Göttliche Komödie/Purgatorio: Unterschied zwischen den Versionen

Aus AnthroWiki
imported>Odyssee
Keine Bearbeitungszusammenfassung
imported>Odyssee
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 4: Zeile 4:
====Übersicht====
====Übersicht====
[[Datei:Dante03.jpg|mini|250px|Dante schaut auf den Läuterungsberg. Gemälde von [[Wikipedia:Agnolo Bronzino|Agnolo Bronzino]] (1530)]]
[[Datei:Dante03.jpg|mini|250px|Dante schaut auf den Läuterungsberg. Gemälde von [[Wikipedia:Agnolo Bronzino|Agnolo Bronzino]] (1530)]]
[[Datei:Pinelli Purgatorio 02.jpg|mini|250px|Ankunft der Engelsbarke. Kupferstich von [[Wikipedia:Bartolomeo Pinelli|Bartolomeo Pinelli]] (1825)]]
[[Datei:Blake-Lucia traegt Dante Purgatorio 9-55.jpg|mini|250px|[[Wikipedia:William Blake|William Blake]]: Lucia trägt Dante bis zum Eingang des Fegefeuers, Purgatorio 9,55]]
[[Datei:Blake-Lucia traegt Dante Purgatorio 9-55.jpg|mini|250px|[[Wikipedia:William Blake|William Blake]]: Lucia trägt Dante bis zum Eingang des Fegefeuers, Purgatorio 9,55]]
[[File:Michelino DanteAndHisPoem.jpg|mini|250px|[[Wikipedia:Domenico di Michelino|Domenico di Michelino]], ''La Divina Commedia di Dante'' ([[Dante Alighieri]] und die drei Reiche: ''Hölle, Fegfeuer und Paradies''). 1465 Fresko in der Kuppel der Kirche [[Wikipedia:Santa Maria del Fiore|Santa Maria del Fiore]] in [[Wikipedia:Florenz|Florenz]]. [[Dante]] hält sein Epos «Die Göttliche Komödie» in der linken Hand. Mit der Rechten weist er auf eine Prozession von Sündern zur Hölle, hinter ihm das [[Purgatorium]] und eine historische Ansicht der Stadt Florenz um 1465.]]
[[File:Michelino DanteAndHisPoem.jpg|mini|250px|[[Wikipedia:Domenico di Michelino|Domenico di Michelino]], ''La Divina Commedia di Dante'' ([[Dante Alighieri]] und die drei Reiche: ''Hölle, Fegfeuer und Paradies''). 1465 Fresko in der Kuppel der Kirche [[Wikipedia:Santa Maria del Fiore|Santa Maria del Fiore]] in [[Wikipedia:Florenz|Florenz]]. [[Dante]] hält sein Epos «Die Göttliche Komödie» in der linken Hand. Mit der Rechten weist er auf eine Prozession von Sündern zur Hölle, hinter ihm das [[Purgatorium]] und eine historische Ansicht der Stadt Florenz um 1465.]]

Version vom 30. November 2015, 12:01 Uhr

Büste Dantes

Purgatorio

Übersicht

Dante schaut auf den Läuterungsberg. Gemälde von Agnolo Bronzino (1530)
Ankunft der Engelsbarke. Kupferstich von Bartolomeo Pinelli (1825)
William Blake: Lucia trägt Dante bis zum Eingang des Fegefeuers, Purgatorio 9,55
Domenico di Michelino, La Divina Commedia di Dante (Dante Alighieri und die drei Reiche: Hölle, Fegfeuer und Paradies). 1465 Fresko in der Kuppel der Kirche Santa Maria del Fiore in Florenz. Dante hält sein Epos «Die Göttliche Komödie» in der linken Hand. Mit der Rechten weist er auf eine Prozession von Sündern zur Hölle, hinter ihm das Purgatorium und eine historische Ansicht der Stadt Florenz um 1465.
1        Venus, der Morgenstern; Cato, Hüter des Läuterungsberges.
2        Ankunft der Engelbarke; Casella, der Sänger.
3       Die unter kirchlichem Bann Gestorbenen; Manfred.
4, 5   Diejenigen die die Buße verschoben haben bis an ihr Lebensende.
6      Sordello; Bußrede über das zerrissene Italien.
7      Tal der Fürsten.
8      Erste Nacht; die zwei Engel; die Schlange der Versuchung.
9      Dantes Traum. Er wird im Schlaf zu der Petruspforte gebracht.
        Der Engel mit dem Schwerte ritzt die 7 P's (die 7 Todsünden) auf Dantes Stirn.
10    Der erste Kreis Hochmut, gute Vorbilder der Demut.
11    Die schwer büßenden Hochmütigen beten das Vaterunser.
12    Vorbilder von bestraftem Hochmut; das erste P. wird getilgt.
13    Zweiter Kreis Neid. Den Neidischen sind die Augen zugenäht.
14    Die Neidischen; warnende Stimmen in der Luft.
15    Übergang zum dritten Kreis Zorn Vision Dantes;
       Vorbilder des Sanftmutes.
16    Dichte Finsternis. Marco Lombardo über den Einfluß der Sterne
        auf die menschliche Seele. Freier Wille.
17    Übergang zum vierten Kreis. Trägheit des Herzens.
        Worte Virgils über natürliche und geistige Liebe
18    Fortsetzung des Gesprächs über Liebe und freien Willen
19    Traum von der Sirene Fünfter Kreis Geiz.
20    Dante verflucht die Habsucht;
       Frage nach dem kommenden Erlöser (Veltro) Erdbeben.
21    Erklärung des Erdbebens:
       eine erlöste Seele darf eingehen in den Himmel; Statius.
22    Sechster Kreis Gier.
23    Forese Donati.
24    Gespräch über die Dichtkunst mit Buonagiunta.
25    Statius' Belehrung über Körper und Seele;
       die Flammen des siebenten Kreises Wollust.
26    Gespräch mit Guinicelli und Arnaut (Troubadour)
        Dante spricht den Letzteren an in der provencalischen Sprache.
27    Dante schreitet durch die Flammen.
       Krönung durch Virgil mit der Kaiserkrone
       und mit der päpstlichen Mitra.
28    Das irdische Paradies; Matelda; Lethe und Eunoe.
29    Allegorischer Festzug.
30    Beatrice auf dem Wagen vom Greifen gezogen.
       Virgil ist verschwunden. Beatrices Strafrede.
31    Dantes Erniedrigung. Untertauchung in der Lethe.
       Dante schaut Beatrices Antlitz.
32    Der Paradiesesbaum. Apokalyptische Bilder.
       Riese (Französischer König) und Hure (Papsttum).
33    Beatrices Prophetie des DXV Trunk aus der Eunoe.
       Aufstieg zum Himmel (Paradiso).


Jedem Einweihungsweg muss eine gründliche Läuterung, eine Katharsis, vorangehen, durch die sich der Mensch von jenen seelischen Schwerekräften befreit, die ihn an das nur irdische Dasein fesseln. Dante macht diese Reinigung beim Aufstieg auf den Läuterungsberg durch. Auf sieben Stufen wird die Seele von den 7 Hauptsünden befreit.

Anschließend an die Läuterung muss Dante die für jede Einweihung typischen Proben bestehen, wie sie Rudolf Steiner auch in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» schildert:

Feuerprobe

William Blake: Dante betritt das Feuer
William Blake: Beatrice spricht zu Dante

Ein strahlende Engel lädt Dante ein, die Flammenwand zu durchschreiten. Dante muss die Feuerprobe bestehen. Das geistige Feuer "verbrennt" den Schleier der sinnlichen Welt und die geistigen Urbilder der äußeren Welt leuchten für den imaginativen Blick auf. Das ist eben nur möglich, wenn zuvor auch die letzten Reste der sinnlichen Begierde abgestreift wurden – denn eben diese webt den Sinnesschleier.

Man muss aber auch verstehen lernen, was man sieht. Zur Imagination tritt die Inspiration hinzu. Man lernt die Stimmen der geistigen Welt zu vernehmen. Angesichts der lodernden Feuerwand vernimmt Dante die Worte des Engels:

7 Er sang am Felsrand, außerhalb der Lohe:
„Beglückt, die reines Herzens sind!“ – und mehr[1]
Als menschlich war sein Ton, der mächt’ge, frohe.
10 Drauf: „Weiter nicht, ihr Heil’gen, bis vorher
Die Glut euch nagte! Tretet in die Flammen,
Und seid nicht taub dem Sang von dortenher!“
13 Dies Wort ertönte jetzt, da wir zusammen
Uns ihm genaht, so schrecklich in mein Ohr,
Als hört’ ich mich zum schwersten Tod verdammen.
16 Ich sank auf die gefalt’nen Hände vor,[2]
Ins Feuer schauend, – wen ich brennen sehen,
Deß Bild stieg itzt vor meinem Geist empor.
                                   (Purgatorio 27,7-18)

Die Inspiration zu erleben, ist gleichbedeutend damit, dass man lernt die okkulte Schrift zu lesen. Das ist gleichsam die Gebärdensprache der geistigen Welt. Es sind keine ausgedachten Symbole, sondern diese geistige Schrift entspricht genau den Kräften, die in der geistigen Welt wirksam sind. In dieser geistigen Zeichensprache kann man die geistige Welt viel unmittelbarer erfassen und beschrieben als in sinnlichen Gleichnissen – das ganze imaginative Erleben, das bis dahin ein bildhaftes, aber sinnlich-bildhaftes Erleben war, ändert und vertieft sich dadurch.

Das irdische Paradies

"Als nächstes Gebiet zwischen Fegefeuer und Himmel kommt Dante in den Garten Eden. Dort werden wir in die Anschauungsweise eingeführt, die die eigentlich christliche ist: wie der Ursprung der Kirche im Geistigen ruht. Wer im Sinne des Mittelalters verstehen will, wie die Kirche sein soll, muß sich hinauforganisieren dahin, ihr Urbild im Jenseits zu sehen. Das führt Dante im Hinblick auf die Weltanschauung des Dionysius Areopagita von den himmlischen Hierarchien aus. Eine Stufenfolge gibt es da, die Dionysius bezeichnet: Engel, Erzengel, Urkräfte, Gewalten, Mächte, Herrschaften, Throne, Cherubim, Seraphim. Die Stufenfolge der weltlichen Hierarchie der Kirche sollte ein Abbild dieser himmlischen Hierarchien sein. Das stellt Dante im Garten Eden dar, wo uns die Hierarchien symbolisch entgegentreten." (Lit.: GA 097, S. 34)

Nachdem Dante durch das Feuer geschritten ist, trifft er zunächst auf Matelda. Matelda entspricht der Göttin Natura, die in noch viel umfangreicherer Form von den großen Lehrern der Schule von Chartres besungen wurde, und ist eng verbunden mit den aus dem Weltenäther strömenden Lebenskräften und auch mit dem Ätherleib des Menschen, der der eigentliche Gedächtnis-Träger ist. Sie steht darum auch in enger Beziehung zum Ätherleib des Menschen, wohingegen Beatrice, die Dante durch das Paradiso führt, mit dem geläuterten und zum Geistselbst verwandelten Astralleib zusammenhängt, der in der christlichen esoterischen Terminologie auch als Jungfrau Sophia bezeichnet wird. In der Göttin Natura lebte in christlich erneuerter Form der Persephone-Mythos fort.

"Dann übernimmt Beatrice die Führung. In der Seele unterscheiden wir ein weibliches Element, das innere Seelenwesen, und ein männliches Element, das Geistige im Universum, das die Seele befruchtet. Die weibliche Seele zieht uns hinan. Die mittelalterlichen Alchimisten nannten das Weibliche im Menschen das «Lilium». Darum spricht auch Goethe in seinem Märchen von der «schönen Lilie». Beatrice ist wirklich im Sinne der Danteschen Denkweise so dargestellt, daß er in ihr das Gebäude der scholastischen Theologie zum Ausdruck bringen kann." (Lit.: GA 097, S. 34f)

Beatrice erscheint, zunächst noch verschleiert, auf einem Siegeswagen der von einem Greif gezogen wird. Sie trägt einen weißen Schleier und einen Kranz aus einem Olivenzweig und um das Kleid, das wie Feuer scheint, hat sie einen grünen Mantel umgeschlagen. Sie gibt sich als Beatrice zu erkennen und richtet mahnende Worte an Dante. Ehe er aus dem Fluss der Lethe trinken dürfe, müsse er noch vollkommene Reue zeigen:

142 Nicht wär’s, wie sich’s nach ew’gem Rath gebührt,
Wenn er durch Lethe ging’ und sie genösse,
Und nicht vorher, bußfertig und gerührt
145 In Reuezähren seine Schuld ergösse.“
                            (Purgatorio 30,142-145)

Dann erst darf ihn Matelda mit den Wassern der Lethe tränken. Der Trunk des Vergessens aus den Fluten der Lethe befreit Dante von den leidvollen Erinnerungen an seine Sünden im vorangegangenen Erdenleben (31. Gesang). Dann trinkt er aus der Eunoë (33. Gesang), die ihm das geistige Leben, das ihm im irdischen Dasein wie erstorben schien, neu belebt, wie es auch der dritte Teil des Rosenkreuzerspruches andeutet: „Per spiritum sanctum reviviscimus“ (Durch den Heiligen Geist werden wir neu belebt).

Wasserprobe

Durch diese Probe muss sich beweisen, ob man sich, wenn die Stütze der äußeren sinnlichen Welt weggefallen ist, frei und sicher in der geistigen Welt bewegen kann. Dazu gehört sichere eigenständige Urteilskraft im Denken, Selbstbeherrschung im Empfinden und Initiativkraft im Wollen (man nimmt freiwillig ernste Verpflichtungen auf sich, zu denen es keinen äußeren Anstoß gibt). Nur so kann man von der Sinneswelt, die einen sicher trägt, zum bewussten Erleben der unaufhaltsam strömenden Ätherwelt übertreten. Man betritt dann wie Dante die ätherische Welt des "irdischen Paradieses" und man lernt wie er die beiden Ströme Lethe und Eunoë kennen. Man tritt in jenen paradiesischen Zustand über, in dem der Mensch war, ehe er sich in dichten stofflichen Leibern verkörperte – und in den er künftig in verwandelter Form wieder übertreten wird.

Luftprobe

Hier muss man nun absolute Geistesgegenwart entwickeln. Es darf kein Zögern und kein Zweifeln mehr geben. Man muss sich ganz sicher und fest auf sich selbst stützen. Man agiert nun ganz selbstständig aus seinem höheren Selbst. Man darf sich nicht verlieren. Das heißt aber auch, dass man seine geistigen Fähigkeiten jederzeit ganz präzise einschätzen muss. Man muss nicht im absoluten Sinne vollkommen sein, dazu bedarf es noch eines weiten Weges – aber man muss sich ganz schonungslos seines eigenen Wertes und auch seines Unwertes bewusst werden. Man muss – um bei Dantes Bild zu bleiben – die Strafpredigt Beatrices über sich ergehen lassen.

Der Trunk des Vergessens

Sandro Botticelli: Beatrice am Lethefluss
Cristobal Rojas: Dante und Beatrice am Lethe-Fluss (1889)

Hat man diese Proben bestanden, darf man in den Strom der Lethe tauchen und aus ihren Fluten trinken. Die Erinnerung an alte Schuld, die hier nur mehr hemmend wäre, wird ausgelöscht. Überhaupt wird das ganze herkömmliche Gedächtnis beiseite gestellt – es darf sich keine Erinnerung, nichts im Leben Erfahrenes oder Erlerntes, störend in die geistige Erkenntnis einmischen, die nur mehr aus der unmittelbaren Geistesgegenwart schöpfen darf.

Der Gedächtnistrank

Noch ein zweiter «Trank» wird dem Eingeweihten gereicht – der Gedächtnistrank. Durch ihn sind ihm die höheren Geheimnisse und vor allem auch das genaue Bewusstsein für das Maß der eigenen Kräfte ständig lebendig gegenwärtig. Dazu würde das gewöhnliche Gedächtnis nicht ausreichen. Man ist jetzt unmittelbar mit den geistigen Welten verbunden und handelt aus ihrem lebendigen Anschauen. Man muss darüber nicht mehr nachdenken, das Handeln aus dem Geistigen heraus ist einem zur zweiten Natur geworden.

Die Auferstehungsfrage

Je weiter Dante den Läuterungsberg hinansteigt, desto mehr wird ihm zur Frage, wieso die Toten überhaupt als geschlossene Gestalt erscheinen können. Angesichts derer, die für ihre Gier hier zur Buße magern müssen fragt er:

20                ... Wie wird man hier so mager,
Hier, wo kein Leib ist, welchen Speis erhält?
                                       (Purgatorio 25,20-21)

Von Statius (Publius Papinius Statius, ca. 45 - 96 n. Chr.), dem römischen Dichter, wird er nun über das Verhältnis von Seele und Leib und über die Bildung der menschlichen Gestalt belehrt:

37 Das reinste Blut, das von den Adern nie[3]
Getrunken wird, vergleichbar einer Speise,
Die über den Bedarf Natur verlieh,
40 Empfängt im Herzen wunderbarer Weise
Die Bildungskraft für menschliche Gestalt,
Geht dann mit dieser durch der Adern Kreise,
43 Noch mehr verkocht, zu einem Aufenthalt,
Den man nicht nennt, von wo’s zu ander’m Blute[4]
46 Daß beides zum Gebild zusammenfluthe,[5]
Ist leidend dies, und thätig das, vom Ort,
In dem die hohe Bildungskraft beruhte.
49 Drin angelangt, beginnt’s sein Wirken dort;
Geronnen erst, erzeugt es junges Leben
Und schreitet in des Stoffs Verdichtung fort.
52 Es wird die Seel’ aus thät’ger Kräfte Streben,[6]
Wie die der Pflanze, die nur still’ schon steht,
Wenn jene kaum beginnt, sich zu erheben.
55 Bewegung zeigt sich dann, Gefühl entsteht,
Wie in dem Schwamm des Meers, und zu entfalten
Beginnt die thät’ge Kraft, was sie gesä’t.
58 Wie nun des Herzens Zeugungskräfte walten,
Wird ausgedehnt die Frucht, geschwellt, entwirrt,
So, daß die Glieder sämmtlich sich gestalten.
61 Doch, Sohn, wie nun das Thier zum Menschen wird,
Noch siehst du’s nicht, und dies ist eine Lehre,
Worin ein Weiserer als du, geirrt.[7]
64 Er war der Meinung, von der Seele wäre
Gesondert die Vernunft, weil kein Organ
Die Aeußerung der letztern uns erkläre.
67 Jetzt sei dein Herz der Wahrheit aufgethan,
Damit dein Geist, was folgen wird, bemerke!
Wenn Bildung das Gehirn der Frucht empfahn,
70 Kehrt, froh ob der Natur kunstvollem Werke,
Zu ihr der Schöpfer sich, und haucht den Geist,
Den neuen Geist ihr ein, von solcher Stärke,

73 Daß er, was thätig dort ist, an sich reißt,
Und mit ihm sich vereint zu Einer Seele,
Die lebt und fühlt und in sich selber kreist.
76 Und daß dir’s nicht an hellerm Lichte fehle,
So denke nur, wie sich zum edlen Wein
Die Sonnenglut dem Rebensaft vermähle.
79 Gebricht es dann der Lachesis an Lein,[8]
Dann trägt im Keim sie aus des Leibes Hülle
Des Menschlichen und Göttlichen Verein;
82 Und wenn die andern Kräfte stumm und stille,
Bleibt, schärfer als vorher, in Macht und That
Erinnerung jetzt, Verstandeskraft und Wille.
85 Und ohne Säumen fällt sie am Gestad’,
Dem oder jenem, wunderbarlich nieder,
Und hier erkennt sie erst den weitern Pfad.
88 Ist sie nun am bestimmten Orte wieder,
So strahlt die Bildungskraft rings um sie her,
Und wirkt, wie einst, durch die lebend’gen Glieder.
91 Und wie die Luft, vom Regen feucht und schwer,
Sich glänzend schmückt mit buntem Farbenbogen
Im Wiederglanz vom Sonnen-Feuermeer;
94 So jetzt die Lüfte, so die Seel’ umwogen,
Worein die Bildungskraft ein Bildniß prägt,
Sobald die Seel’ an jenen Strand gezogen.
97 Und gleich der Flamme, die sich nachbewegt,
Wo irgend hin des Feuers Pfade gehen,
So folgt die Form, wohin der Geist sie trägt.
100 Sieh daher die Erscheinung dann entstehen,
Die Schatten heißt; so bildet sich in ihr
Auch jeder Sinn mit Inbegriff vom Sehen.
103 Und daher sprechen, daher lachen wir,
Und daher weinen wir die bittern Zähren
Und seufzen laut auf unserm Berge hier.
106 Der Schatten drückt sich’s aus, je wie Begehren
Und Leidenschaft uns reizt und Lust und Gram;
Dies mag dir, was du angestaunt, erklären.“
                                  (Purgatorium 25,37-108)

In der Blutswärme lebt die Willenskraft des Ich. Mit dem Blut strömen die Bildekräfte, die die menschliche Gestalt formen. Das geistige Feuer, die innige Seelenwärme, die strömende ätherische Wärme und die äußere Wärme durchdringen sich so sehr, dass Leib, Seele und Geist nahezu untrennbar ineinander verschlungen werden. Wären die Hüllenglieder des Menschen nicht durch den Sündenfall und seine Folgen korrumpiert, würden wir die Formkräfte, die die menschliche Gestalt bilden, unmittelbar in das geistige Dasein mitnehmen. Durch den Einfluss der luziferischen und ahrimanischen Widersacher haben sich aber immer mehr Kräfte der Finsternis und Kälte unseren Wesensglieder einverwoben. Sie können nicht in das höhere geistige Dasein mitgehen und müssen ausgeschieden werden.

Anmerkungen

  1. [8. Passender Gesang beim Austritt aus dem siebenten Kreise und damit aus dem Fegefeuer überhaupt.]
  2. 16. Durch obige Verse wird zugleich das Vorbeugen des Oberleibes und das Vorstrecken der gefalteten Hände höchst plastisch ausgedrückt, eine Geberde der Angst und der ablehnenden Bitte.
  3. 37 ff. Die Zeugungskraft wird, nach der Theorie des Dichters, im Herzen dem reinsten vollkommensten Blute mitgetheilt, dessen der Körper nicht, wie des andern Bluts, zu seiner eigenen Erhaltung bedarf, das vielmehr unvermischt mit dem andern, durch den weitern Kreislauf noch mehr verkocht (digesto), durch die Adern den dazu bestimmten Behältern, welche die Scham zu nennen verbietet, zugeführt wird.
  4. [44. „Zum andern Blute.“ Auch das weibliche Ei ist ein Extract aus dem Blut.]
  5. 46. Thätig wird das männliche Blut durch die im Herzen empfangene Bildungskraft.
  6. [52 ff. Die Grundtendenz der Dante’schen Darlegung ist: eine Zersplitterung der Seele in eine bloße Mehrheit von Kräften – („die dreifache Seele“ Fegf. 4. 1 ff.) abzuweisen und der Seele ihre Einheit, ihre stufenweise, einheitliche Voll-Entwicklung mit ihrem göttlichen Ursprung und ewigen substanziellen Geistesgehalt zu retten. Dies geschieht durch eine Verschmelzung des Traduzianismus und Creatinismus. –: Der Mensch hat allerdings zuerst ein rein vegetatives Leben, V. 53. Aber während die Pflanze dabei stehen bleibt, so entfaltet sich das Leben des Ungeborenen jetzt erst recht weiter zur Bewegung und Empfindung, V. 54 ff. (sensitive oder Thierseele, V. 61). Der Uebergang von Einem zum Anderen geschieht durch den Zustand des Pflanzenthiers als Mittelglied V. 56 (Meerschwamm). Endlich, nach erfolger Entwickelung der menschlichen Gestalt (V. 58 ff.), vereint sich, durch einen unmittelbaren Schöpferact Gottes, der Geist von oben, wie die Sonne sich dem Rebensaft vermählt, mit dem Gegebenen zur vollkommenen (nach Parad. 32, 64 jedesmal individuell bestimmten) Menschenseele – rationelle oder intellective Seele – deren Hauptfunction das Kreisen in sich selber, das persönliche Selbstbewußtsein, ist, V. 61, 72–78. – Bis auf das Letzte, was der Philosophie, beziehungsweise dem Glauben angehört, finden wir also den Dichter, mit der Scholastik, schon ganz in Uebereinstimmung mit der neueren Physiologie.]
  7. [63. Polemik gegen Averrhoës, den großen, arabischen Erklärer des Aristoteles, der aus des Letzteren Schriften eine, der Auffassung Dante’s entgegenstehende Ansicht entwickelt hatte, welche schon merkwürdige Aehnlichkeit mit gewissen, modernen Anschauungen hat. Nemlich die, daß dem Menschen Vernunft und Geist („intellectus possibilis“ „il possibile intelletto“) nur dadurch werde, daß ein „universeller Intellect“ auf Lebensdauer mit dem Kind eine, an kein besonderes Organ gebundene und daher mit dem Tod erlöschende, Verbindung eingehe. Es gebe also keine persönliche Unsterblichkeit. – An dieser Polemik schließt sich dann eben die weitere Entwicklung Dante’s in Betreff des Todes und des Zustandes nach dem Tod in V. 79 –108 wie folgt:]
  8. [79–108. Nicht eine Auflösung ins Nichts ist der Tod, wenn die Parze „des Leins entbehrt“ d. h. den Lebensfaden abschneidet. Sondern die (solchergestalt entstandene) Seele löst sich nun vom Fleisch, „den Verein von Göttlichem und Menschlichem im Keime mit sich nehmend,“ V. 79–81. Indem nemlich jetzt die niederen Kräfte („die Accidenzien des Körpers“) ohne das Organ des Leibes verstummt und latent in ihr sind, treten die ihr eigenen Accidenzien, nemlich Intellect, Wille und Gedächtniß, um so schärfer hervor, da diese ohne ein fleischliches Medium viel besser wirken können V. 82–84 (cfr. Paulus, 1 Cor. 13, 12 „erkennen, wie ich erkannt bin“) Nachdem nun die Seele, gemäß Gottes Richterspruch V. 31, an einem der beiden Ufer des Acheron oder des Tiber niedergesunken und von dort wieder an dem [340] ihr beschiedenen Orte der Hölle oder des Fegefeuers angekommen ist, so erfaßt sie, die ihr eigene Bildungskraft ausstrahlend, die umgebende Luft, um derselben, wie einst den irdischen Stoffen des Erdenleibs, ihr Bildniß einzuprägen, V. 85–96. Dies ist der Schattenleib, welcher also die bewegliche Form des geschiedenen Geistes und das Organ der, in ihm nun aufs Neue hervortretenden, niederen und höheren Accidenzien ist. Daher ihm jeder Sinn, sogar Sehen und Gesehenwerden, und Begehren, Wollen, Erinnern, Lust und Schmerz zu äußern gegeben ist, nach Maßgabe der in ihm waltenden Seelenkraft V. 97–108. Mit diesem Satze ist Dante an dem in V. 20 ff. postulirten Ende seiner Darlegung. Im Uebrigen weiß der Leser aus früheren Stellen, daß der Schattenleib nur ein intermistischer ist und am jüngsten Gericht alle Seelen ihren Erdenleib in verklärter oder ewig finsterer Gestalt wieder anziehen werden.]


Literatur

  1. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Übersetzung von Hans Werner Sokop in Original-Terzinen mit Erläuterungen. 100 Bilder von Fritz Karl Wachtmann., Akad. Druck- und Verlagsanstalt, Graz 2014, ISBN 978-3-201-01994-1
  2. Leonardo Olschki, Bernd Payer (Übers.): Der Mythos vom Filz, University of California, Berkeley und Los Angeles 1949
  3. Willem Frederik Veltman: Dantes Weltmission, J. Ch. Mellinger Verlag, Stuttgart 1979, ISBN 9783880690066
  4. Rudolf Steiner: Metamorphosen des Seelenlebens - Pfade der Seelenerlebnisse, Zweiter Teil, GA 59 (1984), Berlin, 12. Mai 1910, Die Mission der Kunst, siehe auch TB 603 (1983), S 175 ff.
  5. Rudolf Steiner: Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft, GA 96 (1989), Berlin, Ostermontag, 16. April 1906
  6. Rudolf Steiner: Das christliche Mysterium, GA 97 (1998), ISBN 3-7274-0970-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  7. Rudolf Steiner: Mitteleuropa zwischen Ost und West, GA 174a (1982), ISBN 3-7274-1741-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  8. Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Sechster Band, GA 240 (1986), Arnheim, 18. Juli 1924
  9. Rudolf Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums, GA 349 (1980), ISBN 3-7274-3490-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Commons: Göttliche Komödie - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema