Prinzip der wohlwollenden Interpretation

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Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (eng. principle of charity) ist eine grundlegende Methode der Textanalyse und Interpretation, die insbesondere dann zur Anwendung kommen sollte, wenn man mit den Aussagen des Textes nicht übereinstimmt und ihn folglich kritisch beleuchten will. Gerade in diesem Fall sollte man zunächst davon ausgehen, dass der Text im Wesentlichen wahre und rational gut begründete Aussagen macht, auch wenn man mit ihnen nicht übereinstimmt. Nur wenn der Text im besten Licht und in seiner stärksten, stimmigsten Form dargestellt wird, lässt er sich fundiert und wirksam kritisieren. Andernfalls läuft man Gefahr, nur eine entstellte Karikatur der tatsächlich in dem Text geäußerten Meinung zu treffen. Man kämpft gleichsam nur gegen einen „Pappkameraden“ und eine solche schwache Argumentation lässt sich auch meist leicht entkräften. Trifft man hingegen den Text in seiner stärksten Form, wird die Argumentation auch gegenüber schwächeren Versionen halten.

Das Grundprinzip dieser Methode wurde bereits in der mittelalterlichen Scholastik entwickelt, etwa in Pierre Abaelards Schrift „sic et non“, wo es im Prolog heißt:

„Wir finden in den Schriften der Heiligen hin und wieder etwas in Missklang zur Wahrheit. Da ist es der Frömmigkeit, der Demut und der Nächstenliebe [caritas] geschuldet, die „alles glaubt, alles hofft, alles erträgt,“ dass man nicht leichtfertig Mängel bei denen vermutet, die sie liebend umfängt, und dass man diese Schriftstellen entweder für nicht zuverlässig übersetzt oder verdorben hält, oder eingesteht, dass man sie nicht recht verstanden hat.“

Man wird sich also darum bemühen müssen, den Text so zu verstehen, dass möglichst viele seiner Aussagen als wahr und kohärent erscheinen. Neal L. Wilson prägte dafür den Begriff „principle of charity[1]. Donald Davidson, ein Schüler von Willard Van Orman Quine, nannte das auch das Prinzip der rationalen Anpassung (eng. principle of rational accommodation): „Die Worte und Gedanken Anderer ergeben den meisten Sinn, wenn wir sie so interpretieren, dass wir ihnen am ehesten zustimmen können.[2] Wie gut unser Verständnis ist, wird sehr davon abhängen, wie sehr wir die Überzeugungen und Wünsche des Autors oder Sprechers nachvollziehen können. Richard Grandy spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der Menschlichkeit (eng. principle of humanity) und meint: „Ob unsere Interpretation der anderen Person erfolgreich ist, wird stark von der Ähnlichkeit seines Netzwerks von Überzeugungen und Wünschen mit dem unseren abhängen.[3] Daniel Dennett ergänzt, dass wir „... diejenigen propositionalen Einstellungen dem Anderen zuschreiben sollten, von denen wir erwarten würden, dass wir sie unter den gegebenen Umständen selbst ausbilden würden“.[4]

Man kann allerdings durchaus selbst auch andere Überzeugungen und Empfindungen haben. Wichtig ist es aber dann, nicht das eigene Urteil und das eigene Empfinden in das hineinzutragen, was in dem Anderen lebt. Rudolf Steiner erzählt dazu in seiner Autobiografie «Mein Lebensgang»:

„Ich sah die verschiedensten Weltanschauungen vor meiner Seele. Die naturwissenschaftliche, die idealistische und viele Nuancen der beiden. Ich fühlte den Drang, auf sie einzugehen, mich in ihnen zu bewegen; in meine geistige Welt warfen sie eigentlich kein Licht. Sie waren mir Erscheinungen, die vor mir standen, nicht Wirklichkeiten, in die ich mich hätte einleben können.

So stand es in meiner Seele, als das Leben mir unmittelbar nahe rückte Weltanschauungen wie diejenige Haeckels und Nietzsches. Ich empfand ihre relative Berechtigung. Ich konnte durch meine Seelenverfassung sie nicht so behandeln, daß ich sagte: das ist richtig, das unrichtig. Da hätte ich, was in ihnen lebt, als mir fremd empfinden müssen. Aber ich empfand die eine nicht fremder als die andere; denn heimisch fühlte ich mich nur in der angeschauten geistigen Welt, und «wie zu Hause» konnte ich mich in jeder andern fühlen.

Wenn ich das so schildere, kann es scheinen, als ob mir im Grunde alles gleichgültig gewesen wäre. Das war es aber durchaus nicht. Ich hatte darüber eine ganz andere Empfindung. Ich empfand mich mit vollem Anteil in dem anderen darinnen, weil ich es mir nicht dadurch entfremdete, daß ich sogleich das Eigene in Urteil und Empfindung hineintrug.“ (Lit.:GA 28, S. 235f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Neal L. Wilson: Substances without Substrata. In: The Review of Metaphysics. 12, Nr. 4, Juni 1959, S. 521–539 [1]
  2. „we make maximum sense of the words and thoughts of others when we interpret in a way that optimises agreement“
    Donald Davidson (1974): Chapter 13: On the Very Idea of a Conceptual Scheme. In: Inquiries into Truth and Interpretation. Clarendon Press, Oxford 1984.
  3. „Whether our simulation of the other person is successful will depend heavily on the similarity of his belief-and-desire network to our own.“
    Richard Grandy: Reference, Meaning, and Belief, in: The Journal of Philosophy, Vol. 70, No. 14, Aug. 16, 1973, pp. 439-452 [2]
  4. „... one should attribute to a creature the propositional attitudes one supposed one would have oneself in those circumstances.“
    Daniel Dennett: Mid-Term Examination. In: The Intentional Stance. M.I.T. Press, Cambridge, Mass. 1989, S. 343.