Kurzgeschichte

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Die Kurzgeschichte (eine Lehnübersetzung des englischen Begriffs short story) ist eine moderne literarische Form der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt. Dies wird oft durch eine starke Komprimierung des Inhaltes erreicht.

Geschichte

Entstehung

Die Entstehung der Kurzgeschichte hängt eng zusammen mit der Entwicklung des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert: „Zeitschriften boten den amerikanischen Autoren bessere Absatzmöglichkeiten als der Buchmarkt.“[1] Die Gattung der Kurzgeschichte entstand als short story im Bereich der englischsprachigen, insbesondere der amerikanischen Literatur (z. B. Edgar Allan Poe, der die Kurzgeschichte auch in seinen ästhetischen Schriften thematisierte, Sherwood Anderson, F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, O. Henry, William Faulkner, Sinclair Lewis, Henry Slesar). Rip Van Winkle und The Legend of Sleepy Hollow von Washington Irving gelten als erste Kurzgeschichten der Weltliteratur. Im deutschsprachigen Raum wurde die Kurzgeschichte erstmals um 1900 aufgegriffen. Hier musste sie sich zunächst gegen andere etablierte Kurzformen (z. B. Novelle, Anekdote, Kalendergeschichte) durchsetzen. In der Folge wurde die Form auch von Autoren des Expressionismus (etwa Alfred Döblin oder Robert Musil) verwendet.[2]

In Deutschland

Die „deutsche Kurzgeschichte“ ist vor allem das Produkt des „Kahlschlags“ nach 1945. Dieser Begriff bezeichnete in den Debatten der Zeit den Versuch, einen literarischen Neubeginn zu setzen, eine literarische „Stunde Null“ (Alfred Andersch) zu proklamieren. Indem sie auf die Form der Kurzgeschichte zurückgriffen, bezogen sich die Autoren dieser Zeit nicht nur auf amerikanische Vorbilder – als besonders einflussreich gilt Hemingway –, sondern setzten sich mit kurzen Texten in einer einfachen und sachlichen Sprache bewusst von den umfangreichen, pathetischen und ideologisch aufgeladenen Werken der nationalsozialistischen Literatur ab. Der neue Stil entsprach dem Programm der Gruppe 47, deren Autoren wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Gattung leisteten.

„Die Männer des Kahlschlags [...] wissen, oder [...] ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur.“

Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten. Hamburg 1949, S. 194–219, hier: S. 217., zitiert nach Seiten der Universität Tromsø zur Gattung Kurzgeschichte

Bis in die fünfziger Jahre setzen sich viele Kurzgeschichten kritisch mit der Nachkriegszeit auseinander. Vor allem Wolfgang Borchert thematisiert unmittelbar die Probleme der Kriegsheimkehrer, die Armut Ende der 1940er Jahre[3], die Schwierigkeiten der Soldaten, sich im Frieden zurechtzufinden. Kern seiner Kurzprosa ist dabei die grundlegende Ablehnung des Krieges und die Suche nach „Menschlichkeit in den Ruinen“[4].

Bei vielen Autoren steht nicht die große Politik im Vordergrund, vielmehr gehen sie in einfach umrissenen Situationen allgemein-menschlichen Phänomenen wie Kommunikationsmangel, Statusdenken, Denunziantentum[5] und Unverständnis zwischen den Generationen[6] nach.

Bekannte Kurzgeschichtenautoren der Nachkriegszeit sind z. B. Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Erwin Strittmatter, Ilse Aichinger, Hans Bender, Elisabeth Langgässer, Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Wolfgang Weyrauch, Heinz Piontek und Gabriele Wohmann.

Ab Mitte der 1960er Jahre verlor die literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung. Mit dem Aufschwung des Wirtschaftswunders veränderten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Kurzgeschichte, die ihrem Wesen nach laut Ruth J. Kilchenmann „aggressiv, provozierend, antibürgerlich, erregend“ ist, verlor nicht nur die Thematik der Erschütterung der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern passte immer weniger in eine bürgerliche Gesellschaft. Sowohl die inzwischen etablierten Autoren der Nachkriegszeit als auch die junge Schriftstellergeneration wandten sich anderen literarischen Formen zu.[7]

Weitere Komprimierung und Reduktion führten zur Kürzestgeschichte; Verfasser solcher Texte sind unter anderem Peter Bichsel, Kurt Marti, Helga M. Novak und Thomas Bernhard.

Entwicklungen

Die Verleihung des Literaturnobelpreises 2013 an Alice Munro, deren Werk ausschließlich aus Kurzgeschichten besteht, hat der Gattung starke Aufmerksamkeit verschafft. In den Zeiten des Internets erlebt sie darüber hinaus in zahlreichen Portalen ein Revival.

Merkmale

Gattungsprinzip der Kurzgeschichte ist ihre „qualitativ angewandte Reduktion und Komprimierung, die alle Gestaltungselemente einbezieht und sich dementsprechend auf die Suggestivkraft der Kurzgeschichte auswirkt.“[8] Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die auf alle Werke zutreffen, die als „Kurzgeschichte“ bzw. „short story“ bezeichnet werden. Trotzdem lassen sich einige Merkmale finden, die vor allem für die deutsche Kurzgeschichte von 1945–1955 kennzeichnend sind:

  • Die Geschichte soll in einem Leseakt gelesen werden können.
  • Die Aussage des Textes ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und vieles muss vom Leser durch Lesen zwischen den Zeilen und Verknüpfen von Handlungen erschlossen werden (Eisbergmodell).

Erzähltechnik und Sprache

  • Meist personaler Erzähler, Bericht aus der Distanz, in einigen Texten aber auch Ich-Erzähler, z. B. bei Wolfgang Hildesheimers Kurzgeschichte „Ich schreibe kein Buch über Kafka“ oder auktoriale Erzählperspektive wie in Günter Bruno Fuchs' „Ein Baumeister hat Hunger“
  • Keine oder nur sehr kurze Einleitung (Exposition); sofortiger Einstieg in die Handlung (in medias res), etwa durch Einführen der noch unbekannten Personen durch Pronomina.
  • Techniken der Verdichtung durch Aussparungen, Andeutungen, Metaphern und Symbole.
  • Chronologisches Erzählen hauptsächlich im Präteritum, teilweise Simultanität durch innere Monologe, Einblendungen
  • Die erzählte Zeit beträgt meist nur wenige Minuten oder Stunden, häufig wird das Geschehen auf wenige Augenblicke, eine exemplarische Situation, ein Bild oder eine Momentaufnahme reduziert.
  • Lakonischer Sprachstil, Alltagssprache, teilweise Verwendung von Umgangssprache, Dialekt oder Jargon.
  • Doppelbödigkeit, Mehrdeutigkeit: das geschilderte Alltagsereignis verweist auf komplexere Probleme, die oft über Metaphern und Leitmotive zu erschließen sind.
  • Offener Schluss oder eine Pointe ⇒ Der offene Schluss „zwingt“ den Leser förmlich dazu, über das Geschehen nachzudenken, denn es bleiben noch Fragen übrig – der Leser muss zwischen den Zeilen lesen.
  • Vermeiden von Wertungen, Deutungen, Lösungen.

Themen, Handlung und Personen

  • Konfliktreiche, häufig nur skizzenhaft dargestellte Situation, geprägt von Emotionen.
  • Ein oder zwei oft typisierte Hauptpersonen stehen im Mittelpunkt (es gibt jedoch auch Kurzgeschichten mit deutlich mehr Hauptpersonen). Personen werden nur in Aspekten beschrieben/charakterisiert.
  • Die Geschichte spielt nur an wenigen Orten.
  • Ein entscheidender Einschnitt aus dem Leben der handelnden Person oder Figur wird erzählt.
  • Einsträngige Handlung.
  • Wenig Handlung.
  • Themen sind Probleme der Zeit.
  • Meist gibt es einen Glückswechsel (Peripetie).
  • Alltäglichkeit von Handlung und Personen, die weder hervorragend noch heldenhaft auftreten: „ein Stück herausgerissenes Leben“ (Schnurre 1961)

Viele Autoren verstehen die Kurzgeschichte als offene Gattung und experimentieren mit verschiedenen Elementen anderer Genres, etwa Aspekten von Fabeln, Märchen oder Sagen.

Siehe auch

Literatur

Textsammlungen

  • Herbert Fuchs, Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzgeschichten. Varianten – kreativer Umgang – Interpretationsmethoden. Texte und Materialien. Reihe Klassische Schullektüre, Cornelsen, 6. Auflage, Berlin 2005 ISBN 3-454-52180-7.
  • Herbert Fuchs, Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzprosa. Varianten-kreativer Umgang- Interpretationsmethoden. Texte und Materialien Reihe Klassische Schullektüre Cornelsen, Berlin 1999 ISBN 3-464-52232-6.
  • Erzählte Zeit. 50 Kurzgeschichten der Gegenwart. Hrsg. von Manfred Durzak. Reclam, Stuttgart 1980 [u.ö.]. ISBN 3-15-009996-X.
  • Schlaglichter. Zwei Dutzend Kurzgeschichten. Mit Materialien. Hrsg. von Herbert Schnierle-Lutz. Klett, Stuttgart 2001, ISBN 978-3-12-262731-7.
  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-15-018251-2 (33 Geschichten aus dem Zeitraum von 1945 bis 1965).
  • Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-018387-1 (30 Texte aus dem Zeitraum von 1965 bis 2004).
  • Wolfgang Salzmann (Hrsg.): Siebzehn Kurzgeschichten (mit Materialien). Klett, Stuttgart 1982, ISBN 3-12-261220-8.

Interpretationen

  • Herbert Fuchs/ Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzgeschichten. Varianten-kreativer Umgang- Interpretationsmethoden. Unterrichtskommentar. Berlin: Cornelsen, 4. Auflage 2005 (Reihe "Klassische Schullektüre) ISBN 978-3-454-52185-7
  • Herbert Fuchs/ Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzprosa. Varianten-kreativer Umgang- Interpretationsmethoden. Lehrerheft (Reihe Klassische Schullektüre) Berlin: Cornelsen 1999 ISBN 3-464-52233-4
  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-017525-9 [33 Interpretationen zu den Texten der 2003 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
  • Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-017531-3 [Interpretationen zu den 30 Texten der 2005 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
  • Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte? Reclam, Stuttgart 1993, ISBN 3-15-015030-2
  • Rainer Könecke: Interpretationshilfen: Deutsche Kurzgeschichten 1945–1968. 2. Auflage. Klett, Stuttgart/Dresden 1995.
  • Rainer Könecke: Deutschsprachige Kurzprosa zwischen 1945 und 1989. Interpretationen, thematische Bezüge sowie Überlegungen zu ihrem produktionsorientierten Einsatz in der gymnasialen Oberstufe. Klett, Stuttgart/Dresden 2006.
  • Bernd Matzkowski: Wie interpretiere ich Fabeln, Parabeln und Kurzgeschichten? Basiswissen Klassen 11–13. Mit Texten. Bange, Hollfeld 2005.
  • Paul Nentwig: Die moderne Kurzgeschichte im Unterricht. Georg Westermann, Braunschweig 1967 [u.ö.].
  • Schwake, Timotheus: Klassische Kurzgeschichten. Unterrichtsmodell in der Reihe EinFach Deutsch. Herausgegeben von Johannes Diekhans. Paderborn: Schöningh 2008
  • Franz-Josef Thiemermann: Kurzgeschichten im Deutschunterricht. Texte – Interpretationen – Methodische Hinweise. Kamp, Bochum 1967 [u.ö.].

Forschungsliteratur

  • Klaus Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und ihre Entwicklung. Metopen, Wiesbaden 1953.
  • Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte. In: Deutsche Rundschau 87 (1961) Heft 1. S. 61–66.
  • Hans Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 205–225.
  • Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 226–245.
  • Jan Kuipers: Zeitlose Zeit. Die Geschichte der deutschen Kurzgeschichtenforschung. Groningen 1970.
  • Ludwig Rohner: Theorie der Kurzgeschichte. 2., verbesserte Auflage. Athenäum, Wiesbaden 1976.
  • Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. München 1989 (UTB 1519).
  • Erna Kritsch Neuse: Der Erzähler in der deutschen Kurzgeschichte. Columbia (S.C.) 1991.
  • Manfred Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. 3., erweiterte Auflage. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 3-8260-2074-X
  • Klaus Lubbers: Typologie der Short Story. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977, ISBN 3-534-06442-9
  • Urs Meyer: Kurz- und Kürzestgeschichte. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Reclam, Stuttgart 2002, S. 124–146.
  • Hans-Christoph Graf v. Nayhauss (Hrsg.): Theorie der Kurzgeschichte. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-015057-4
  • Leonie Marx: Kurzgeschichte. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Gütersloh/München 1988, S. 498f.
  • Leonie Marx: Die deutsche Kurzgeschichte. 3., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005 (Sammlung Metzler 216), ISBN 3-476-13216-1
  • Ruth J. Kilchenmann: Die Kurzgeschichte – Formen und Entwicklung. In: Wolfgang Salzmann (Hrsg.): Siebzehn Kurzgeschichten (mit Materialien). Klett, Stuttgart 1982, S. 107–109.

Weblinks

Commons: Kurzgeschichte - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema
 Wiktionary: Kurzgeschichte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Martynkewicz: Edgar Allan Poe. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 63
  2. Vgl. Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Dortmund 1994, s.v. Kurzgeschichte.
  3. etwa in Das Brot
  4. etwa in Nachts schlafen die Ratten doch
  5. etwa in Ilse Aichingers Fenster-Theater
  6. z. B. in Peter Bichsel, Die Tochter oder Walter Helmut Fritz, Augenblicke
  7. Ruth J. Kilchenmann: Die Kurzgeschichte – Formen und Entwicklung. In: Wolfgang Salzmann (Hrsg.): Siebzehn Kurzgeschichten (mit Materialien). Klett, Stuttgart 1982, S. 108–109.
  8. Marx, Leonie: Kurzgeschichte, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Herausgegeben von Walther Killy, Gütersloh/München 1988, S. 498f.(498)


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