Parmenides und Kulturgeschichte: Unterschied zwischen den Seiten

Aus AnthroWiki
(Unterschied zwischen Seiten)
imported>Odyssee
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
imported>Joachim Stiller
(Die Seite wurde neu angelegt: „Die '''Kulturgeschichte''' (bzw. '''Kulturhistorik''') befasst sich mit der Erforschung und Darstellung des geistig-kulturellen Lebens in Zeiträumen und Lands…“)
 
Zeile 1: Zeile 1:
[[Datei:Parmenides.jpg|thumb|Porträtbüste des Parmenides, angefertigt vermutlich im 3. Jh. v. Chr. nach Metrodoros von Lampsakos (Epikureer)]]
Die '''Kulturgeschichte''' (bzw. '''Kulturhistorik''') befasst sich mit der Erforschung und Darstellung des geistig-kulturellen Lebens in Zeiträumen und Landschaften.
[[Datei:Sanzio 01 Parmenides.jpg|miniatur|Parmenides in [[Wikipedia:Raphael Santi|Raphaels]] Fresko ''[[Wikipedia:Die Schule von Athen|Die Schule von Athen]]'' (1510-1511)]]


'''Parmenides aus Elea''' ({{ELSalt|Παρμενίδης}}; * um 520/515 v. Chr.; † um 460/455 v. Chr.) war einer der bedeutendsten griechischen Philosophen aus der Zeit der [[Wikipedia:Vorsokratiker|Vorsokratiker]] und lebte in der von Griechen begründeten süditalienischen Stadt [[Wikipedia:Elea|Elea]]. Im Zentrum seiner Lehre stand die ''Unveränderlichkeit des [[Sein]]s''; alle Veränderung ist ihm nur [[Schein]], entspringend dem Wahn der Sterblichen.
== Begriff und Gegenstandsbereich ==
Elemente der Kulturgeschichte sind die Familie, die Sprache, das Brauchtum, die Religion, die Kunst und die Wissenschaft. Die Kulturgeschichte beruht auf einem weiten Quellenbegriff, der z. B. auch „Alltagsquellen“ beinhaltet.


In seinem Gedicht [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Parmenides+aus+Elea/Fragmente/Aus%3A+%C3%9Cber+die+Natur Über die Natur] schildert Parmenides, wie er mit einem Rossegespann, geleitet von Mädchen, bis vor das von [[Dike]], der Göttin der [[Gerechtigkeit]], bewachte Tor geführt wird, wo sich die Pfade des Tages und der Nacht scheiden. Er wird eingelassen und soll hier durch der Göttin "verläßliches Reden und Denken" alles erfahren, "der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz und der Sterblichen Wahngedanken, denen verläßliche Wahrheit nicht innewohnt."<ref>Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. 1. Band, Berlin 1922, S 150</ref>
Die Kulturgeschichte befasst sich nicht direkt mit der politischen Geschichte oder Staatsgeschichte. In der Kulturgeschichte ist die Angabe genauer Zeitpunkte weniger relevant als in der politischen Geschichtsschreibung.


{{Zitat|Dies ist nötig zu sagen und zu denken, daß [nur] das Seiende existiert. Denn seine Existenz ist möglich, die des Nichtseienden dagegen nicht; das heiß' ich Dich wohl zu beherzigen.|Parmenides|Über die Natur, Fragment 6<ref>Diels, S 153</ref>}}
Der Begriff Kulturgeschichte geht auf das 18. Jahrhundert zurück und fußt im Glauben der [[Aufklärung]] ([[Voltaire]]) an die ständig fortschreitende kulturelle Entwicklung der Menschheit. In der deutschen [[Romantik]] ([[Johann Gottfried Herder]]) sah man jedes unbewusste Schaffen als Teil der Kulturgeschichte und erkannte in ihm den Ausdruck eines „Volksgeists“. Das 20. Jahrhundert führte zu einer [[Wikipedia:Kulturphilosophie|Kulturphilosophie]] mit Vertretern wie [[Arnold J. Toynbee]] und [[Oswald Spengler]], die ihre Erkenntnisse aus einer vergleichenden Kulturgeschichte der Völker entwickelten. [[Alfred Weber]] entwickelte die Kulturgeschichte mehr in Richtung der Geistesgeschichte zur [[Kultursoziologie]].


[[Rudolf Steiner]] bemerkt zum Denken des Parmenides:
== „Neue Kulturgeschichte“ in der Geschichtswissenschaft ==
{{Hauptartikel|Neue Kulturgeschichte}}


<div style="margin-left:20px">
Unter Kulturgeschichte werden in der [[Geschichtswissenschaft]] sehr unterschiedliche Konzepte verstanden. Zum einen gibt es Historiker, die unter „Kulturgeschichte“ bestimmte Forschungsgegenstände verstehen, die in der Regel von der politischen Geschichte abgegrenzt werden. Zum anderen wird in jüngerer Zeit von Historikern wie [[Ute Daniel]], [[Barbara Stollberg-Rilinger]] oder [[Thomas Mergel]] ein Kulturgeschichtsbegriff vertreten, der sich nicht auf bestimmte Gegenstände bezieht.
"Parmenides sieht in der äußeren Natur, welche die Sinne betrachten, das Unwahre, Täuschende; in der Einheit, dem Unvergänglichen, das der Gedanke ergreift, allein das Wahre." {{Lit|{{G|018|57}}}}
</div>


{{Zitat|Denken und des Gedankens Ziel ist ein und dasselbe; denn nicht ohne das Seiende, in dem es sich ausgesprochen findet, kannst Du das Denken antreffen. Es gibt ja nichts und wird nichts anderes geben außerhalb des Seienden, da es ja das Schicksal an das unzerstückelte und unbewegliche Wesen gebunden hat. Darum muß alles leerer Schall sein, was die Sterblichen [in ihrer Sprache] festgelegt haben, überzeugt, es sei wahr: Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Veränderung des Ortes und Wechsel der leuchtenden Farbe.|Parmenides|Über die Natur, Fragment 8<ref>Diels, S 157</ref>}}
In den 1980er Jahren entstand innerhalb der [[Sozialgeschichte]] eine kritische Forschungsrichtung, die insbesondere die „Suche nach sozialen, politischen und vor allem ökonomischen Determinanten/Faktoren und den daraus erklärbaren langfristigen Prozessen“ als „eurozentrische Fortschrittsgeschichte“ ablehnte. In dieser „sozial-, politik- oder wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Struktur- und Prozessgeschichte“ komme die „kulturelle Kreativität der Menschen in der Gestaltung ihrer Lebenszusammenhänge“ nicht ‚angemessen‘ zum Tragen.<ref>Lutz Raphael: ''Geschichtswissenschaft der Extreme'', S. 233.</ref> So wurde mit einer „neuen Kulturgeschichte“ ''(New Cultural History)'' das Forschungsinteresse auf „symbolische Formen der Vergangenheit“ gelenkt wie „Zeichen, Metaphern, politische Sprachen, kollektive Repräsentationen oder Rituale“. Die Übergange zur Sozialgeschichte sind daher in der Praxis fließend.<ref>Lutz Raphael: ''Geschichtswissenschaft der Extreme'', S. 228.</ref>


<div style="margin-left:20px">
Es geht dieser neuen Kulturgeschichte also darum, eine bestimmte, eben kulturgeschichtliche, [[Wikipedia:Perspektive|Perspektive]] nicht nur auf hochkulturelle Gegenstände zu richten. Auf diese Weise wird der Anspruch erhoben, gerade auch Gegenstände auf kulturgeschichtlichem Weg zu erforschen, von denen sich die traditionelle Kulturgeschichtsschreibung immer deutlich abgrenzte, wie der Politik und dem Recht. Im Zentrum einer kulturgeschichtlichen Analyse des Politischen und Rechtlichen stehen im Gegensatz zur traditionellen Politikgeschichte die kommunikativen Prozesse gerade auch im Alltagsleben. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive sind politische und rechtliche Institutionen keine objektiven Gegebenheiten mit rationaler Struktur, sondern Kondensate kommunikativ erhobener, anerkannter oder zurückgewiesener Geltungsansprüche. [[Wikipedia:Kommunikation|Kommunikation]] wird dabei als Zeichenaustausch verstanden, weswegen besonders elaborierte Zeichen – Symbole, Rituale oder Zeremonien – für die neue Kulturgeschichte eine prominente Rolle spielen. Denn Text- und Symbolquellen eröffnen keinen objektiven Blick auf die Tatsachen der Geschichte, sondern liefern lediglich Hinweise auf die sprachliche Kommunikation der Vergangenheit. Dieser als ''Linguistic Turn'' ([[Wikipedia:Linguistische WEnde|Linguistische Wende]]) in die Geschichtswissenschaft eingegangener Paradigmenwechsel basierte auf der Auffassung, dass auch „soziale Lagen, Marktzwänge oder demografische Entwicklung ihrerseits als eigenständige Faktoren auf die semiotische Praktiken der betroffenen Menschen einwirken“.<ref>Lutz Raphael: ''Geschichtswissenschaft der Extreme'', S. 233 f.</ref>
Man wird die Bedeutung dieser Weltanschauung,
die man die eleatische nennt (Parmenides und Zenon sind
aus Elea), erkennen, wenn man den Blick darauf lenkt,
daß ihre Träger mit der Ausbildung des Gedanken-Erlebens
so weit fortgeschritten sind, daß sie dieses Erleben zu
einer besonderen Kunst, zur sogenannten Dialektik gestaltet
haben. In dieser «Gedanken-Kunst» lernt sich die
Seele in ihrer Selbständigkeit und inneren Geschlossenheit
erfühlen. Damit wird die Realität der Seele als das empfunden,
was sie durch ihr eigenes Wesen ist, und als was
sie sich dadurch fühlt, daß sie nicht mehr, wie in der Vorzeit,
das allgemeine Welt-Erleben mitlebt, sondern in sich
ein Leben - das Gedanken-Erleben - entfaltet, das in ihr
wurzelt, und durch das sie sieb eingepflanzt fühlen kann
in einen rein geistigen Weltengrund. Zunächst kommt
diese Empfindung noch nicht in einem deutlich ausgesprochenen
Gedanken zum Ausdruck; man kann sie aber als
Empfindung lebendig in diesem Zeitalter fühlen an der
Schätzung, welche ihr zuteil wird. Nach einem «Gespräche»
Piatos wurde von Parmenides dem jungen Sokrates gesagt:
er solle von Zenon die Gedankenkunst lernen, sonst müßte
ihm die Wahrheit ferne bleiben. Man empfand diese «Gedankenkunst» als eine Notwendigkeit für die Menschenseele,
die an die geistigen Urgründe des Daseins herantreten
will." {{Lit|{{G|018|57}}}}
</div>


Zuletzt vergleicht Parmenides die Vollkommenheit des Seins mit der vollkommenen Gestalt einer Kugel:
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Kulturgeschcihte}}


{{Zitat|Aber da eine letzte Grenze vorhanden, so ist [das Seiende] abgeschlossen nach allen Seiten hin, vergleichbar der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte nach allen Seiten hin gleich stark. Es darf ja nicht da und dort etwa größer oder schwächer sein. Denn da gibt es weder ein Nichts, das eine Vereinigung aufhöbe, noch kann ein Seiendes irgendwie hier mehr, dort weniger vorhanden sein als das Seiende, da es ganz unverletzlich ist. Denn [der Mittelpunkt,] wohin es von allen Seiten gleichweit ist, zielt gleichmäßig auf die Grenzen.|Parmenides|Über die Natur, Fragment 8<ref>Diels, S 157-158</ref>}}
== Literatur ==
* Maryanne Cline Horowitz (Hrsg.): ''New Dictionary of the History of Ideas''. Thomson Gale, Detroit 2005, ISBN 0-684-31377-4.
* Peter Burke: ''What is cultural history?'' Polity PRess, Cambridge 2008, ISBN 978-0-7456-4410-3 (EA Cambridge 2004).
**deutsche Übersetzung: ''Was ist Kulturgeschichte?''. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-518-58442-1.
* Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.): ''Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung''. Reclam, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009638-3.
* Ute Daniel: ''Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter''. 5., durchges. u. akt. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2006, ISBN 3-518-29123-8
* Lars Deile: ''Die Sozialgeschichte entlässt ihre Kinder. Ein Orientierungsversuch in der Debatte um Kulturgeschichte''. In: ''Archiv für Kulturgeschichte'', Bd. 87 (2005), S. 1–25, {{ISSN|0003-9233}}.
* Martin Eichhorn: ''Kulturgeschichte der „Kulturgeschichten“. Typologie einer Literaturgattung'' (Epistemata; Bd. 417). Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 978-3-8260-2341-5 (zugl. Dissertation, Humboldt-Universität, Berlin 2001).
* Michael Erbe: ''Die Erfindung der Antike. Das Altertum und der Aufbruch in die Neuzeit''. wjs-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-937989-07-2
* Michael Maurer: ''Kulturgeschichte. Eine Einführung'' (UTB; Bd. 3060). Böhlau, Köln 2008, ISBN 978-3-8252-3060-9.
* Jean-Pierre V. M. Hérubel: ''Observations on an Emergent Specialization. Contemporary French Cultural History. Significance for Scholarship''. In: ''Journal of Scholarly Publishing'', Bd. 41 (2010), Heft 2, S. 216–240, {{ISSN|0036-634X}}
* Philippe Poirrier: ''Les enjeux de l’histoire culturelle'' (Points. Histoire; Bd. 342). Seuil, Paris 2004, ISBN 2-02-049245-8.
* Philippe Poirrier (Hrsg.): ''L’Histoire culturelle. Un « tournant mondial » dans l’historiographie?'' Éditions universitaires de Dijon, Dijon 2008, ISBN 978-2-915611-06-9.
* Barbara Stollberg-Rilinger: ''Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?'' (Zeitschrift für historische Forschung / Beiheft; 35). Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11868-5.
* Silvia Serena Tschopp, Wolfgang E. Weber: ''Grundfragen der Kulturgeschichte'' (Kontroversen um die Geschichte). WBG, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-17429-4.
* Hans-Ulrich Wehler: ''Die Herausforderung der Kulturgeschichte'' (Beck'sche Reihe; Bd. 1276). C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-42076-1.
* ''[[Werkstatt Geschichte]]. Werkstatt für kritische und innovative Geschichtsschreibung'', Bd. 1 (1992)ff. {{ISSN|0942-704X}}.
* Achim Landwehr: ''Kulturgeschichte'' (UTB; Bd. 3037). Ulmer, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8252-3037-1.
* Lutz Raphael: ''Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart'' (Beck'sche Reihe; Bd. 1543). 2. Aufl. C. H. Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-60344-0.


== Anmerkungen ==
== Weblinks ==
{{Wiktionary}}
* ''Cultura Histórica:'' [http://www.culturahistorica.es/welcome.html Texte für Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung] Zahlreiche Links im Bereich "Texts", erschlossen über Autor oder Thema, in engl. oder span. (selten franz.) Sprache. Ausführliche Bibliographie, in 9 Themenblöcken sortiert
* Achim Landwehr: ''[http://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte Kulturgeschichte]'', Version: 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 14. Mai 2013
* Thomas Mergel: ''[http://docupedia.de/zg/Kulturgeschichte_der_Politik_Version_2.0_Thomas_Mergel Kulturgeschichte der Politik]'', Version: 2.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 22. Oktober 2012


== Einzelnachweise ==
<references/>
<references/>


==Literatur==
{{Normdaten|TYP=s|GND=7503708-7}}
#Rudolf Steiner: ''Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt'', [[GA 18]] (1985), ISBN 3-7274-0180-X; '''Tb 610/11''', ISBN 978-3-7274-6105-7 {{Schriften|018}}
 
{{GA}}
 
== Weblinks ==
 
* {{Zeno-Werk|Philosophie/M/Parmenides+aus+Elea/Fragmente/Aus%3A+Über+die+Natur|Über die Natur}}


[[Kategorie:Geschichtswissenschaft]]
[[Kategorie:Kulturgeschichte]]
[[Kategorie:Kultur]]


[[Kategorie:Philosoph]] [[Kategorie:Biographie]] [[Kategorie:Mann]]
{{Wikipedia}}

Version vom 14. September 2017, 19:27 Uhr

Die Kulturgeschichte (bzw. Kulturhistorik) befasst sich mit der Erforschung und Darstellung des geistig-kulturellen Lebens in Zeiträumen und Landschaften.

Begriff und Gegenstandsbereich

Elemente der Kulturgeschichte sind die Familie, die Sprache, das Brauchtum, die Religion, die Kunst und die Wissenschaft. Die Kulturgeschichte beruht auf einem weiten Quellenbegriff, der z. B. auch „Alltagsquellen“ beinhaltet.

Die Kulturgeschichte befasst sich nicht direkt mit der politischen Geschichte oder Staatsgeschichte. In der Kulturgeschichte ist die Angabe genauer Zeitpunkte weniger relevant als in der politischen Geschichtsschreibung.

Der Begriff Kulturgeschichte geht auf das 18. Jahrhundert zurück und fußt im Glauben der Aufklärung (Voltaire) an die ständig fortschreitende kulturelle Entwicklung der Menschheit. In der deutschen Romantik (Johann Gottfried Herder) sah man jedes unbewusste Schaffen als Teil der Kulturgeschichte und erkannte in ihm den Ausdruck eines „Volksgeists“. Das 20. Jahrhundert führte zu einer Kulturphilosophie mit Vertretern wie Arnold J. Toynbee und Oswald Spengler, die ihre Erkenntnisse aus einer vergleichenden Kulturgeschichte der Völker entwickelten. Alfred Weber entwickelte die Kulturgeschichte mehr in Richtung der Geistesgeschichte zur Kultursoziologie.

„Neue Kulturgeschichte“ in der Geschichtswissenschaft

Unter Kulturgeschichte werden in der Geschichtswissenschaft sehr unterschiedliche Konzepte verstanden. Zum einen gibt es Historiker, die unter „Kulturgeschichte“ bestimmte Forschungsgegenstände verstehen, die in der Regel von der politischen Geschichte abgegrenzt werden. Zum anderen wird in jüngerer Zeit von Historikern wie Ute Daniel, Barbara Stollberg-Rilinger oder Thomas Mergel ein Kulturgeschichtsbegriff vertreten, der sich nicht auf bestimmte Gegenstände bezieht.

In den 1980er Jahren entstand innerhalb der Sozialgeschichte eine kritische Forschungsrichtung, die insbesondere die „Suche nach sozialen, politischen und vor allem ökonomischen Determinanten/Faktoren und den daraus erklärbaren langfristigen Prozessen“ als „eurozentrische Fortschrittsgeschichte“ ablehnte. In dieser „sozial-, politik- oder wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Struktur- und Prozessgeschichte“ komme die „kulturelle Kreativität der Menschen in der Gestaltung ihrer Lebenszusammenhänge“ nicht ‚angemessen‘ zum Tragen.[1] So wurde mit einer „neuen Kulturgeschichte“ (New Cultural History) das Forschungsinteresse auf „symbolische Formen der Vergangenheit“ gelenkt wie „Zeichen, Metaphern, politische Sprachen, kollektive Repräsentationen oder Rituale“. Die Übergange zur Sozialgeschichte sind daher in der Praxis fließend.[2]

Es geht dieser neuen Kulturgeschichte also darum, eine bestimmte, eben kulturgeschichtliche, Perspektive nicht nur auf hochkulturelle Gegenstände zu richten. Auf diese Weise wird der Anspruch erhoben, gerade auch Gegenstände auf kulturgeschichtlichem Weg zu erforschen, von denen sich die traditionelle Kulturgeschichtsschreibung immer deutlich abgrenzte, wie der Politik und dem Recht. Im Zentrum einer kulturgeschichtlichen Analyse des Politischen und Rechtlichen stehen im Gegensatz zur traditionellen Politikgeschichte die kommunikativen Prozesse gerade auch im Alltagsleben. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive sind politische und rechtliche Institutionen keine objektiven Gegebenheiten mit rationaler Struktur, sondern Kondensate kommunikativ erhobener, anerkannter oder zurückgewiesener Geltungsansprüche. Kommunikation wird dabei als Zeichenaustausch verstanden, weswegen besonders elaborierte Zeichen – Symbole, Rituale oder Zeremonien – für die neue Kulturgeschichte eine prominente Rolle spielen. Denn Text- und Symbolquellen eröffnen keinen objektiven Blick auf die Tatsachen der Geschichte, sondern liefern lediglich Hinweise auf die sprachliche Kommunikation der Vergangenheit. Dieser als Linguistic Turn (Linguistische Wende) in die Geschichtswissenschaft eingegangener Paradigmenwechsel basierte auf der Auffassung, dass auch „soziale Lagen, Marktzwänge oder demografische Entwicklung ihrerseits als eigenständige Faktoren auf die semiotische Praktiken der betroffenen Menschen einwirken“.[3]

Siehe auch

Literatur

  • Maryanne Cline Horowitz (Hrsg.): New Dictionary of the History of Ideas. Thomson Gale, Detroit 2005, ISBN 0-684-31377-4.
  • Peter Burke: What is cultural history? Polity PRess, Cambridge 2008, ISBN 978-0-7456-4410-3 (EA Cambridge 2004).
    • deutsche Übersetzung: Was ist Kulturgeschichte?. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-518-58442-1.
  • Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Reclam, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009638-3.
  • Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. 5., durchges. u. akt. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2006, ISBN 3-518-29123-8
  • Lars Deile: Die Sozialgeschichte entlässt ihre Kinder. Ein Orientierungsversuch in der Debatte um Kulturgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 87 (2005), S. 1–25, ISSN 0003-9233.
  • Martin Eichhorn: Kulturgeschichte der „Kulturgeschichten“. Typologie einer Literaturgattung (Epistemata; Bd. 417). Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, ISBN 978-3-8260-2341-5 (zugl. Dissertation, Humboldt-Universität, Berlin 2001).
  • Michael Erbe: Die Erfindung der Antike. Das Altertum und der Aufbruch in die Neuzeit. wjs-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-937989-07-2
  • Michael Maurer: Kulturgeschichte. Eine Einführung (UTB; Bd. 3060). Böhlau, Köln 2008, ISBN 978-3-8252-3060-9.
  • Jean-Pierre V. M. Hérubel: Observations on an Emergent Specialization. Contemporary French Cultural History. Significance for Scholarship. In: Journal of Scholarly Publishing, Bd. 41 (2010), Heft 2, S. 216–240, ISSN 0036-634X
  • Philippe Poirrier: Les enjeux de l’histoire culturelle (Points. Histoire; Bd. 342). Seuil, Paris 2004, ISBN 2-02-049245-8.
  • Philippe Poirrier (Hrsg.): L’Histoire culturelle. Un « tournant mondial » dans l’historiographie? Éditions universitaires de Dijon, Dijon 2008, ISBN 978-2-915611-06-9.
  • Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für historische Forschung / Beiheft; 35). Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11868-5.
  • Silvia Serena Tschopp, Wolfgang E. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte (Kontroversen um die Geschichte). WBG, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-17429-4.
  • Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte (Beck'sche Reihe; Bd. 1276). C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-42076-1.
  • Werkstatt Geschichte. Werkstatt für kritische und innovative Geschichtsschreibung, Bd. 1 (1992)ff. ISSN 0942-704X.
  • Achim Landwehr: Kulturgeschichte (UTB; Bd. 3037). Ulmer, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8252-3037-1.
  • Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (Beck'sche Reihe; Bd. 1543). 2. Aufl. C. H. Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-60344-0.

Weblinks

 Wiktionary: Kulturgeschichte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft der Extreme, S. 233.
  2. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft der Extreme, S. 228.
  3. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft der Extreme, S. 233 f.


Dieser Artikel basiert (teilweise) auf dem Artikel Kulturgeschichte aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.