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Latein
Latein (lat. lingua latina ‚lateinische Sprache) zählt innerhalb der indogermanischen Sprachen zu den italischen Sprachen und bildet die Grundlage der heutigen romanischen Sprachen. Latein war ursprünglich die Volkssprache der Latiner, der Bewohner Latiums, und dann die Amtssprache des Römischen Reiches und zu dieser Zeit auch die verbreitetste Verkehrssprache in weiten Teilen Europas. Im Unterschied zum literarischen Latein stand dabei das als Umgangssprache gesprochene Vulgärlatein (auch Sprechlatein oder Volkslatein), das aber durchaus auch von den Gebildeten benutzt wurde.
Mit dem Niedergang des Römischen Reiches wurde Latein allmählich zur toten Sprache. Bedeutsam ist es heute noch innerhalb der Lateinischen Kirche und als Grundpfeiler der klassischen Bildung. Das Kirchenlatein, das nach 500 entstand, ist grammatikalisch vereinfacht und durch Neologismen angereichert. In Westeuropa wurde es im Mittelalter zur Schriftsprache aller kirchlichen und weltlichen Urkunden beziehungsweise der Diplomatie – im Schriftverkehr der katholischen Kirche teils bis in die 1960er Jahre. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildete Latein auch die wesentliche Grundlage der internationalen Wissenschaftssprache. In der Biologie und namentlich in der Medizin ist Latein immer noch wesentlicher Bestandteil der Fachterminologie.
bis 240 v. Chr. Frühlatein |
240–75 v. Chr. Altlatein |
75 v. Chr. – 1. Jh. Klassisches Latein |
2./3.–6. Jh. Spätlatein |
6.–15. Jh. Mittellatein |
15.–17. Jh. Humanistisches Latein |
15. Jh. bis heute Neulatein |
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte Latein eine wesentliche Bedeutung für die Ausbildung des gehirngebundenen logischen Denkens, ist aber hinderlich der Entfaltung des freien, geistgemäßen Denkens, das heute gefordert ist.
"Die lateinische Sprache hat aber eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit. Sie ist nämlich so ausgebildet worden im alten Rom, daß sie selber denkt. Es ist interessant, wie der lateinische Unterricht in den Gymnasien gegeben wird. Er wird so gegeben, daß man also Latein lernt, und dann lernt man das Denken, das richtige Denken an dem lateinischen Satze. So daß also das ganze Denken abhängig wird von etwas, was gar nicht der Mensch macht, sondern was die lateinische Sprache macht. Verstehen Sie das nur, meine Herren, daß das etwas ganz Wichtiges ist! Also die Menschen, die heutzutage irgend etwas gelernt haben, denken nicht selber, sondern bei denen, wenn sie auch niemals die lateinische Sprache gelernt haben, denkt die lateinische Sprache. Deshalb ist es ja so, daß man selbständiges Denken, so kurios das ist, eigentlich heute nur noch bei manchen Menschen trifft, die nicht viel gelernt haben.
Ich will damit ja nicht etwa sagen, wir sollen wiederum in den Analphabetismus zurück. Das können wir nicht. Ich will nirgends einen Rückschritt; aber dasjenige, was ist, muß man verstehen. Deshalb ist es ja so wichtig, daß man manchmal auch zurückgehen kann zu dem, was der einfache Mensch, der wenig gelernt hat, noch weiß. Er kann es ja gar nicht mehr herausbringen, weil man ihn natürlich auslacht. Aber trotzdem, es ist außerordentlich wichtig, daß man weiß: Die Menschen denken heute nicht selbst, sondern die lateinische Sprache denkt in ihnen.
Sehen Sie, solange man nicht selber denken kann, solange kann man überhaupt nicht in die geistige Welt hineinkommen. Jetzt haben Sie den Grund, warum sich die heutige Erkenntnis auflehnt gegen alles geistige Erkennen: weil die Leute durch die lateinische Erziehung dazu gekommen sind, nicht selber zu denken. Das ist das erste, was man lernen muß: selber denken. Die Leute haben heute ganz recht, wenn sie sagen: Das Gehirn denkt. - Warum denkt das Gehirn? Weil die lateinischen Sätze ins Gehirn hereingehen, und das Gehirn denkt ganz automatisch bei dem heutigen Menschen. Das sind Automaten der lateinischen Sprache, die herumlaufen und gar nicht selber denken.
In der letzten Zeit ist nämlich etwas geschehen, was ganz merkwürdig ist. Ich habe es Ihnen schon das letzte Mal angedeutet, aber Sie werden es nicht bemerkt haben, weil es nicht so leicht zu bemerken ist. In der letzten Zeit ist nämlich etwas ganz Besonderes geschehen. Nicht wahr, wir haben in uns unseren physischen Körper, außerdem unseren Ätherkörper und die anderen auch noch, davon will ich jetzt nicht reden. Nun, das Gehirn gehört natürlich zum physischen Körper, aber es ist der Ätherkörper auch im Gehirn darin, und selbst denken kann man nur mit dem Ätherkörper. Man kann nicht mit dem physischen Körper selbst denken. Aber denken kann man mit dem physischen Körper, wenn es so ist wie bei der lateinischen Sprache: daß das Gehirn wie ein Automat benutzt wird, wenn man mit dem Gehirn denkt. Aber solange man bloß mit dem Gehirn denkt, kann man ja nichts Geistiges denken. Da muß man anfangen mit dem Ätherkörper zu denken, mit dem Ätherkörper, der bei dem, der geisteskrank ist, durch viele Jahre oft nicht benutzt wird. Das muß man in innere Tätigkeit bringen. Aber das ist es, worauf es zuallererst ankommt: daß man selbständig selber denken lernt. Ohne daß man selbständig selber denken kann, kann man nicht in die geistige Welt hineinkommen. Dazu ist natürlich notwendig, daß man überhaupt zuallererst darauf kommt: Donnerwetter, du hast ja in deiner Jugend gar nicht selber denken gelernt! Du hast nur gelernt, das zu denken, was seit Jahrhunderten durch den Gebrauch der lateinischen Sprache gedacht worden ist. — Und wenn man dies in der richtigen Weise weiß, dann weiß man, daß die allererste Bedingung, auf die es ankommt zum Hineinkommen in die geistige Welt, ist: Lerne selbständig denken...
Nun, sehen Sie, da ist es eben so, daß es notwendig geworden ist, daß ich im Jahre 1893 dieses Buch geschrieben habe über die Philosophie der Freiheit. Dieses Buch, «Die Philosophie der Freiheit», ist nicht so wichtig durch das, was drinnen steht. Natürlich, das, was drinnen steht, das wollte man schon auch dazumal der Welt sagen, aber das ist nicht das Allerwichtigste, sondern das Wichtige bei diesem Buche «Die Philosophie der Freiheit» ist, daß zum ersten Mal ganz und gar selbständiges Denken in diesem Buche ist. Kein Mensch kann das Buch verstehen, der nur unselbständig denkt. Er muß sich Seite für Seite, ganz von Anfang an, daran gewöhnen, zurückzugehen zu seinem Ätherleib, um solche Gedanken überhaupt haben zu können, wie sie in diesem Buche sind. Deshalb ist dieses Buch ein Erziehungsmittel - es ist ein sehr wichtiges Erziehungsmittel -, und als solches muß man es auffassen.
Als das Buch erschienen war in den neunziger Jahren, da haben die Leute überhaupt nicht gewußt, was sie mit ihm machen sollen. Das ist für sie so gewesen, wie wenn einer in Europa chinesisch schreibt und kein Mensch das verstehen kann. Es war ja natürlich deutsch geschrieben, aber es war in Gedanken geschrieben, die den Leuten gar nicht gewohnt waren, weil in dieser Beziehung alles Lateinische ganz absichtlich abgestreift ist. Es ist zum ersten Male ganz bewußt Rücksicht darauf genommen: Da drinnen sollen keine Gedanken sein, die noch durchs Lateinische beeinflußt sind, sondern nur ganz selbständige Gedanken. - Ein Lateiner ist ja nur das physische Gehirn. Der Ätherleib des Menschen ist kein Lateiner. Daher muß man sich erst bemühen, in einer Sprache solche Gedanken auszudrücken, wie man sie dann hat, wenn man sie im Ätherleib hat." (Lit.: GA 350, S. 147ff)
"Wir müssen uns klar sein darüber, daß der Westen in einer ganz anderen Weise in der Lage war, innerlich seelisch das lateinisch römische Wesen zu verdauen als Mitteleuropa. Der Westen hat das Lateinische in sich aufgenommen. Mitteleuropa ist am Lateinischen krank geworden. Und wer diese Erscheinung, die heute sich in ihren letzten Ausläufern gerade in der denkbar intensivsten Weise zeigt, richtig ins Auge zu fassen vermag, der allein weiß eigentlich sich zurechtzufinden innerhalb der gegenwärtigen Bildungsbegriffe...
Nun müssen wir uns darüber klar sein, daß die Bildung, die eigentlich zum Geistesleben geführt hat, durch viele, viele Jahrhunderte im Mittelalter hindurch von der lateinischen Sprache getragen war und daß die lateinische Sprache wirklich nicht nur im Sinne einer äußerlichen Bezeichnung, sondern in ganz innerlichem Sinne eine tote Sprache geworden ist. Die lateinische Sprache, die man sich im Mittelalter aneignen mußte, wenn man überhaupt an die höhere Bildung herankommen wollte, wurde immer mehr und mehr zu einem, wenn ich mich so ausdrücken darf, Mechanismus in sich. Und sie wurde gerade zu dem logischen Mechanismus in sich.
Dieser Prozeß ist sehr gut zu verfolgen, wenn man eben die Geschichte so betrachtet, wie wir sie für das 19. Jahrhundert gestern und vorgestern betrachtet haben. Wenn man das Innere im Fortleben der Menschheit betrachtet, da sieht man, wie im 4. nachchristlichen Jahrhundert die lateinische Sprache allmählich aufhört, innerlich erlebt zu werden, wie sie nicht mehr den Logos auslebt, sondern nur noch die Hüllen des Logos. Dasjenige, was dann als Nachzügler von der lateinischen Sprache geblieben ist, die italienische Sprache, die französische Sprache, sie haben allerdings vieles von der lateinischen Sprache in sich aufgenommen. Dadurch haben sie teilgenommen an dem Absterbeprozeß der lateinischen Sprache. Aber sie haben auch dasjenige in sich aufgenommen, was ausgestrahlt hat von den verschiedenen Völkerschaften, die von Osten nach Westen gezogen sind und den Westen bewohnt haben. So daß im Italienischen und im Französischen das ganz andere Element mitlebt, nicht etwa bloß in den Worten, sondern vor allen Dingen in der Gestaltung der Sprache mitlebt, in dem Dramatischen der Sprache. Dagegen ist das wirkliche Lateinische abgestorben. Und in dieser Abgestorbenheit, wo allmählich die Anschauungen herausgefallen sind, ist es zur allherrschenden wissenschaftlichen Sprache geworden. Und man muß gerade bei der Sprache anfragen, wenn man einsehen will: Warum hat die mittelalterliche Weltanschauung die Gestalt bekommen, die sie nun einmal hat?
Denken Sie doch nur einmal, daß der Mensch im Knabenalter in dieses Lateinische hineingedrängt wurde, also daß nicht der Prozeß so bei ihm gewesen ist, daß er vom lebendig Seelischen aus die Sprache gestaltet hat, sondern die Sprache wurde als fertiges logisches Instrument in ihn hineingegossen, und er lernte sozusagen an der Art und Weise, wie die Worte grammatisch zusammenhingen, die Logik. Die Logik wurde etwas, was den Menschen von außen herein ausfüllte.
Und so wurde der Zusammenhang der Menschenseele mit der geistigen Bildung ein immer loserer und loserer, und man wuchs nicht mit Begeisterung aus dem, was man schon in sich hatte, in die Bildung hinein, man wurde aufgenommen von einem fremden Elemente der Bildung, von dem im Lateinischen petrifizierten, fremden Elemente der Bildung. Das sprühte aus sozusagen in der Seele und trieb das, was man ursprünglich hatte, heraus aus dem Menschen oder tiefer in den Menschen hinein, in eine solche Region, wo man keinen Anspruch auf Logik machte.
Denken Sie nur, wie es durch viele Jahrhunderte im Mittelalter war und wie es in unserer Jugend war, in der Jugend derjenigen, die jetzt schon so alt gewordene Wesen sind wie ich. Da war es so, daß wenn jemand irgend etwas in seiner Muttersprache ausgedrückt hatte und es in der Gesellschaft, in der man gerade war, nicht klar erschien, man es rasch ms Lateinische übersetzte, denn da wurde es klar. Aber es wurde auch kalt und nüchtern. Es wurde logisch. Man verstand sogleich, wenn irgend etwas in einem lateinischen Kasus ausgedrückt wurde, man verstand sogleich, wie eigentlich genau und exakt die Sache gemeint ist.
Das aber wurde durch die Jahrhunderte des Mittelalters immer gemacht. Man erlaubte sich in der gesprochenen Sprache jede Schlamperei, weil man die Exaktheit, die Genauigkeit eben dem Denken in der lateinischen Sprache zuschrieb. Das war aber dem Menschen etwas Fremdes. Und weil es fremd war und der Mensch nur durch seine Seele zum Geist kommen kann, so petrifizierte die lateinische Sprache so weit, daß man da überhaupt nicht mehr irgendwie ein Wort anwenden konnte, wenn man nicht draußen in der physischen Sinnlichkeit das Ding hatte. Beim Pferd, da wäre es nicht gegangen, wenn man bloß das Wort gehabt hätte, denn da hätte man nicht darauf reiten können. Aber bei denjenigen Dingen, die übersinnlich sind, da rauchte allmählich der Inhalt aus dem Worte heraus, und da hatten die Leute nur das Wort. Und dann sagten sie später, als ihre Muttersprache heraufkam, in der Muttersprache auch nur das Wort, das einfach lexigraphisch übersetzte Wort. Dadurch brachten sie nicht die Anschauung hinein. Indem man anima und Seele zusammenstellte und anima als Inhalt die Wirklichkeit verloren hatte, blieb auch der Inhalt bei der Seele aus. Und so kam es, daß die lateinische Sprache nurmehr anwendbar war auf das äußerlich Sinnliche.
Da haben Sie aus der Sprache heraus einen der Gründe, warum dann die Theologie in der Mitte des Mittelalters gesagt hat: Man kann durch die Wissenschaft nur die äußeren sinnlichen Dinge begreifen, und höchstens ihren Zusammenhang, und die übersinnlichen Dinge muß man dem Glauben überlassen. Hätten nämlich diese Leute die volle Kraft entwickelt, noch das auszusprechen, was wahr ist, dann hätten sie gesagt: Der Mensch kann von der Welt nur so viel erkennen, als auf lateinisch ausdrückbar ist, und das übrige muß er einem nicht ganz ausdrückbaren, nur gefühlten Glauben überlassen.
Sehen Sie, in gewissem Sinne ist das die Wahrheit, und das andere ist nur eine Illusion. Die Wahrheit ist diese, daß durch die Jahrhunderte die Anschauung gewirkt hat, daß wissenschaftlich wahr nur dasjenige sei, was durch die lateinische Sprache ausdrückbar ist.
Und nun kam eigentlich erst im 18. Jahrhundert die Prätention der Volkssprache. Nun hatten aber in dieser Zeit, als die Prätentionen der Volkssprachen heraufkamen, die verschiedenen Gegenden Europas eine ganz verschiedene Beziehung zu den Volkssprachen. Da wo das Lateinische noch nachwirkte, da fand sich die Volkssprache mit der Bildung leichter zusammen. Daher haben wir diese Erscheinun- gen im Westen Europas, die wir vorgestern geschildert haben, daß eigentlich die Zusammenhänge im sozialen Leben, die sozialen Bin- dungen, wie ich sie genannt habe, sich in einer Weise entwickeln, die populär ist, an der jedermann teilnimmt, weil da im Westen, als das Volkstum heraufkam, gewissermaßen dieses Volkstum im Lateinischen einschnappte in eine verwandte Art.
In Mitteleuropa war das ganz unmöglich, denn da hatte die Volkssprache nichts Lateinisches angenommen. Da war die Volkssprache etwas durchaus vom Lateinischen Verschiedenes. Und darüber war nun die Schicht der Bildung, die lateinisch lernte, wenn sie gebildet werden wollte. Also hier war die Differenz eine ungeheure. Ja, von dieser Differenz rührt nämlich jene Tragik für Mitteleuropa her, von der ich gestern gesprochen habe, die Tragik, die da bestand zwischen den Menschen der breiten Masse, die nicht Lateinisch lernten, die daher auch keine Wissenschaft hatten - denn Wissenschaft war das, was man auf lateinisch sagen konnte -, und denjenigen, die Wissenschaft erwarben, die also einfach in dem Momente, wo sie Wissenschaft erwarben, sich umschalteten. Im gewöhnlichen Leben, wenn sie aßen und tranken und wenn sie sonst irgendwie mit den Landesgenossen zusammen waren, da waren sie ungelehrte Leute, weil sie in der Sprache sprachen, die überhaupt nicht die Gelehrsamkeit in sich hatte. Und wenn sie Wissenschafter waren, da waren sie etwas ganz anderes, da zogen sie einen inneren Talar an. So daß eigentlich einer, der gebildet war, im Grunde genommen in sich ein zerspaltener Mensch war.
Sehen Sie, das wirkte besonders auf das Geistesleben Mitteleuropas ganz tief. Denn in der Volkssprache war durch alle möglichen Umstände, die wir ja auch einmal berühren werden, eigentlich nur dasjenige enthalten, was ich gestern angedeutet habe auf der einen Seite als ein astrologisches Element, auf der ändern Seite als ein alchimistisches Element. Das lebte schon in der Volkssprache, und die Volkssprache hatte eigentlich eine innere Spiritualität, eine innere Geistigkeit. Die Volkssprache hatte keinen Materialismus in Europa. Der Materialismus wurde der Volkssprache erst aufgedrückt aus dem Materialismus der lateinischen Sprache heraus, indem die lateinische Sprache, als sie nicht mehr die Gelehrtensprache war, den Leuten doch noch die Allüren ließ, die sich herausgebildet hatten, als sie die Gelehrtensprache wurde. Und so konnte die mitteleuropäische Sprache gar nicht dazu gelangen, einen Ausgleich, eine Harmonisierung mit demjenigen zu finden, was sich am Lateinischen herauf als Bildung festgelegt hatte...
Und weil in der Volksbildung, die nicht vom Lateinischen durchsetzt war, wenn auch in einer nicht mehr zeitgemäßen Form die alte Himmelskunde und die alte Erdkunde, Astrologie und Alchimie, fortlebten, so gesellten sich zu der Empfindung, daß Erkenntnis dasjenige ist, was man auf lateinisch sagen kann, allmählich die anderen Empfindungen: Aberglaube ist all das, was man nicht auf lateinisch sagen kann, sondern in den Volkssprachen sagen muß. Nur drücken das die Leute nicht so aus, weil sie allerlei Schönheiten über die Dinge hinüberzimmern. Aber unsere ganze Bildung ist durchdrungen auf der einen Seite von dem Satze: Wissenschaftlich ist alles das, was man in lateinische Sätze bringen kann; und auf der anderen Seite: Aberglaube ist alles das, was man nicht in lateinische Sätze bringen kann, sondern in der Volkssprache ausdrücken muß...
Sehen Sie, auf solche Dinge muß durchaus eingegangen werden, wenn man diese furchtbare Spaltung begreifen will, die heute besteht zwischen den Menschen, die in dem leben, was auf lateinische Art gezimmert worden ist, und den Menschen, die als heimatlose Seelen - ich habe den Ausdruck vor kurzem hier einmal gebraucht - aus dem Elementaren ihres eigenen Wesens heraus wiederum den Weg zum Geistigen suchen wollen. Da tritt dann die ungeheure Autorität dessen, was eine Dependance des Lateinischen ist, den Menschen entgegen. Der Respekt vor dem Lateinischen nämlich, der steckt in dem Autoritätsglauben, der unserer heutigen Wissenschaft entgegengebracht wird...
Nun hat eine Sprache, wenn sie tot wird, eine Sprache, welche diesen Rückschritt durchmacht, den die lateinische Sprache durchgemacht hat, die Tendenz, eben auch in ihren Worten zum Toten hinzuneigen. Das Tote der Welt ist aber das Materielle. Und so hat die lateinische Sprache auch da, wo sie besonders herrschend war, die Dinge zum Toten hin getrieben, nämlich zum Materiellen. Ursprünglich wußte man überall, ich habe das schon einmal berührt, was die Verwandlung des Brotes und Weines in den Leib und in das Blut Christi bedeuten, weil man die Sache noch aus dem lebendigen Erleben heraus wußte. Das Volk hätte es auch wissen können, aber die Volksalchimie galt ja als abergläubisch, die war ja nicht in lateinischer Sprache. Die lateinische Sprache aber konnte das Spirituelle nicht festhalten. Und so entstand der triviale Glaube, daß dasjenige, was man sich unter Materie des Brotes und Weines vorstellte, sich verwandeln soll, und es entstanden die ganzen Diskussionen über die Abendmahlslehre eigentlich so, daß diejenigen, die diskutierten, damit nichts anderes bewiesen, als daß sie diese Lehre in lateinischer Sprache übernommen hatten. Aber da hatten die Worte nur mehr einen toten Charakter, und man verstand das Lebendige nicht mehr, wie die heutigen Anatomen aus dem toten Leichnam auch nicht mehr den lebendigen Menschen verstehen.
Mitteleuropa hat in tief tragischer Weise das durchgemacht, indem seine Sprache nichts hatte von dem, was die lateinische Sprache heraufbrachte. Mitteleuropa hatte eine Sprache, die angewiesen gewesen wäre, in das Lebendige hineinzuwachsen. Aber das Denken war, weil ja auch dieses Denken eine Dependance war des Lateinischen, das Denken war tot. Und so fanden die Begriffe die Worte nicht und die Worte die Begriffe nicht...
Es ist mir natürlich sehr ferne, die Vorträge zu einer Philippika gegen das Lateinischlernen gestalten zu wollen. Im Gegenteil, ich möchte, daß die Menschen noch mehr Lateinisch lernen würden, damit sie auch das ins Gefühl hereinkriegen, daß man mit dem Lateinischen nur das Tote bezeichnen kann, daß das Lateinische ganz richtig in die Anatomie, in den Seziersaal hineingehört, aber daß man, wenn man wiederum das kennenlernen will, was nicht tot ist, sondern was lebt, zu dem lebendigen Elemente des Sprachlichen seine Zuflucht nehmen muß." (Lit.: GA 225, S. 102ff)
Literatur
- Rudolf Steiner: Drei Perspektiven der Anthroposophie. Kulturphänomene, geisteswissenschaftlich betrachtet., GA 225 (1990)
- Rudolf Steiner: Rhythmen im Kosmos und im Menschenwesen. Wie kommt man zum Schauen der geistigen Welt?, GA 350 (1991)
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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Weblinks
- PONS.eu Das Online-Wörterbuch - kostenloses Wörterbuch für viele Sprachen, u.a. auch für Latein.