
Urteilen wird in uns eine Art Gewohnheit. Sie bilden die Seelengewohnheiten
des Kindes aus durch die Art, wie Sie die Kinder urteilen
lehren. Dessen müssen Sie sich durchaus bewußt sein. Denn der Ausdruck
des Urteils im Leben ist der Satz, und mit jedem Satze, den Sie
zu dem Kinde sprechen, tragen Sie ein Atom hinzu zu den Seelengewohnheiten
des Kindes. Daher sollte der ja Autorität besitzende
Lehrer sich immer bewußt sein, daß das, was er spricht, haften werde
an den Seelengewohnheiten des Kindes." {{Lit|{{G|293|137}}}}
</div>
 
== Logische Urteile und Wahrnehmungsurteile ==
 
Von dem '''logischen Urteil''' oder '''Begriffsurteil''' zu unterscheiden ist das '''Wahrnehmungsurteil''', bei dem ein Begriff mit einer [[Wahrnehmung]] verknüpft wird. Ein solches Wahrnehmungsurteil fälle ich beispielsweise, wenn ich ''diese Blume, die ich gerade ganz konkret wahrnehme'' (Wahrnehmung) als ''Rose'' (Begriff) identifiziere, also erkenne, dass sie unter den [[Allgemeinbegriff]] „Rose“ fällt.
 
{{GZ|Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit
ist der Vorgang dieser: Wir treten der konkreten Wahrnehmung
gegenüber. Sie steht wie ein Rätsel vor uns. In uns
macht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen,
das sie nicht selbst ausspricht, zu erforschen. Dieser
Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten eines Begriffes
aus dem Dunkel unseres Bewußtseins. Diesen Begriff
halten wir dann fest, während die sinnenfällige Wahrnehmung
mit diesem Denkprozesse parallel geht. Die stumme
Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns verständliche
Sprache; wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt
haben, jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.
 
Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden
von jener Gestalt des Urteils, die zwei Begriffe verbindet,
ohne auf die Wahrnehmung Rücksicht zu nehmen.
Wenn ich sage: die Freiheit ist die Bestimmung eines
Wesens aus sich selbst heraus, so habe ich auch ein Urteil
gefällt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich nicht
in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen
beruht die innere Einheitlichkeit unseres Denkens, die wir
im vorigen Kapitel behandelt haben.
 
Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum
Subjekte eine Wahrnehmung, zum Prädikate einen Begriff.
Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund.
In einem solchen Urteile wird eine Wahrnehmung in mein
Gedankensystem an einem bestimmten Orte eingefügt.
Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.
 
''Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfällt.''|2|64f}}
 
Im Gegensatz zu den logischen Urteilen werden Wahrnehmungsurteile, zumindest in grundlegender Form, schon früh in der Kindheit ausgebildet.
 
== Analytische und synthetische Urteile ==
 
[[Immanuel Kant]] hat zwischen analytischen und synthetischen Urteilen unterschieden. '''Analytische Urteile''' seien [[a priori]] [[wahr]], da sie sich aus der [[Analyse]] bereits fertiger Begriffe ergeben und daher in Wahrheit nichts Neues bringen und folglich bloße „Erläuterungsurteile“ sind. '''Synthetische Urteile''' hingegen erweitern die [[Erkenntnis]], sind also „Erweiterungsurteile“. Seit [[David Hume]] festgestellt hatte, dass aus [[Empirie|empirischen]] Daten durch [[Induktion]] keine sicheren Urteile zu gewinnen sein, die mit absoluter [[Notwendigkeit]] gelten müssen, war Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt und stellte daher die klassische Erkenntnisfrage: „Wie sind synthetische Urteile ''a priori'' möglich?“
 
[[Rudolf Steiner]] hielt die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile für nicht gerechtfertigtes bloßes Gedankenspiel und dachte wesentlich [[Realismus|realistischer]]. Um die Gültigkeit eines Urteils zu ergründen, müsse man es in ein '''Existenzurteil''' umwandeln. Dann erkenne man, ob etwas tatsächlich so ''ist'' oder ''nicht ist'' („''Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage ...''“).
 
{{GZ|Wenn wir hier zu der Urteilsbildung kommen, dann müssen wir
wiederum finden, daß die neuere denkerische Arbeit in eine Art von
Mausefalle geraten ist. Denn es steht an der Pforte der neueren denkerischen
Arbeit Kant, und er bildet eine der größten Autoritäten.
Gleich im Beginne der Kantschen Werke finden wir die Urteile im
Gegensatz zu Aristoteles. Heute wollen wir darauf hinweisen, wie
Gedankenfehler gemacht werden. Gleich im Beginne der Kantschen
«Kritik der reinen Vernunft» finden wir die Rede von analytischen
und synthetischen Urteilen. Was sollen die analytischen Urteile
sein? Sie sollen das sein, wo ein Begriff an den anderen gereiht wird
so, daß in dem Subjektbegriff schon der Prädikatbegriff drinnenliegt
und man ihn nur herausschält. Kant sagt: Denke ich den Begriff des
Körpers und sage, der Körper ist ausgedehnt, so ist das ein analytisches
Urteil; denn kein Mensch kann den Begriff des Körpers denken,
ohne sich den Körper ausgedehnt zu denken. - Er löst aus dem
Subjekt den Begriff des Prädikats nur heraus. So ist ein analytisches
Urteil ein solches, das gebildet wird, indem man den Prädikatbegriff
aus dem Subjektbegriff herausholt. Ein synthetisches Urteil dagegen
ist ein Urteil, in dem der Prädikatbegriff noch nicht so eingewickelt
im Subjektbegriff liegt, daß man ihn bloß auswickeln dürfte. Wenn
jemand den Begriff des Körpers denkt, so denkt er nicht dazu den
Begriff der Schwere. Wenn also der Begriff der Schwere zu dem des
Körpers gefügt wird, so hat man ein synthetisches Urteil. Das ist ein
Urteil, welches nicht nur Erläuterungen bringt, sondern unsere Gedankenwelt
bereichern würde.
 
Nun werden Sie aber einsehen können, daß dieser Unterschied
zwischen analytischen und synthetischen Urteilen überhaupt kein
logischer ist. Denn ob jemand bei einem Subjektbegriff den Prädikatbegriff
schon denkt, hängt davon ab, wie weit er es gebracht hat.
Wer sich den Körper so vorstellt, daß er nicht schwer ist, für den ist
der Begriff «schwer» in bezug auf den Körper fremd; wer aber schon
durch seine denkerische und sonstige Arbeit es dahin gebracht hat,
die Schwere sich mit dem Körper verbunden zu denken, der braucht
auch aus seinem Begriff «Körper» nur diesen hineingewickelten
Begriff wieder herauszuwickeln. Das ist also ein rein subjektiver
Unterschied.
 
Bei all diesen Dingen muß man gründlich zu Werke gehen. Man
muß die Fehlerquellen genau aufsuchen. Mir scheint tatsächlich, daß
derjenige, der also doch dasjenige als rein subjektiv in Wirklichkeit
erfaßt, was man herausschälen kann aus einem Begriff, daß der eigentlich
eine Grenze zwischen analytischen und synthetischen Urteilen
gar nicht finden wird und daß er in Verlegenheit kommen
könnte, eine Definition davon zu geben. Es kommt auf etwas ganz
anderes an. Worauf kommt es an? Das nachher! Mir erscheint in der
Tat recht bezeichnend, was sich zugetragen hat, als bei einem Examen
die Rede war von den beiden Urteilen. Da gab es einen Doktor,
der sollte im Nebenfach über Logik geprüft werden. Er war in seinem
Fache tüchtig gesattelt, doch in der Logik wußte er gar nichts.
Er sagte vor der Prüfung zu einem Freunde, dieser sollte ihm noch
einiges aus der Logik sagen. Aber der Freund, der dies etwas ernster
nahm, sprach: Wenn du jetzt noch nichts weißt, so ist es schon gescheiter,
du verläßt dich auf dein Glück. - Nun kam er zum Examen.
 
Da ging, wie gesagt, alles sehr gut in den Hauptfächern; da war
er sattelfest. Aber in der Logik wußte er nichts. Der Professor fragte
ihn: Also sagen Sie mir, was ist ein synthetisches Urteil? - Er wußte
keine Antwort und war nun sehr verlegen. Ja, Herr Kandidat, wissen
Sie gar nicht, was das ist? - fragte der Professor. Nein! - lautete
die Antwort. Eine vortreffliche Antwort! - rief der Examinator -,
sehen Sie, man forscht schon so lange nach dem, was das ist, und
kann nicht dahinterkommen, was eigentlich ein synthetisches Urteil
ist. Sie hätten eine bessere Antwort gar nicht geben können.
Und können Sie mir noch sagen, Herr Kandidat, was ein analytisches
Urteil ist? - Der Kandidat war nun schon frecher geworden
und antwortete zuversichtlich: Nein! - O ich sehe, Sie sind - fuhr
der Professor fort -, in den Geist der Sache eingedrungen. Man hat
so lange geforscht nach dem, was ein analytisches Urteil ist und ist
nicht dahintergekommen. Das weiß man nicht. Eine vortreffliche
Antwort! - Die Tatsache hat sich wirklich zugetragen; sie erschien
mir immer, wenn sie auch nicht unbedingt als solche genommen
werden darf, als recht gute Charakteristik dafür, was beide Urteile
unterscheidet. Es unterscheidet sie in der Tat nichts, es fließt das
eine in das andere über.
 
Nun müssen wir uns noch klarmachen, wie denn überhaupt von
gültigen Urteilen gesprochen werden kann, was ein solches ist. Das
ist eine sehr wichtige Sache.
 
Ein Urteil ist zunächst nichts anderes als die Verbindung von
Vorstellungen oder Begriffen. «Die Rose ist rot», ist ein Urteil. Ob
nun dadurch, daß ein solches Urteil richtig ist, es auch schon gültig
ist, darauf kommt es an. Da müssen wir uns klarmachen: wenn ein
Urteil richtig ist, so braucht es noch lange kein gültiges Urteil zu
sein. Bei diesem kommt es nicht nur darauf an, daß man einen Subjektbegriff
mit einem Prädikatbegriff verbindet. Lassen Sie uns ein
Beispiel nehmen! «Diese Rose ist rot», ist ein richtiges Urteil. Ob es
nun auch gültig ist, ist nicht ausgemacht; denn wir können auch andere
richtige Urteile bilden, welche deshalb noch lange nicht gültig
sind. Nach der formalen Logik brauchte gegen die Richtigkeit eines
Urteils nichts eingewendet werden zu müssen; es könnte ganz richtig
sein, aber mit der Gültigkeit könnte es doch hapern. Es könnte
zum Beispiel jemand die Vorstellung eines Wesens ausdenken, das
halb Pferd, zu einem Viertel Walfisch und zum letzten Viertel Kamel
ist. Dieses Tier wollen wir nun - «Taxu» nennen. Jetzt ist es
zweifellos richtig, daß dieses Tier häßlich wäre. Das Urteil: «Das
Taxu ist häßlich», ist also richtig und kann durchaus nach allen Regeln
der Richtigkeit so gefällt werden; denn das Taxu, halb Pferd,
viertels Walfisch und vierteis Kamel ist häßlich, das ist zweifellos,
und wie das Urteil «Diese Rose ist rot» richtig ist, so auch dieses.
Nun darf man niemals ein richtiges Urteil auch als gültig ansprechen.
Dazu ist etwas anderes notwendig: Sie müssen das richtige Urteil
umwandeln können. Sie müssen erst dann das richtige Urteil als
gültig ansehen, wenn Sie sagen können: «Diese rote Rose ist», wenn
Sie das Prädikat wiederum in das Subjekt hineinnehmen können,
wenn Sie umwandeln können das richtige Urteil in ein Existentialurteil.
In diesem Fall also haben Sie ein gültiges Urteil. «Diese rote
Rose ist». Anders geht es nicht, als daß man den Prädikatbegriff hineinzunehmen
vermag in den Subjektbegriff. Dann ist das Urteil gültig.
«Das Taxu ist häßlich», kann man nicht zu einem gültigen Urteil
machen. Sie können nicht sagen: «Ein häßliches Taxu ist». Das zeigt
Ihnen die Probe, durch die man erfahren kann, ob ein Urteil überhaupt
gefällt werden kann; das zeigt Ihnen, wie die Probe gemacht
werden muß. Die Probe muß dadurch gemacht werden, daß man
sieht, ob man das Urteil in ein Existentialurteil umzuwandeln in der
Lage ist.|108|229ff}}
 
== Zweifaches Umschmelzen geisteswissenschaftlicher Urteile ==
Bevor geisteswissenschaftliche Wahrheiten mitgeteilt werden können, müssen sie zweimal umgeschmolzen sein, was ein Prozeß sein kann, der sich über viele Jahre hinzieht:
 
<div style="margin-left:20px">
"Nun, ich möchte sagen, in demselben Geiste fortfahrend, aus dem
heraus ich dieses gesprochen habe, möchte ich heute zunächst einiges
vorbringen über die Bildung eines geisteswissenschaftlichen Urteils
überhaupt, ich meine eines solchen Urteils, das eine geisteswissenschaftliche
Wahrheit aussprechen will. Es berührt einen immer sehr eigentümlich,
wenn man merkt, wie wenig Gefühl vorhanden ist für den
Ernst, mit dem geisteswissenschaftliche Wahrheiten ausgesprochen
werden. Für das Aussprechen irgendeines Urteils innerhalb der alltäglichen
Welt, die man durch seine Sinne beobachtet, da gilt es, dieses
Urteil durch Beobachtung oder Logik in einem bestimmten Zeitpunkte
seines Lebens zu gewinnen. Und es ist voll berechtigt, wenn man durch
Beobachtung und Logik ein solches Urteil über Dinge der sinnlichen
oder der geschichtlichen Außenwelt gewonnen hat. Beim Geisteswissenschaftlichen
kann es eigentlich so nicht sein. Da genügt es nicht, einmal
sich der Bildung eines Urteils unterzogen zu haben, sondern da ist wesentlich
ein anderes notwendig. Da ist notwendig dasjenige, was ich die
zweimalige Umschmelzung des Urteils nennen möchte. Und diese Umschmelzung
geschieht in der Regel nicht nach kurzen Zeiträumen, sondern
meistens nach langen Zeiträumen. Man faßt irgendein Urteil nach
den gewöhnlichen Methoden, die Sie ja kennen aus meiner Darstellung
in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder aus dem
zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft»; man gelangt, sage ich,
durch solche Methoden zu irgendeinem Urteil über geistige Vorgänge
oder geistige Wesenheiten. Man hat jetzt eigentlich die Verpflichtung,
dieses Urteil zunächst bei sich selbst zu behalten, es nicht auszusprechen.
Ja man hat sogar die innere Verpflichtung, dieses Urteil vor sich
selbst so zu behandeln, daß man es zunächst als eine bloße Tatsache
hinnimmt und ihm weder mit Zustimmung noch mit Ablehnung entgegenkommt.
Dann wird man nach einiger Zeit, vielleicht nach Jahren
erst, dazu kommen, in dem eigenen Seelenleben die erste Umschmelzung
dieses Urteils vorzunehmen, es zu vertiefen, ja es in vieler Beziehung
zu verwandeln. Es wird dieses Urteil, selbst wenn es inhaltlich
dasselbe bleibt nach dieser Umschmelzung, eine andere Nuance von
innerem Anteil, von innerer ihm zuerteilter Wärme zum Beispiel, annehmen.
Es wird unter allen Umständen nach dieser ersten Umschmelzung
sich in anderer Weise als beim ersten Fassen in das Seelenleben
einverleiben, und man wird nach dieser ersten Umschmelzung das Gefühl
haben: Du hast dich selber in einer gewissen Wei§e von dem Urteil
getrennt. - Wenn es zu der ersten Umschmelzung Jahre dauert, so kann
man ja auch nicht immerfort dieses Urteil in seiner Seele weiterwälzen.
Dieses Urteil geht natürlich ins Unbewußte hinunter. Dieses Urteil
führt unabhängig von dem Ich ein eigenes Leben. Das ist notwendig.
Solch ein Urteil muß unabhängig von dem eigenen Ich ein selbständiges
Leben führen. Man muß gewissermaßen ein solches Urteil leben
lassen, ohne daß man dabei ist. Dadurch schmilzt man aus dem Urteil
die Egoität heraus. Man übergibt es demjenigen, was in einem selber
objektiv ist, während beim ersten Beobachten und bei dem ersten
logischen Zusammenstellen des Urteils eben die Egoität, das eigene
Ich, immer mitwirkt und mitspielt. Und dann, wenn das Urteil zum
ersten Male - wie gesagt, vielleicht nach Jahren - umgeschmolzen ist,
dann wird man merken: Dieses Urteil kommt wieder, kommt einem
aus den Seelentiefen so zu, wie irgendeine Tatsache der Außenwelt.
Man hat es in der Zwischenzeit verloren gehabt, man findet es wieder.
Man findet es wieder so, daß es einem jetzt sagt: Du hast mich unvollkommen,
du hast mich vorerst vielleicht irrtümlich gefällt; ich habe
mich selber richtiggestellt. - Dieses Urteil wird der wahre Geisteswissenschafter
suchen, dieses Urteil, das sein eigenes Leben in der
menschlichen Seele entfaltet. Geduld, viel Geduld gehört zu einem
solchen Umschmelzen des Urteils, denn, wie gesagt, es ist oftmals erst
nach Jahren möglich, diese Umschmelzung herbeizuführen, und die
Gewissenhaftigkeit, die bei der Geisteswissenschaft entfaltet werden
muß, die verlangt eben durchaus, daß man nicht sich sprechen läßt,
sondern daß man die Dinge sprechen läßt.
 
Aber nun, meine lieben Freunde, wenn man ein Urteil also umgeschmolzen
hat, dann erlangt man gerade diesem umgeschmolzenen, ich
möchte sagen, aus der Objektivität wieder an einen herantretenden
Urteile gegenüber das starke Gefühl: Man ist mit diesem Urteil, trotzdem
man es sich objektiv hat wiedergeben lassen, dennoch in sich. Und
noch immer kann es durchaus so sein, daß man sich durchaus außerstande
fühlt, ein solches Urteil über eine geisteswissenschaftliche Angelegenheit
schon abzugeben. Denn man hat eben die Aufgabe, die
Dinge sprechen zu lassen und nicht sich sprechen zu lassen. Daher
wartet man auf die zweite Umschmelzung des Urteils, bis zu der es
unter Umständen wiederum Jahre dauern kann. So daß man also nach
der zweiten Umschmelzung des Urteils eine dritte Gestalt des Urteils
hat. Da wird man einen bedeutsamen Unterschied merken zwischen
dem, was vorgeht in dem Zeitraum zwischen der ersten Fassung des
Urteils und der ersten Umschmelzung, und zwischen der ersten Umschmelzung
und der zweiten Umschmelzung. Man wird nämlich merken,
daß man in einer verhältnismäßig leichten Weise zwischen dem
ersten Fassen und der ersten Umschmelzung das Urteil wiederum in
das Gedächtnis heraufbringen konnte. Zwischen der ersten Umschmelzung
und der zweiten Umschmelzung hat man die größte Mühe, das
Urteil wieder in Erinnerung zu bringen, denn es geht in tiefe, tiefe
Seelenuntergründe hinunter, in Seelenuntergründe, in die ein zunächst
an der Außenwelt leicht geschürztes Urteil gar nicht hinuntergeht. Ein
so umgeschmolzenes Urteil geht in tiefe Seelenuntergründe hinunter,
und da lernt man erst kennen, wenn man dann ein solches Urteil zwischen
der ersten Umschmelzung heraufbringen will in die Seele, wie es
oft eines Ringens bedarf, um ein solches Urteil ins Gedächtnis zu rufen.
Unter dem Urteile meine ich jetzt die Anschauung der ganzen Tatsache,
wenn es sich auf eine geisteswissenschaftliche Tatsache bezieht.
Und dann, wenn man das Urteil in der dritten Gestalt bekommt, dann
weiß man, dieses Urteil ist bei der Sache oder bei dem Vorgang gewesen,
auf den es sich bezieht oder auf die es sich bezieht. Das Urteil
zwischen dem ersten Fassen und der ersten Umschmelzung ist noch bei
einem selbst geblieben, aber zwischen dem ersten und zweiten Umschmelzen
ist das Urteil untergetaucht in die objektiv geistige Tatsache
oder die objektiv geistige Wesenheit, und man merkt: die Sache selber
gibt einem mit dieser dritten Gestalt das Urteil, das eben eine Anschauung
ist, zurück. Und jetzt erst fühlt man sich eigentlich gegenüber
den geisteswissenschaftlichen Tatsachen berufen, Mitteilung von
der Anschauung beziehungsweise dem Urteile zu machen. Mitteilung
macht man erst dann, wenn man diese zweifache Umschmelzung vollzogen
hat und dadurch die Gewißheit erhalten hat, daß dasjenige, was
man erst angeschaut hat in der ersten Fassung, durch die Seele selber
den Weg genommen hat zu den Tatsachen, zu den Dingen hin und von
diesen wiederum zurückgekommen ist. Ja, ein Urteil, das abgegeben
wird in gültiger Weise auf geisteswissenschaftlichem Gebiete, ein solches
Urteil hat man erst geschickt zu den Tatsachen oder Wesenheiten,
über die es sprechen will.
 
Sehen Sie, dem, was ich jetzt gesagt habe, wird man nicht fernestehen, wenn man über wesentliche und bedeutungsvolle geisteswissenschaftliche
Tatsachen die Darstellungen richtig auffaßt. Wenn man
freilich Zyklen so liest, wie man moderne Romane liest, dann wird
man nicht aus der Fassung selber erkennen, daß das Wesentliche, der
eigentliche Beweis in dieser zweimaligen Umschmelzung des Urteils
liegt. Und man wird dann sagen, das sei eine Behauptung, das sei kein
Beweis. Ja, ein anderer Beweis als das Erleben, aber das gewissenhafte
Erleben nach zweimaliger Umschmelzung des Urteils, ein anderer Beweis
kann für Geistiges nicht aufgezeigt werden. Denn das Beweisen
des Geistigen besteht in einem Erleben. Das Begreifen nicht. Das Begreifen
ist dem gesunden Menschenverstände nach einer hinlänglichen
Darstellung überall zugänglich. Aber diese hinlängliche Darstellung
muß die Möglichkeit geben, aus der Fassung der Sache eben dem gesunden
Menschenverstände alle Anhaltspunkte zu liefern, damit er aus
dieser Art der Darstellung sich überzeugen kann, daß durch das «Wie»
des gegebenen Urteils seine Wahrheit verbürgt ist.
 
Es macht immer einen höchst eigentümlichen Eindruck, wenn Leute
kommen und sagen: Geisteswissenschaftliche Wahrheiten sollen in derselben
Weise bewiesen werden, wie etwa Behauptungen über äußerlich
sinnliche Tatsachen. Menschen, die dies fordern, kennen eben noch gar
nicht den Unterschied zwischen dem, was eine Anschauung auf dem
geistigen Gebiet ist, und demjenigen, was eine Anschauung auf dem
Sinnes- oder gewöhnlichen historischen Gebiete ist. Derjenige, welcher
Anthroposophie kennenlernt, wird bemerken, wie die einzelne Wahrheit,
die vertreten wird, sich in den Zusammenhang der ganzen Anthroposophie
hineinstellt. Und er wird einfach in demjenigen, das er
im Zusammenhang kennengelernt hat, eine Bekräftigung einer neuen
Wahrheit finden, die er hört. Und wiederum: die neue Wahrheit wird
zurückwirken auf dasjenige, was er schon gehört hat. Und so ist mit
Anthroposophie bekannt werden ein fortwährendes Wachsen in der
Überzeugung von der Wahrheit der Anthroposophie. Von einer mathematischen
Wahrheit kann man im Augenblick überzeugt sein, aber
sie hat deshalb auch kein Leben. Das Anthroposophische ist Leben, daher
ist auch die Überzeugung nicht in einem Augenblick abgeschlossen,
das heißt, sie lebt, sie vergrößert sich fortwährend. Ich möchte sagen,
die anthroposophische Überzeugung ist zunächst ein Baby, wo man
noch ganz unsicher ist, wo man fast nur einen Glauben hat oder nur
einen Glauben hat; dann wächst sich diese Überzeugung, indem man
immer mehr und mehr kennenlernt, allmählich auch immer sicherer
und sicherer aus. Dieses Auswachsen der anthroposophischen Überzeugung
ist eben ein Zeuge von ihrer inneren Lebendigkeit." {{G|257|35ff}}
</div>
 
== Siehe auch ==
* {{Eisler|Urteil}}
* {{Kirchner|Urteil}}
* {{UTB-Philosophie|Dr. Thomas Zwenger|921|Urteil}}
 
== Literatur ==
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X {{Schriften|002}}
* Rudolf Steiner: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik'', [[GA 293]] (1992), ISBN 3-7274-2930-5 {{Vorträge|293}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophische Gemeinschaftsbildung'', [[GA 257]] (1989), ISBN 3-7274-2570-9 {{Geschichte|257}} {{Vorträge1|144}}
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_kategorien_und_urteile.pdf Kategorien und Urteile - Kategorienschrift] PDF
 
{{GA}}
 
== Einzelanchweise ==
<references />
 
[[Kategorie:Logik]]
[[Kategorie:Verstand]]
[[Kategorie:Urteile|!]]

Aktuelle Version vom 11. August 2022, 11:05 Uhr

Beschreibung

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