Gundishapur und Paul Broca: Unterschied zwischen den Seiten

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Die Stadt '''Gundishapur''' (auch '''Gondishapur''', Mittelpersisch: why-'andywk-shpwhry – ''das bessere Antiochia Schapurs''; Syrisch: ''Beth-Lapat'') liegt südlich von dem Dorf Schahadad in nördlichen Bereich der heutigen [[Wikipedia:Iran|iranischen]] Provinz [[Wikipedia:Khuzistan|Khuzistan]], ca. 10 südlich von [[Wikipedia:Dizful|Dizful]], unweit des Flusses [[Wikipedia:Karun|Karun]]. Sie war eine der wichtigsten, vielleicht sogar die zweitgrößte Stadt des [[Wikipedia:Sassanidenreich|Sassanidenreich]]es und Sitz der [[Akademie von Gundishapur]], einem kulturell-wissenschaftlichen Zentrum des vor-islamischen Persiens.
[[Datei:Paul Broca.jpg|mini|Paul Broca]]


== Geschichte ==
'''Pierre Paul Broca''' (* 28. Juni 1824 in Sainte-Foy-la-Grande, Département Gironde; † 9. Juli 1880 in [[Paris]]) war ein französischer [[Medizin|Mediziner]], [[Chirurg]], [[Anatomie|Anatom]], [[Pathologe]] und [[Anthropologe]]. Nach ihm wurde u. a. eine schwere Sprachstörung benannt, die sogenannte [[Broca-Aphasie]] (siehe Fall des „Monsieur Tan“), sowie die entsprechende Gehirnregion ([[Broca-Areal]]). Er beschrieb 1878 erstmals einen „großen limbischen Lappen“, der heute als [[limbisches System]] bezeichnet wird.


Die Stadt wurde von [[Wikipedia:Schapur I.|Schapur I.]] nach der Eroberung der [[Wikipedia:Römisches Reich|römischen]] Metropole [[Wikipedia:Antiochia am Orontes|Antiochia am Orontes]] gegründet und wurde auch ''Antiochia Schapurs'' genannt, wobei es Anzeichen gibt, dass es sich nicht um eine völlige Neugründung, sondern um die Umbenennung einer älteren Stadt handelt. In der Stadt wurden viele aus Antiochia Deportierte angesiedelt. Die Stadt soll auch, vor allem unter Schapur I., als sassanidische Winterresidenz gedient haben. Hier soll auch der gefangene römische Kaiser [[Wikipedia:Valerian|Valerian]] krank geworden und gestorben sein.  
== Leben ==
Pierre Paul Broca wurde in eine protestantische Familie geboren. Der Vater Benjamin Broca war Arzt und Chirurg der Kaiserlichen Armee, die Mutter Annette Thomas  die Tochter eines protestantischen Pastors, der in der [[Französische Revolution|Revolutionszeit]] Bürgermeister von [[Bordeaux]] war.<ref>Daniel Frédy: ''Paul Broca.'' In: ''Histoire des sciences médicales,'' Bd. XXX/2, 1996, S.&nbsp;199.</ref>


Gundishapur war Schauplatz zahlreicher christlicher und [[Manichäismus|manichäischer]] Martyrien. Hier starben [[Mani]] und der christliche [[Wikipedia:Katholikos|Katholikos]] [[Wikipedia:Simon bar Sabbae|Simon bar Sabbae]]. Sie war Sitz eines christlichen Metropoliten, [[Wikipedia:484|484]] wurde hier auf der ''Synode von Beth-Lapat'' die Lehre des [[Wikipedia:Nestorios|Nestorios]] als verbindlich für die Christen im persischen Reich festgelegt (siehe auch [[Wikipedia:Assyrische Kirche des Ostens|Assyrische Kirche des Ostens]]).  
Hochbegabt, wurde er gleichzeitig Baccalaureus in Literatur, Mathematik und Physik. Mit siebzehn inskribierte er an der Medizinischen Fakultät der Pariser Universität und erhielt sein Medizin-Diplom mit zwanzig, in einem Alter, in dem seine Altersgenossen mit dem Studium begannen.


Die Stadt bestand noch bis in die islamische Zeit, verlor aber an Bedeutung. Der letzte Bischof ist 1318 bezeugt.
Broca wurde Professor für Chirurgische Pathologie an der Pariser Universität (damals: ''Académie de Paris'') und widmete sich der medizinischen Forschung auf mehreren Gebieten. Mit 24 Jahren war er bereits berühmt, überhäuft mit Auszeichnungen und Preisen.


== Archäologie ==
Er scheint einen bemerkenswerten Charakter gehabt zu haben. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als „großzügig, einfühlsam und liebenswürdig“. 1848 gründete er die Société des libres-penseurs (Freidenker-Gesellschaft), war Anhänger der Theorie der natürlichen [[Selektion (Evolution)|Selektion]] [[Charles Darwin|Darwins]] und wurde angezeigt als subversiver [[Materialismus|Materialist]], der die Jugend verderbe.
[[Bild:Gondeshapur.gif|thumb|350px|Gondeshapur]]
 
Die Stadt war nie das Ziel größerer Ausgrabungen. 1963 wurde der Ort kurz bei einem [[Wikipedia:Survey|Survey]] untersucht, der immerhin eine grobe Vorstellung vom einstigen Aussehen der Stadt lieferte. Die Ruinen verteilen sich auf eine Fläche von ca. 3 x 2 km. Die Straßen der Stadt sind nach einem schachbrettartigem Muster ausgelegt, was auf eine griechische Gründung deuten mag, vielleicht das Werk der aus Antiochia stammenden Einwohner der Stadt. Dies korrespondiert mit der Beschreibung arabischer Geographen wie [[Wikipedia:Hamzah al-Isfahani|Hamzah al-Isfahani]] und [[Wikipedia:Yaqut|Yaqut]], die berichten, dass die Stadt in ihrer Länge und Breite von jeweils acht Straßen, die sich im rechten Winkel trafen, durchkreuzt wurde.
In unermüdlicher Arbeit hat er Hunderte Bücher und Artikel geschrieben, davon 53 über das Gehirn. Er suchte die Gesundheitsfürsorge für Mittellose zu verbessern und setzte sich für das öffentliche Gesundheitswesen ein. Unter seinen Studenten sind [[Paul Topinard]] und [[Joseph Deniker]] zu nennen.
 
Broca starb plötzlich, nur 56 Jahre alt, am 8. oder 9. Juli 1880, wahrscheinlich durch eine Gehirnblutung infolge der [[Ruptur]] eines Gehirnarterien-[[Aneurysma]]s. Sein Nachfolger als zoologischer Anthropologe wurde der Histologe und Anatom Mathias Marie Duval<ref>Barbara I. Tshisuaka: ''Duval, Mathias Marie.'' In: [[Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 329.</ref> (1844–1907).
 
== Wissenschaftliche Arbeit ==
Seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten sind Beiträge zur Histologie der Knorpel und Knochen, aber er studiert auch den [[Krebs (Medizin)|Krebs]], die Behandlung des Aneurismas und die Kindersterblichkeit.
Seine Arbeiten zur Neuroanatomie haben zu einem besseren Verständnis des [[Limbisches System|limbischen Systems]] und des [[Olfaktorischer Cortex|olfaktorischen Cortex]] (Rhinenzephalon) beigetragen.
 
1859 berichteten Broca und sein Kollege Eugène Azam vor der [[Académie des sciences]] über einen chirurgischen Eingriff unter [[Hypnose|hypnotischer]] [[Anästhesie]].
 
=== Der Fall „Monsieur Tan“ ===
[[Datei:Monsieur tan gehirn.jpeg|mini|Gehirn des Monsieur Tan]]
Was Broca einen Platz in der Medizingeschichte sichert, ist seine Entdeckung des [[Sprachzentrum]]s im Gehirn, heute bekannt als [[Broca-Areal]], gelegen im dritten [[Gyrus]] (Gehirnwindung) des [[Frontallappen]]s der linken Gehirnhälfte.
 
Er studierte um das Jahr 1860 Patienten mit einer [[Aphasie]] (Sprachstörung). Sein erster Patient namens Leborgne im Pariser Hôpital Kremlin-Bicêtre konnte nur noch die Silbe ‚Tan‘ aussprechen, weswegen er den Spitznamen „Tan“ erhielt. Das Sprachverständnis dagegen schien nicht beeinträchtigt zu sein: Er war durchaus noch in der Lage, ihm gestellte Fragen zu verstehen. Durch [[Prosodie|prosodische]] Artikulation verschiedener Betonungsmuster, Tonhöhen und Aneinanderreihungen dieser einen Silbe versuchte „Monsieur Tan“ die Fragen zu beantworten. Die postmortale Autopsie ergab, dass ein Teil der linken Gehirnhälfte zwischen dem Frontallappen und dem [[Temporallappen]] eine [[Neurosyphilis|neurosyphilitische]] [[Läsion]] aufwies.
 
Broca folgerte daraus, dass diese Stelle maßgeblich an der [[Sprachproduktion]] beteiligt sein müsse. Aus Brocas Befunden entstand die Vorstellung der [[Lateralisation des Gehirns|Lateralisation]], also der „asymmetrischen Repräsentation bestimmter Funktionen im Gehirn“.<ref>Christoph Hermann & Christian Fiebach: ''Gehirn & Sprache''. Verlag Clausen & Bosse, Leck 2004, S. 6.</ref>
 
Er stellte seine Entdeckung 1861 in der [[Société d’anthropologie de Paris]] (Anthropologische Gesellschaft von Paris) im Lauf einer heftigen Diskussion mit den Verfechtern der [[Holismus|holistischen]] Gehirntheorie vor.<ref>''Bulletin de la société française d’anthropologie''. Text n°1: Sitzung am 18. April 1861, Bd. 2, S. 235–238; Text n°2: Sitzung am 16. April 1863, Bd. 4, S. 200–204. [http://www.bibnum.education.fr/sciencesdelavie/neurologie/laphasie-de-broca bibnum.education.fr]</ref>
 
Das Broca-Areal ist einer von mehreren Bereichen im Gehirn, welche zusammen das [[Sprachzentrum]] bilden: Während das [[Wernicke-Zentrum]] (benannt nach [[Carl Wernicke]]) dem Verstehen von [[Sprache]] dient, steuert das Broca-Areal maßgeblich die Erzeugung (Motorik) der Sprache.
 
=== Anthropologische Forschung ===
Broca ist auch ein Pionier der physischen [[Anthropologie]].
Er gründet 1859 die Société d’Anthropologie de Paris und 1876 die [[École d’anthropologie]]. Er entwickelt neue Messinstrumente und neue numerische Indizes für die [[Kraniometrie]]. Der Gebrauch und Missbrauch seiner Messungen und Schlussfolgerungen durch [[Rassismus|rassistische]] [[Ideologie]]n wurde ausführlich von [[Stephen Jay Gould]] besprochen.<ref>Stephen Jay Gould: ''[[The Mismeasure of Man]]''. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-03972-2 (= ''Der falsch vermessene Mensch''. Suhrkamp, Frankfurt 1983, ISBN 3-518-28183-6).</ref> Broca selbst hat rassistischen Deutungen seiner Forschung Vorschub geleistet.<ref>Paul Broca: [http://books.google.fr/books?id=eQMSAAAAYAAJ&pg=PA48 ''Sur le volume et la forme du cerveau suivant les individus et suivant les races.''] S.&nbsp;48, Auszug aus Bd. II der ''Bulletins de la Societé d’anthropologie,'' Sitzungen vom 21. März und 2. Mai 1861.</ref> Er hatte die Hypothese formuliert, dass „die relative Kleinheit des Gehirns der Frau zugleich von ihrer physischen und intellektuellen Unterlegenheit“ abhinge.<ref>Paul Broca: [http://books.google.fr/books?id=eQMSAAAAYAAJ&pg=PA15 ''Sur le volume et la forme du cerveau suivant les individus et suivant les races'' (Über Volumen und Form des Gehirns je nach Individuen und Rassen)], S.&nbsp;15, Auszug aus Bd. II der ''Bulletins de la Société d’anthropologie,'' Sitzungen vom 21. März und 2. Mai 1861.</ref>
 
=== Vergleichende Anatomie ===
Ein anderer Bereich, in dem Broca geforscht hat, ist die vergleichende [[Anatomie]] der [[Primaten]]. Er entdeckte zum ersten Mal Heilungsspuren an [[Trepanation|trepanierten]] Schädeln aus dem [[Neolithikum]]. Er interessierte sich für die Relation zwischen dem menschlichen [[Schädel]] und dem [[Gehirn]] mit seinen mentalen Eigenschaften und seiner Intelligenz. Dabei bestritt er die These von [[Friedrich Tiedemann]], der behauptete, man könne die schwarze und die weiße Rasse nicht nach ihrer Schädelkapazität unterscheiden, und vermaß menschliche Schädel zur Untermauerung seiner Hypothese, dass die Kleinheit ihres Gehirns eine charakteristische Unterlegenheit primitiver Völker darstelle:
{{" |lang=fr |Text=On a vu que la capacité cranienne des nègres de l’Afrique occidentale (1&nbsp;372,12 cm³) est inférieure d’environ 100 cm³ à celle des races d’Europe. |Deutsch=Man hat gesehen, daß die Schädelkapazität der Neger Westafrikas um ungefähr 100 cm³ kleiner ist als die der europäischen Rassen.}}<ref>P. Broca: ''Sur les crânes de la caverne de l ’homme-mort.'' In: ''Revue d’Anthropologie'', 1873/2, 1–53, zitiert nach Stephen Jay Gould: ''La Mal-mesure de l’homme.'' S.&nbsp;97.</ref><ref>Stephen Jay Gould: ''[[The Mismeasure of Man]]''. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-03972-2. (= ''Der falsch vermessene Mensch.'' Suhrkamp, Frankfurt 1983, ISBN 3-518-28183-6.)</ref>
 
Schließlich war Broca auch ein Pionier der Gehirnabbildung. Er erfand eine „thermometrische Krone“, mit der er hoffte, die Temperaturänderungen des Schädels zu messen, die von Veränderungen der Gehirnaktivität verursacht werden.<ref>L. Cohen, M.J. Smith, V. Lroux-Hugon: [http://jnnp.bmjjournals.com/cgi/content/full/75/1/32 ''Paul Broca’s thermometric Crown.'']</ref>
 
Der von Broca entwickelte [[Broca-Index]] dient zur einfachen Bestimmung des Normalgewichts einer Person, ist aber ungenauer als der [[Body Mass Index]] (BMI) und wird nicht mehr verwendet.
 
=== Darwin versus Broca ===
Im Jahr 1868 kritisierte der britische [[Naturgeschichte|Naturforscher]] [[Charles Darwin]] Broca, weil Broca an die Existenz einer schwanzlosen [[Mutation|Mutante]] des [[Ceylonhuhn|Ceylonhuhns]] glaubte, die der [[Niederlande|niederländische]] [[Zoologie|Zoologe]] [[Coenraad Jacob Temminck]] 1807 beschrieben hatte.<ref>Grouw, Hein van, Dekkers, Wim & Rookmaaker, Kees (2017). On Temminck’s tailless Ceylon Junglefowl, and how Darwin denied their existence. ''Bulletin of the British Ornithologists’ Club (London)'', 137 (4), 261-271. {{DOI|10.25226/bboc.v137i4.2017.a3}}</ref>
 
=== Ehrungen und Auszeichnungen ===
Gegen Ende seines Lebens wird Broca zum Sénateur à vie (Senator auf Lebenszeit) gewählt. Er war Mitglied der [[Académie de médicine]] und wurde von mehreren französischen und ausländischen Institutionen geehrt. So war er korrespondierendes Mitglied der [[Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte]]. Im Jahr 1858 wurde Broca zum Mitglied der Gelehrtenakademie [[Leopoldina]] gewählt.
 
Brocas Name ist auf dem [[Eiffelturm]] in einer [[Liste der 72 Namen auf dem Eiffelturm|Liste von 72 Namen]] genannt. Das Hôpital Broca, ein auf Gerontologie spezialisiertes öffentliches Krankenhaus in Paris, trägt seinen Namen, ebenso eine der drei medizinischen Fakultäten der [[Université Bordeaux&nbsp;II]]. Sein Name schmückt das Berufs-Lyzeum in seiner Heimatstadt Ste-Foy la Grande.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* [[Akademie von Gundishapur]] (dort auch weitere Literatur)
* {{WikipediaDE|Paul Broca}}
* {{WikipediaDE|Sprachzentrum}}
* {{WikipediaDE|Lateralisation des Gehirns}}
* {{WikipediaDE|The Mismeasure of Man}}


== Literatur ==
== Weblinks ==
* [http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/people/data?id=per335 Kurzbiografie und digitale Quellen im Volltext] im Virtual Laboratory des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (englisch)


* Daniel T. Potts: ''The Archaeology of Elam''. Cambridge University Press, Cambridge 1999, S. 419–424, ISBN 0-521-56358-5.
== Einzelnachweise und Anmerkungen ==
<references />


== Weblinks ==
{{Normdaten|TYP=p|GND=119198681|LCCN=n/80/12987|VIAF=14766849}}
* [http://www.cais-soas.com/CAIS/Geography/gonde_shapur_city.htm Artikel zur Stadt (englisch) bei ''The Circle of Ancient Iranian Studies (CAIS)'']
* {{EIr|http://www.iranica.com/articles/v11f2/v11f2020.html}}
* {{EIr|http://www.iranica.com/newsite/articles/v4f2/v4f2a051.html}} (zu Beth-Lapat)


[[Kategorie:Sassaniden]]
{{SORTIERUNG:Broca, Paul}}
[[Kategorie:Neurologe]]
[[Kategorie:Neurowissenschaftler]]
[[Kategorie:Mediziner (19. Jahrhundert)]]
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[[Kategorie:Geboren 1824]]
[[Kategorie:Gestorben 1880]]
[[Kategorie:Mann]]


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Version vom 9. Oktober 2018, 10:22 Uhr

Paul Broca

Pierre Paul Broca (* 28. Juni 1824 in Sainte-Foy-la-Grande, Département Gironde; † 9. Juli 1880 in Paris) war ein französischer Mediziner, Chirurg, Anatom, Pathologe und Anthropologe. Nach ihm wurde u. a. eine schwere Sprachstörung benannt, die sogenannte Broca-Aphasie (siehe Fall des „Monsieur Tan“), sowie die entsprechende Gehirnregion (Broca-Areal). Er beschrieb 1878 erstmals einen „großen limbischen Lappen“, der heute als limbisches System bezeichnet wird.

Leben

Pierre Paul Broca wurde in eine protestantische Familie geboren. Der Vater Benjamin Broca war Arzt und Chirurg der Kaiserlichen Armee, die Mutter Annette Thomas die Tochter eines protestantischen Pastors, der in der Revolutionszeit Bürgermeister von Bordeaux war.[1]

Hochbegabt, wurde er gleichzeitig Baccalaureus in Literatur, Mathematik und Physik. Mit siebzehn inskribierte er an der Medizinischen Fakultät der Pariser Universität und erhielt sein Medizin-Diplom mit zwanzig, in einem Alter, in dem seine Altersgenossen mit dem Studium begannen.

Broca wurde Professor für Chirurgische Pathologie an der Pariser Universität (damals: Académie de Paris) und widmete sich der medizinischen Forschung auf mehreren Gebieten. Mit 24 Jahren war er bereits berühmt, überhäuft mit Auszeichnungen und Preisen.

Er scheint einen bemerkenswerten Charakter gehabt zu haben. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als „großzügig, einfühlsam und liebenswürdig“. 1848 gründete er die Société des libres-penseurs (Freidenker-Gesellschaft), war Anhänger der Theorie der natürlichen Selektion Darwins und wurde angezeigt als subversiver Materialist, der die Jugend verderbe.

In unermüdlicher Arbeit hat er Hunderte Bücher und Artikel geschrieben, davon 53 über das Gehirn. Er suchte die Gesundheitsfürsorge für Mittellose zu verbessern und setzte sich für das öffentliche Gesundheitswesen ein. Unter seinen Studenten sind Paul Topinard und Joseph Deniker zu nennen.

Broca starb plötzlich, nur 56 Jahre alt, am 8. oder 9. Juli 1880, wahrscheinlich durch eine Gehirnblutung infolge der Ruptur eines Gehirnarterien-Aneurysmas. Sein Nachfolger als zoologischer Anthropologe wurde der Histologe und Anatom Mathias Marie Duval[2] (1844–1907).

Wissenschaftliche Arbeit

Seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten sind Beiträge zur Histologie der Knorpel und Knochen, aber er studiert auch den Krebs, die Behandlung des Aneurismas und die Kindersterblichkeit. Seine Arbeiten zur Neuroanatomie haben zu einem besseren Verständnis des limbischen Systems und des olfaktorischen Cortex (Rhinenzephalon) beigetragen.

1859 berichteten Broca und sein Kollege Eugène Azam vor der Académie des sciences über einen chirurgischen Eingriff unter hypnotischer Anästhesie.

Der Fall „Monsieur Tan“

Datei:Monsieur tan gehirn.jpeg
Gehirn des Monsieur Tan

Was Broca einen Platz in der Medizingeschichte sichert, ist seine Entdeckung des Sprachzentrums im Gehirn, heute bekannt als Broca-Areal, gelegen im dritten Gyrus (Gehirnwindung) des Frontallappens der linken Gehirnhälfte.

Er studierte um das Jahr 1860 Patienten mit einer Aphasie (Sprachstörung). Sein erster Patient namens Leborgne im Pariser Hôpital Kremlin-Bicêtre konnte nur noch die Silbe ‚Tan‘ aussprechen, weswegen er den Spitznamen „Tan“ erhielt. Das Sprachverständnis dagegen schien nicht beeinträchtigt zu sein: Er war durchaus noch in der Lage, ihm gestellte Fragen zu verstehen. Durch prosodische Artikulation verschiedener Betonungsmuster, Tonhöhen und Aneinanderreihungen dieser einen Silbe versuchte „Monsieur Tan“ die Fragen zu beantworten. Die postmortale Autopsie ergab, dass ein Teil der linken Gehirnhälfte zwischen dem Frontallappen und dem Temporallappen eine neurosyphilitische Läsion aufwies.

Broca folgerte daraus, dass diese Stelle maßgeblich an der Sprachproduktion beteiligt sein müsse. Aus Brocas Befunden entstand die Vorstellung der Lateralisation, also der „asymmetrischen Repräsentation bestimmter Funktionen im Gehirn“.[3]

Er stellte seine Entdeckung 1861 in der Société d’anthropologie de Paris (Anthropologische Gesellschaft von Paris) im Lauf einer heftigen Diskussion mit den Verfechtern der holistischen Gehirntheorie vor.[4]

Das Broca-Areal ist einer von mehreren Bereichen im Gehirn, welche zusammen das Sprachzentrum bilden: Während das Wernicke-Zentrum (benannt nach Carl Wernicke) dem Verstehen von Sprache dient, steuert das Broca-Areal maßgeblich die Erzeugung (Motorik) der Sprache.

Anthropologische Forschung

Broca ist auch ein Pionier der physischen Anthropologie. Er gründet 1859 die Société d’Anthropologie de Paris und 1876 die École d’anthropologie. Er entwickelt neue Messinstrumente und neue numerische Indizes für die Kraniometrie. Der Gebrauch und Missbrauch seiner Messungen und Schlussfolgerungen durch rassistische Ideologien wurde ausführlich von Stephen Jay Gould besprochen.[5] Broca selbst hat rassistischen Deutungen seiner Forschung Vorschub geleistet.[6] Er hatte die Hypothese formuliert, dass „die relative Kleinheit des Gehirns der Frau zugleich von ihrer physischen und intellektuellen Unterlegenheit“ abhinge.[7]

Vergleichende Anatomie

Ein anderer Bereich, in dem Broca geforscht hat, ist die vergleichende Anatomie der Primaten. Er entdeckte zum ersten Mal Heilungsspuren an trepanierten Schädeln aus dem Neolithikum. Er interessierte sich für die Relation zwischen dem menschlichen Schädel und dem Gehirn mit seinen mentalen Eigenschaften und seiner Intelligenz. Dabei bestritt er die These von Friedrich Tiedemann, der behauptete, man könne die schwarze und die weiße Rasse nicht nach ihrer Schädelkapazität unterscheiden, und vermaß menschliche Schädel zur Untermauerung seiner Hypothese, dass die Kleinheit ihres Gehirns eine charakteristische Unterlegenheit primitiver Völker darstelle: „On a vu que la capacité cranienne des nègres de l’Afrique occidentale (1 372,12 cm³) est inférieure d’environ 100 cm³ à celle des races d’Europe.“[8][9]

Schließlich war Broca auch ein Pionier der Gehirnabbildung. Er erfand eine „thermometrische Krone“, mit der er hoffte, die Temperaturänderungen des Schädels zu messen, die von Veränderungen der Gehirnaktivität verursacht werden.[10]

Der von Broca entwickelte Broca-Index dient zur einfachen Bestimmung des Normalgewichts einer Person, ist aber ungenauer als der Body Mass Index (BMI) und wird nicht mehr verwendet.

Darwin versus Broca

Im Jahr 1868 kritisierte der britische Naturforscher Charles Darwin Broca, weil Broca an die Existenz einer schwanzlosen Mutante des Ceylonhuhns glaubte, die der niederländische Zoologe Coenraad Jacob Temminck 1807 beschrieben hatte.[11]

Ehrungen und Auszeichnungen

Gegen Ende seines Lebens wird Broca zum Sénateur à vie (Senator auf Lebenszeit) gewählt. Er war Mitglied der Académie de médicine und wurde von mehreren französischen und ausländischen Institutionen geehrt. So war er korrespondierendes Mitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Im Jahr 1858 wurde Broca zum Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina gewählt.

Brocas Name ist auf dem Eiffelturm in einer Liste von 72 Namen genannt. Das Hôpital Broca, ein auf Gerontologie spezialisiertes öffentliches Krankenhaus in Paris, trägt seinen Namen, ebenso eine der drei medizinischen Fakultäten der Université Bordeaux II. Sein Name schmückt das Berufs-Lyzeum in seiner Heimatstadt Ste-Foy la Grande.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Daniel Frédy: Paul Broca. In: Histoire des sciences médicales, Bd. XXX/2, 1996, S. 199.
  2. Barbara I. Tshisuaka: Duval, Mathias Marie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 329.
  3. Christoph Hermann & Christian Fiebach: Gehirn & Sprache. Verlag Clausen & Bosse, Leck 2004, S. 6.
  4. Bulletin de la société française d’anthropologie. Text n°1: Sitzung am 18. April 1861, Bd. 2, S. 235–238; Text n°2: Sitzung am 16. April 1863, Bd. 4, S. 200–204. bibnum.education.fr
  5. Stephen Jay Gould: The Mismeasure of Man. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-03972-2 (= Der falsch vermessene Mensch. Suhrkamp, Frankfurt 1983, ISBN 3-518-28183-6).
  6. Paul Broca: Sur le volume et la forme du cerveau suivant les individus et suivant les races. S. 48, Auszug aus Bd. II der Bulletins de la Societé d’anthropologie, Sitzungen vom 21. März und 2. Mai 1861.
  7. Paul Broca: Sur le volume et la forme du cerveau suivant les individus et suivant les races (Über Volumen und Form des Gehirns je nach Individuen und Rassen), S. 15, Auszug aus Bd. II der Bulletins de la Société d’anthropologie, Sitzungen vom 21. März und 2. Mai 1861.
  8. P. Broca: Sur les crânes de la caverne de l ’homme-mort. In: Revue d’Anthropologie, 1873/2, 1–53, zitiert nach Stephen Jay Gould: La Mal-mesure de l’homme. S. 97.
  9. Stephen Jay Gould: The Mismeasure of Man. Norton, New York 1981, ISBN 0-393-03972-2. (= Der falsch vermessene Mensch. Suhrkamp, Frankfurt 1983, ISBN 3-518-28183-6.)
  10. L. Cohen, M.J. Smith, V. Lroux-Hugon: Paul Broca’s thermometric Crown.
  11. Grouw, Hein van, Dekkers, Wim & Rookmaaker, Kees (2017). On Temminck’s tailless Ceylon Junglefowl, and how Darwin denied their existence. Bulletin of the British Ornithologists’ Club (London), 137 (4), 261-271. doi:10.25226/bboc.v137i4.2017.a3


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