Komplementarität

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Goethes Farbkreis mit einander gegenüberliegenden Komplementärfarben.

Komplementarität (lat. complementum „Ergänzung, Vervollständigung“, von complere „erfüllen, ergänzen“) bezeichnet die mögliche oder faktische Existenz einander (scheinbar) widersprechender, aber doch zusammengehöriger und einander ergänzender Eigenschaften innerhalb einer gegebenen Ganzheit, die in der Regel nicht kausal aufeinander bezogen sind und einander insofern ausschließen, als sie niemals räumlich und zeitlich zusammenfallen können. Komplementarität unterscheidet sich dadurch vom bloßen Dualismus, bei dem die Gegensätze unverbunden und wesensfremd nebeneinander stehen. Komplementäre Eigenschaften unterscheiden sich durch ihre Erscheinung, sind aber ihrem tieferen Wesen nach eins. Dieses lässt sich durch keine der beiden komplementären Eigenschaft alleine zutreffend charakterisieren, sondern kann nur im lebendigen Wechselspiel beider intuitiv erfasst werden. Hinsichtlich ihres Wesens stehen die beiden komplementären Erscheinungen zueinander zugleich in den unauflöslich paradoxen Verhältnissen des „Entweder-oder“, des „Weder-noch“ und des „Sowohl-als-auch“.

Beispiele für komplementäre Beziehungen sind etwa die coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues, die aus der chinesischen Philosophie bekannten polaren Prinzipien von Yin und Yang oder der Welle-Teilchen-Dualismus[1] der modernen Physik, aus dem sich als unmittelbare Konsequenz die aus der Quantenmechanik bekannte Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation ergibt, die besagt, dass zwei komplementäre Observable eines quantenphysikalischen Systems nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit gemessen werden können, da sie mit einer fundamentalen Unschärfe behaftet sind, die in der Größenordnung des Planckschen Wirkungsquantums liegt. Komplementäre Eigenschaften sind dabei solche, deren Produkt im physikalischen Sinn die Dimension einer Wirkung (Energie x Zeit) haben.

Mathematisch betrachtet verletzen zwei komplementäre Operatoren und das Kommutativgesetz, d.h. ihr Kommutator ist ungleich 0. Mit dem reduzierten Planckschen Wirkungsquantum angeschrieben gilt:

Der Komplementaritätsbegriff wurde 1927 im Rahmen eines Physik-Kongress in Como von dem dänischen Physiker Niels Bohr eingeführt. Das von ihm formulierte Komplementaritätsprinzip erweiterte Bohr später auf viele weitere Gebiete wie z.B. die Psychologie und insbesonders auf das Leib-Seele-Problem und die Frage nach dem freien Willen. Eine ähnliche Komplementarität sah Bohr auch zwischen Belebtem und Unbelebtem.

„In Betracht des Kontrastes zwischen dem Gefühl des freien Willens, das das Geistesleben beherrscht, und des scheinbar ununterbrochenen Ursachszusammenhanges der begleitenden physiologischen Prozesse ist es ja den Denkern nicht entgangen, daB es sich hier um ein unanschauliches Komplementaritatsverhältnis handeln kann. So ist öfters die Ansicht vertreten worden, daß eine wohl nicht ausführbare, aber doch denkbare, ins einzelne gehende Verfolgung der Gehirnprozesse eine Ursachskette entschleiern würde, die eine eindeutige Abbildung des gefühlsbetonten psychischen Geschehens darbieten würde. Ein solches Gedankenexperiment kommt aber jetzt in ein neues Licht, indem wir nach der Entdeckung des Wirkungsquantums gelernt haben, daß eine ins einzelne gehende kausale Verfolgung atomarer Prozesse nicht möglich ist, und daß jeder Versuch, eine Kenntnis solcher Prozesse zu erwerben, mit einem prinzipiell unkontrollierbaren Eingreifen in deren Verlauf begleitet sein wird. Nach der erwähnten Ansicht über das Verhältnis der Gehirnvorgänge und des psychischen Geschehens müssen wir also darauf gefaßt sein, daß ein Versuch, erstere zu beobachten, eine wesentliche Änderung des begleitenden Willengefühls mit sich bringen würde. Obwohl es sich hier zunächst nur um mehr oder weniger zutreffende Analogien handeln kann, so wird man sich schwerlich von der Überzeugung freimachen konnen, daß wir in dem von der Quantentheorie entschleierten, unserer gewöhnlichen Anschauung unzugänglichen Tatbestand ein Mittel in die Hande bekommen haben zur Beleuchtung allgemeiner Fragestellungen menschlichen Denkens.“

Niels Bohr: Atomtheorie und Naturbeschreibung, S. 65[2]

Der österreichische Physiker Wolfgang Pauli wies in diesem Zusammenhang auch auf die Komplementarität von Subjekt und Objekt hin:

„Der Begriff des Bewußtseins verlangt eben einen Schnitt zwischen Subjekt und Objekt, dessen E x i s t e n z eine logische Notwendigkeit ist, während wiederum die L a g e des Schnittes bis zu einem gewissen Grade willkürlich ist. Die Nichtbeachtung dieses Sachverhaltes gibt Anlaß zu zwei verschiedenen Arten metaphysisdier Extrapolation, die selbst als zueinander komplementär bezeichnet werden können. Die eine ist die des materiellen oder allgemeiner physikalischen Objektes, dessen Beschaffenheit unabhängig sein soll von der Art, in welcher es beobachtet wird. Wir haben gesehen, daß die moderne Physik, durch Tatsachen gezwungen, diese Abstraktion als zu eng aufgeben mußte. Die komplementäre Extrapolation ist die der Hindu-Metaphysik vom reinen Subjekt des Erkennens, dem kein Objekt mehr gegenübersteht. Persönlich habe ich keinen Zweifel, daß audi diese Idee als unhaltbare Extrapolation erkannt werden muß.“

Wolfgang Pauli: Physik und Erkennnistheorie, S. 16[3]

In der Farbenlehre offenbart sich die Komplementarität in der Existenz der Komplementärfarben. Das Auge ist so gebaut, dass es jeder Farbe die entsprechende Komplementärfarbe entgegenbringt - anders wäre das bewusste Sehen der Farbe gar nicht möglich.

In Hegels Dialektik stehen These und Antithese in einem komplementären Verhältnis zueinander.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Sachlich richtig müsste man hier nicht von einem Dualismus, sondern von der Komplementarität von Welle und Teilchen sprechen.
  2. Niels Bohr: Atomtheorie und Naturbeschreibung, Springer Verlag, Berlin 1931, S. 65
  3. Wolfgang Pauli: Physik und Erkennnistheorie, Springer Fachmedien, Wiesbaden 1984, ISBN 978-3-528-08563-6, eBook ISBN 978-3-322-88799-3