Phänomenalismus

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Der Phänomenalismus (griech. φαινόμενο(ν) phainomenon „Sichtbares, Erscheinung“), der von Rudolf Steiner zu den zwölf grundlegenden Weltanschauungen gezählt wird und nicht zu verwechseln ist mit der Phänomenologie, ist eine vor allem im 19. Jahrhundert häufig verwendete Bezeichnung für jene erkenntnistheoretischen philosophischen Systeme, die davon ausgehen, dass niemals die Wirklichkeit selbst, das Ding an sich in der Diktion Immanuel Kants, sondern nur dessen Erscheinung Gegenstand der durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnis werden könne. Im Tierkreis entspricht dem Phänomenalismus nach Steiner das Zeichen der Jungfrau.

„Man kann sagen: Gewiß, ich halte mich an die Welt, die mich ringsherum umgibt. Aber ich behaupte nicht, daß ich ein Recht habe zu sagen, diese Welt sei die wirkliche. Ich weiß nur von ihr zu sagen, daß sie mir erscheint. Und zu mehr habe ich überhaupt nicht Recht, als zu sagen: Diese Welt erscheint mir. Ich habe kein Recht, von ihr mehr zu sagen. - Das ist also ein Unterschied. Man kann von dieser Welt, die sich um uns herum ausbreitet, sagen, sie ist die reale Welt. Aber man kann auch sagen: Von einer anderen Welt kann ich nicht reden; aber ich bin mir klar, daß es die Welt ist, die mir erscheint. Ich rede nicht davon, daß diese Welt von Farben und Tönen, die doch nur dadurch entsteht, daß sich in meinem Auge gewisse Prozesse abspielen, die sich mir als Farben zeigen, daß sich in meinem Ohr Prozesse abspielen, die sich mir als Töne zeigen und so weiter, daß diese Welt die wahre ist. Sie ist die Welt der Phänomene. - Phänomenalismus ist die Weltanschauung, um die es sich hier handeln würde.“ (Lit.:GA 151, S. 42)

Je nachdem, ob hinter den Phänomenen auch eine objektive Realität - eben das Ding an sich - vermutet wird, oder die Wirklichkeit sich überhaupt nur in diesen Bewusstseinsphänomenen erschöpft, kann noch zwischen einem objektiven und einem subjektiven Phänomenalismus unterschieden werden. Prominentester Vertreter der ersten Denkrichtung war Immanuel Kant; Ernst Mach war ein konsequenter Anhänger des subjektiven Phänomenalismus.

„Was ist dieser Phänomenalismus? Er besteht darin, daß man die Phänomene - gleichgültig ob durch Beobachtung oder durch Experiment - rein auffaßt, so wie sie sich sinnenfällig ergeben, und daß man das Denken nur dazu verwendet, um die Phänomene in einem gewissen Zusammenhang zu schauen, die Phänomene so aufzureihen, daß sich die Phänomene selber erklären. Damit wird aber zunächst ausgeschaltet aus der reinen Naturwissenschaft alles, was Hypothesen nicht bloß als Hilfskonstruktionen auffaßt, sondern sie so auffaßt, als ob sie etwas geben könnten über das Wirkliche. Wenn man bei dem reinen Phänomenalismus stehen bleibt, so ist man zwar berechtigt, aus der Beobachtung und aus dem Experiment heraus eine atomistische Struktur - sei es in der materiellen, sei es in der Kräftewelt - anzunehmen, aber diese Tendenz zur atomistischen Struktur darf man nur insoweit gelten lassen, als man sie phänomenologisch verfolgen kann, als man sie anhand der Phänomene beschreiben kann.

Gegen dieses Prinzip sündigt jene wissenschaftliche Weltanschauung, welche eine Atomistik konstruiert, die hinter den sinnlich verfolgbaren Phänomenen Tatsächliches konstatiert, das nicht in die Welt der Phänomene selbst hereinfallen kann. In dem Augenblicke, wo man zum Beispiel die Welt der Farben, die vor uns ausgebreitet ist, nicht einfach so verfolgt, daß man die eine Farbenerscheinung an die andere reiht, um dadurch zum gesetzmäßigen Zusammenhang des Farbigen zu kommen, sondern wenn man von dem Phänomen auf etwas Dahinterliegendes geht, das eben nicht bloß etwa eine Hilfskonstruktion sein, sondern ein Reales statuieren soll, wenn man dazu übergeht, Schwingungen oder dergleichen im Äther anzunehmen, dann dehnt man das Denken aus - über das Phänomen hinaus. Man durchstößt gewissermaßen aus einer gewissen Trägheit des Denkens heraus den Sinnes- teppich, und man statuiert hinter dem Sinnesteppich eine Welt von wirbelnden Atomen oder dergleichen, wozu gar keine Veranlassung bei einem sich selbst verstehenden Denken vorliegt, das nur Diener sein will für die Aufreihung der Phänomene, für den immanenten gesetzmäßigen Zusammenhang innerhalb der Phänomene, das aber gegenüber der äußeren Sinneswelt nichts aussagen kann über das, was hinter dieser Sinneswelt liegen soll.

So aber zieht gerade die Anthroposophie die letzte Konsequenz, zu der in der modernen Naturwissenschaft eigentlich alles hintendiert. Wir sind sogar in dieser modernen Naturwissenschaft in der letzten Zeit in hohem Maße zu einer zwar theoretisch noch wenig zugegebenen, aber praktisch angewandten Ausbildung dieses Phänomenalismus gekommen, indem man sich einfach um die hypothetischen Atomwelten und dergleichen nicht kümmert und innerhalb der Phänomene stehenbleibt. Aber das hat ja eine ganz bestimmte Folge, wenn man innerhalb der Phänomene stehen bleibt. Das hat die Folge, daß man dann wirklich zum Agnostizismus kommt. Wenn man durch das Denken bloß die Phänomene aneinanderreiht, Ordnung hineinbringt in die Phänomene, so kommt man niemals mit diesem Ordnen, mit diesem Verfolgen von Gesetzmäßigkeiten an den Menschen selbst heran. Und das ist das Eigentümliche, daß man sich einfach offen gestehen muß: Wenn man die letzte, vollberechtigte Konsequenz der modernen Naturwissenschaft zieht, wenn man bis zum reinen Phänomenalismus geht, wenn man nicht unberechtigte Denkhypothesen hinter den Teppich der Sinnenwelt setzt - man kann gar nicht anders als zum Agnostizismus kommen.“ (Lit.:GA 75, S. 262f)

Der Phänomenalismus steht als erkenntnistheoretischer Idealismus in einem direkten Gegensatz zum Realismus.

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.