Hellsehen und Werden: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Steiner-reitman-1915.jpg|mini|[[Rudolf Steiner]]]]
'''Werden''' ist ''Veränderung'', ist ''Entstehen'', ''Verwandeln'' und ''Vergehen'', ist [[Gestaltung]] und [[Umgestaltung]], [[Metamorphose]], und als solches der grundlegende [[Prozess]] der [[Schöpfung]]. Alles [[Sein]] entspringt aus dem [[Nichts]], verdichtet sich bis zum [[physisch]]en [[Dasein]] und verschwindet wieder ins Nichts. Mit dem Werden tritt zugleich die [[Zeit]] hervor. Das Sein, als ein bereits [[real]] Gewordenes, gehört der [[Vergangenheit]] an. Das ''Werdende'' ist noch nicht [[Gegenwart|gegenwärtig]], d.h. noch nicht äußerlich sichtbar oder messbar vorhanden, sondern gehört der [[Zukunft]] an, aus der es uns entgegenkommt. Und doch liegt in diesem Werdenden, das ''jetzt'' noch keine äußerlich [[real]]e [[Existenz]] hat, die [[wirklich]]e gestaltende [[Kraft]], die das zukünftige Sein bestimmt.


'''Hellsehen''' ([[Französische Sprache|frz.]] ''Clairvoyance'') bezeichnet ganz allgemein die Fähigkeit zur nicht-sinnlichen [[Wahrnehmung]], d.h. zur '''Geistesschau''' im weitesten Sinn. Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, werden '''Hellseher''' - oder kurz '''Seher''' - genannt. Das Hellsehen in dem von [[Rudolf Steiner]] gemeinten Sinn richtet sich auf die Wahrnehmung der höheren [[Geistige Welt|übersinnlichen Welten]]. Die hellseherische Fähigkeit ist um so höher und reiner entwickelt, je höhere Weltbereiche dadurch übersinnlich wahrgenommen werden können. Die [[außersinnliche Wahrnehmung]] hingegen, wie sie auch in der [[Parapsychologie]] untersucht wird, kann sich, wie das etwa bei [[Swedenborg]] der Fall war, auf gleichzeitig, aber weit entfernt stattfindende, aber auch auf vergangene oder künftige [[physisch]]e Ereignisse beziehen, wobei man in letzterem Fall von [[Präkognition]] spricht.
Bereits der [[Griechisch-Lateinische Kultur|griechische]] [[Philosoph]] [[Heraklit]] betonte im Gegensatz zu [[Parmenides]], dass das Wesen alles Seins im Werden begründet ist. Er vergleicht das Sein mit einem Fluss, in den man kein zweites Mal steigen könne: ''"Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht."'' {{Lit|Heraklit, S 132<ref>Das Fragment 49a gilt allerdings nur als vage Anlehnung an den Originaltext, der gesamte zweite Teil ist nicht authentisch; vgl. Held: ''Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft'', S. 326</ref>}}. Der [[spätantike]] [[Aristoteles]]-Kommentator [[Wikipedia:Simplikios|Simplikios]]<ref>[[Wikipedia:Hermann Diels|Hermann Diels]]: ''Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria''. Reimer, Berlin 1895 (Nachdr. de Gruyter 1954), ([[Wikipedia:Commentaria in Aristotelem Graeca|Commentaria in Aristotelem Graeca]] 10) S. 1313.</ref> fasste das später zusammen in die berühmte Kurzformel "[[panta rhei]]" ({{ELSalt|πάντα ῥεῖ}}, „Alles fließt“).  


== Erkenntnistheoretische Grundlage ==
[[Rudolf Steiner]] bemerkte dazu:
[[File:Johann gottlieb fichte.jpg|mini|[[Johann Gottlieb Fichte]]]]
[[Datei:Nb pinacoteca stieler friedrich wilhelm joseph von schelling.jpg|miniatur|[[Friedrich Wilhelm Schelling]], Gemälde von [[Wikipedia:Joseph Karl Stieler|Joseph Karl Stieler]], 1835]]
[[Datei:Goethe (Stieler 1828).jpg|miniatur|''Johann Wolfgang von Goethe,''<br />Idealisierendes Ölgemälde von [[Wikipedia:Joseph Karl Stieler|Joseph Karl Stieler]], 1828
[[Datei:Signature of Johann Wolfgang von Goethe.svg|rechts|rahmenlos|Signatur]]]]
[[Bild:Urpflanze.jpg|thumb|[[Rudolf Steiner]], [[Urpflanze]], Aquarell 1924]]
[[Datei:Pauli.jpg|miniatur|Wolfgang Pauli 1945]]
 
Ausgangspunkt des modernen [[Selbstbewusstsein|selbstbewussten]] Hellsehens ist für Steiner die [[Beobachtung des Denkens]], d.h. die [[intellektuelle Anschauung]] der eigenen [[Denktätigkeit]], durch die sich das [[Ich]] seiner selbst, ''unabhängig'' von der physischen Organisation, als ''rein'' [[geist]]ige [[Wesenheit]] bewusst wird. Steiner knüpft damit unmittelbar an die [[Philosophie]] des [[Deutscher Idealismus|deutschen Idealismus]] an, namentlich an [[Fichte]] und [[Schelling]]. Am 13. Januar 1881, 12 Uhr mitternachts, schrieb er diesbezüglich an seinen Jugendfreund ''Josef Köck'':
 
<div style="margin-left:20px">
"Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich
keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis ½ 1 Uhr mitternachts
mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt,
und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein
Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr
wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes,
wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit
in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam,
entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form
der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich
glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz
klar an mir entdeckt zu haben - geahnt habe ich es ja schon
längst —; die ganze idealistische Philosophie steht nun in
einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine
schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!" {{Lit|{{G|38|13}}}}
</div>
 
Eine weitere wichtige, anders geartete Grundlage für Steiner bildete [[Goethe]]s auf die ''[[sinnlich]]-[[übersinnlich]]e'' [[Anschauung]] der [[Natur]] gerichtete «[[Anschauende Urteilskraft]]», die diesen bis zum [[Erleben]] der [[Urpflanze]] geführt hatte. Sie ist das [[idee]]lle [[Urbild]], die [[begriff]]liche und zugleich anschauliche Urgestalt, aus der man sich alle [[Pflanzen]]arten durch Abwandlung hervorgegangen denken kann.


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." {{Lit|Goethe Werke (WA), S. 203 und 204}}  
"... daß alles dasjenige, was wir als das
Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen
beilegen, in einem lebendigen Verhältnis zum Werden steht, und zwar
in einem eigentümlichen Verhältnis zum Werden. In Wahrheit ist
weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der
Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und
Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot;
und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. Finden Sie irgendwo ein
Sein, zum Beispiel in der sich um uns ausbreitenden Natur, so antwortet
Ihnen die Geisteswissenschaft darauf: Dieses Sein — lesen Sie
das in der «Geheimwissenschaft» - ist dadurch entstanden, daß einmal
ein Werden war, und dieses Werden hat seinen Leichnam zurückgelassen,
dasjenige, was uns gegenwärtig als Sein umgibt. Das Sein ist
das Tote, das Werden ist das Lebendige!" {{Lit|{{G|176|182}}}}
</div>
</div>


Goethe geht von der sinnlichen Anschauung aus und endet bei der intellektuellen Anschauung, die sich ''mit'', ''aus'' und ''durch'' die sinnliche [[Wahrnehmung]] offenbart. Den unmittelbaren Sinneseindrücken widmete er seine volle Aufmerksamkeit; sein Denken entfernte sich niemals weit von der unmittelbaren Anschauung, ebenso wie sein Anschauen niemals gedankenlos war. Er schreibt dazu in seinem Aufsatz ''Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort'':
Für [[Aristoteles]] ist alles Werden durch das Zusammenspiel von [[Akt und Potenz]] bedingt, indem der verwirklichende Akt die bloße [[Möglichkeit]] (''Potenz'') zum realen [[Sein]] erhebt. Diese Lehre wurde später von [[Thomas von Aquin]] aufgegriffen und im [[christlich]]en Sinn gedeutet. Die [[Urmaterie]], die «[[materia prima]]», ist reine [[Potenz]] und [[Gott]], als die höchste Quelle der [[schöpferisch]]en Aktivität, ist «[[actus purus]]».
 
:"Herr Dr. Heinroth in seiner Anthropologie ... spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei, welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will." {{Lit|Goethes Werke, S 77}}


Goethe kannte nur eine Quelle der [[Erkenntnis]], die [[Erfahrung]]swelt, in der die [[objektiv]]e [[Ideenwelt]] mit eingeschlossen ist.  
[[Hegel]] setzte zwar als Anfang das Sein, dem sich aber das Nichts entgegensetzt; die höhere Einheit beider, ihre [[Synthese]], ist das ''Werden''. In seiner [[Wikipedia:Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften|Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften]] schreibt er:
Die Urpflanze erschließt sich nicht dem [[diskursiv]]en, logisch ableitenden [[Denken]], sondern nur der unmittelbaren [[Intuition|intutiven]] [[Intellekt|intellektuellen]] [[Anschauung]]. Ein derartiges Vermögen hatte [[Immanuel Kant]] dem [[Mensch]]en abgesprochen. Dem widersprach Goethe energisch:


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheben trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:
"'''§86''' Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann [...]


<div style="margin-left:30px; margin-right:20px">
'''§87''' Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist [...]
«Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen: Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.»
</div>


Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen." {{Lit|Goethes Werke, S 91}}
'''§88''' Das Nichts ist als dieses unmittelbare, sich selbst gleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden." {{Lit|Hegel, S 182ff.}}
</div>
</div>


Der österreichische Physiker und [[Wikipedia:Nobelpreis|Nobelpreis]]träger [[Wolfgang Pauli]] (1900-1958) hat dieses archetypische Denken in einem Brief vom 7. Januar 1948 an den Physiker [[Wikipedia:Markus Fierz|Markus Fierz]] sehr treffend so beschrieben:
Hegels [[dialektisch]]en Ansatz erläutert Steiner so:


<div style="margin-left:20px">
<div style="margin-left:20px">
"Mein Ausgangspunkt ist, welches die Brücke sei zwischen den Sinneswahrnehmungen
"Der Begriff, der den geringsten Inhalt und
und den Begriffen. Zugestandenermaßen kann die Logik eine solche
den größten Umfang hat, ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat
Brücke nicht geben oder konstruieren. Wenn man die vorbewußte Stufe der
derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar
Begriffe analysiert, findet man immer Vorstellungen, die aus "symbolischen"
ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wenn wir
Bildern mit im allgemeinen starkem emotionalen Gehalt bestehen. Die Vorstufe
vom Sein schlechtweg sprechen, ist nichts ausgesagt von der Art des
des Denkens ist ein ''malendes Schauen'' dieser inneren Bilder, deren Ursprung nicht
Seins. Von dem Begriff des Seins geht Hegel aus. Nun fragt es sich:
allein und nicht in erster Linie auf die Sinneswahrnehmungen (des betreffenden
Wie kommt man hinaus über diesen Begriff des Seins ? Wir können
Individuums) zurückgeführt werden kann, sondern die durch einen "Instinkt des
nicht stehenbleiben bei diesem Begriff, sonst bekommen wir kein
Vorstellens" produziert und bei verschiedenen Individuen unabhängig, d. h.
Begriffssystem. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem
kollektiv reproduziert werden... Der frühere archaisch-magische Standpunkt ist nur ein
zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen
klein wenig unter der Oberfläche; ein geringes abaissement du niveau mental
lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen Anhaltspunkt
genügt, um ihn völlig "nach oben" kommen zu lassen. Die archaische Einstellung
finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar
ist aber auch die notwendige Voraussetzung ''und die Quelle'' der wissenschaftlichen
wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber
Einstellung. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehört auch diejenige der Bilder,
noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint.
aus denen die rationalen Begriffe gewachsen sind.
Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel
enthält eigentlich die ganze Pflanze, die noch nicht herausgewachsen,
sondern noch in ihr drinnen ist. Wenn wir die Wurzel anschauen,
haben wir noch nicht alles, was da ist. Die Pflanze selber, die
drin ist in der Wurzel, sehen wir nicht. Wenn wir nur mit äußeren
Augen die Wurzel anschauen, sehen wir gerade nicht, was die Pflanze
aus der Wurzel heraustreibt. So steckt auch in jedem Begriff etwas
drin, was aus ihm herauswachsen kann, ebenso wie in der Wurzel etwas
steckt, was aus ihr herauswachsen kann, und zwar steckt im Begriff
des Seins das Gegenteil, das Nichts drin. Wenn wir den Begriff
des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen
und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er
alles umfaßt, umfaßt er zugleich das «Nichts». Das «Nichts» steckt
darinnen im «Sein», es sproßt heraus aus dem «Sein». Wenn wir das
«Sein» innerlich betrachten, so sehen wir hier schon den Begriff des
«Nichts» aus dem Begriff des «Seins» herauswachsen. Wenn wir uns
eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist
das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen,
werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine
Vorstellung zu machen. Das ist aber etwas, was innerhalb der Begriffswelt
für den Anthroposophen ungeheuer wichtig ist, und es
wird eine Zeit kommen, wenn die Anthroposophie mehr eingehen
wird auf die Begriffe, da wird viel davon abhängen, daß gerade der
Begriff des «Nichts» in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die
Theosophie daran, daß der Begriff des «Nichts» unklar gefaßt wird.
Deshalb ist ja die Theosophie zu einer Art «Emanationslehre» geworden,
[Lücke in der Nachschrift] so als ob das Spätere aus dem
Früheren hervorgegangen sei.


Nun kommt eine Auffassung, wo ich vielleicht mehr ein Platonist bin als die
Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt,
Psychologen der Jungschen Richtung. Was ist nun die Antwort auf die Frage nach
zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach
der Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Begriffen, die sich uns
einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten
nun reduziert auf die Frage nach der Brücke zwischen den äußeren Wahrnehmungen
Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen
und jenen inneren bildhaften Vorstellungen. Es scheint mir - wie immer man es
kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen
auch dreht, ob man vom "Teilhaben der Dinge an den Ideen" oder von "an sich
Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten
realen Dingen" spricht - es muß hier eine unserer Willkür entzogene kosmische
wären. Es ist ganz gleich, was Sie sich da über diese beiden
Ordnung der Natur postuliert werden, der ''sowohl'' die äußeren materiellen Objekte
Menschen denken, aber der Begriff wäre nicht gefaßt worden,
''als auch'' die inneren Bilder unterworfen sind. (Was von beiden historisch das
wenn sie Ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die
frühere ist, dürfte sich als eine müßige Scherzfrage erweisen - so etwa wie "Was war
beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen
früher: das Huhn oder das Ei?") ''Das Ordnende und Regulierende muß jenseits der Unterscheidung von physisch und psychisch gestellt werden'' - so wie Platos "Ideen"
niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind,
etwas von "Begriffen" und auch etwas von "Naturkräften" haben (sie erzeugen von
ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also
sich aus Wirkungen). Ich bin sehr dafür, dieses "Ordnende und Regulierende"
nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen
"Archetypen" zu nennen; es wäre aber dann unzulässig, diese als ''psychische''
gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem
Inhalte zu ''definieren''. Vielmehr sind die erwähnten inneren Bilder ("Dominanten
Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der
des kollektiven Unbewußten" nach Jung) die ''psychische'' Manifestation der
anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten
Archetypen, die aber ''auch alles'' naturgesetzliche im Verhalten der Körperwelt
führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten
hervorbringen, erzeugen, bedingen müßten. Die Naturgesetze der Körperwelt
erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht
wären dann die ''physikalische Manifestation der Archetypen''.
an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht
an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch
die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt
worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem
Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können
es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem
Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation
hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation
bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt.
Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts
ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltengeschehen, und Sie können
dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in
dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff
des «Nirwana» besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff
vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts
meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist.


Zu dieser Auffassung paßt sowohl Ihr Vorschlag, die Physik und Psychologie
Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts
als komplementäre Betrachtungsweisen (bzw. Untersuchungsrichtungen) aufzufassen,
herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch,
als auch die eigentümliche Psychologie der Alchemie (die als archaische
daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man
Stufe vor der eigentlichen Wissenschaft sehr aufschlußreich ist) so wie noch einiges
«Sein» und «Nichtsein» miteinander verbindet, entsteht das «Werden
Andere. Es sollte dann jedes Naturgesetz eine Entsprechung innen haben und
». Das «Werden» ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen
umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer unmittelbar sehen kann." {{Lit|Meyenn, S. 496}}
schon in sich enthält. «Werden» ist ein fortwährender Übergang
</div>
von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende
 
entsteht. So haben Sie in dem Begriff «Werden» das Spiel der beiden
Genau diese ''«Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Begriffen»'', von der Pauli spricht, hat Steiner in seinen philosophischen Grundlagenwerken geschlagen. Voraussetzung dafür ist ein [[reines Denken]], das nicht mehr an den [[Leib]] gebunden ist.
Begriffe «Sein» und «Nichts». Von dem Begriff des Werdens ausgehend
 
kommen Sie dann zu dem Begriff «Dasein». Es ist das, was als
<div style="margin-left:20px">
das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des
"Indem man so das Denken emanzipiert von
Werdens ist das «Dasein», ein abgeschlossenes Werden. Dem «Dasein» muß ein Werden vorangehen. Was haben wir nun davon,
seinem Leiblichen, erlebt, fühlt man sich selbst so, wie wenn einem das
wenn wir solche vier Begriffe innerlich uns ausgestaltet und sie so
eigene Denken entrissen würde, wie wenn es im Räume und in der Zeit
gewonnen haben? Wir haben sehr viel davon. Wir denken nun bei
sich ausweitete und ausbreitete. Das Denken, von dem wir sonst sagen:
dem Begriff des Werdens nichts anderes, als was wir hier als Inhalt
Es verläuft in uns - , identifiziert sich mit der umgebenden geistigen
das Begriffs kennengelernt haben. Wir müssen alles ausschließen,
Welt, strömt in dieselbe hinein und erlangt gegenüber uns selbst
was nicht zu dem Begriff gehört. Wer richtig dialektisch geschult ist,
eine Selbständigkeit, die wir vergleichen können mit der annähernden
der hat, wenn von «Werden» gesprochen wird, in diesem Begriff
Selbständigkeit, die im physischen Leibe zum Beispiel das Auge hat,
nichts anderes als das Ineinanderspielen von «Sein» und «Nichts».
das als eine Art selbständiges Organ in seiner Höhle drinnensitzt. So
Wenn der dialektisch geschulte Denker vom «Werden» spricht, so
ist das nun selbständige Denken zwar mit dem erhöhten Selbst verbunden,
ist das ein ebenso bestimmter Begriff, wie wenn er von dem Begriff
aber so selbständig, daß es wie das geistige Wahrnehmungsorgan
«Dreieck» spricht. So ist die Dialektik gerade die wunderbarste
für das Denken und Fühlen der anderen geistigen Wesenheiten
Zucht des Denkens." {{Lit|{{G|108|247ff}}}}
wirkt, so wie das Auge für das Wahrnehmen der sinnlichen Farbe und
des sinnlichen Lichtes wirkt. Man kommt allmählich dazu, zu sehen,
daß sich das Denken, das sonst in der Intelligenz beschlossen ist, wie
ein geistiges Wahrnehmungsorgan verselbständigt gegenüber unserer
eigenen Wesenheit.
 
Ich kann das, was ich eben dargestellt habe, auch in anderen Worten
sagen. Dasjenige, was man wirklich subjektiv erlebt, das, was die
Intelligenz umschließt, das äußere Denken, sind schattenhafte Wesenheiten,
eben Gedankenwesenheiten, bloß Gedanken, die abbilden äußere
Wesenheiten. Indem das Denken hellsichtig wird, sich absondert von
Gehirn und Nervensystem, beginnt es, innere Regsamkeit, Eigenleben
zu entwickeln und strömt als eigenes Erleben in die übrige geistige Welt
hinaus. Die Fühlhörner des Denkens - ich muß es etwas grob ausdrücken
- , des hellsichtig gewordenen Denkens, strecken wir hinaus
in die geistige Welt, und sie nehmen im Untertauchen wahr das fühlende
Wollen, das wollende Fühlen der anderen Wesen, die um uns sind
auf dem geistigen Felde." {{Lit|{{G|154|119}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Aus
meinen getanen Äußerungen geht hervor, daß das selbständig gewordene
Denken gleichsam das geistige Auge wird für die Wahrnehmung
der geistigen Außenwelt. Allerdings zeigt sich vor der hellsichtigen
Forschung, die dieses geistige Auge zu dem, was hellsichtiges Denken
ist, gebraucht, daß dieses geistige Auge ein aktives, ein tätiges ist, daß
die geistigen Fühlhörner sich überall hin ausstrecken, während das physische
Auge ein passives ist, das die Eindrücke passiv an sich herankommen
läßt. Hat daher der Geistesforscher in seine Gedanken die
Offenbarungen der geistigen Welt aufgenommen, dann leben sie in den
Gedanken darinnen. Und versucht er dann dasjenige, was er sich bemüht
hat, in seine lebenden Gedanken hineinzubringen, seinen Mitmenschen
mitzuteilen, so ist es den Mitmenschen möglich, ihn zu verstehen,
ihn zu begreifen, wenn sie sich diese Wege, ihn zu verstehen,
nur nicht durch materialistische Vorurteile verlegen lassen." {{Lit|{{G|154|121}}}}
</div>
</div>


== Denken und Imagination ==
Der Begriff des ''Werdens'' steht im Gegensatz zu dem des ''Gewordenen''. Ersterer bezieht sich primär auf die lebendige Welt des [[Äther]]ischen, letzterer auf die [[physische Welt]], die das Insgesamt des Gewordenen darstellt. Um einen wirklichkeitsgemäßen Begriff des Werdens zu fassen, genügt es nicht, Veränderungen des Gewordenen aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken von Teilelementen des Gewordenen abzuleiten. Damit kommt man aus dem Bereich des Gewordenen nicht heraus; das Gewordene bleibt ein Gewordenes, auch wenn es sich im [[Zeit]]enlauf gesetzmäßig verändert. Erst dort, wo etwas in den Bereich des Gewordenen hereintritt, das zuvor nicht vorhanden war und auch nicht aus dem Vorhandenen abgeleitet werden kann, beginnt das lebendige Werden. Das Ätherische, das die Quelle des Werdens ist, erscheint aber aus der Sicht des [[Physisch]]en als ''Nichts'', als etwas nicht Vorhandenes, nicht [[Dasein|Daseiendes]]. Der Begriff des Werdens leitet zu dem der ''Schöpfung aus dem Nichts'' über, allerdings noch nicht im absoluten Sinn. Schreitet man nämlich vom Ätherischen weiter zum [[Astralisch]]en, so erscheint das Ätherische, allerdings nun in einem höheren und lebendigeren Sinn, ebenfalls wieder als etwas Gewordenes. Ähnlich ist es, wenn man vom Astralischen zum [[Geist]]igen vordringt; dann erscheint selbst das Astralische als etwas Geschaffenes. Erst im Geistigen selbst hat man die [[wahr]]e Quelle alles Werdens. Das Geistige entsteht aus nichts anderem, als aus sich selbst. Erst im Geistigen haben wir es mit einem reinen Schaffen zu tun, das auf kein Geschaffenes mehr zurückgreift. Hier erst verwirklicht sich die [[Schöpfung aus dem Nichts]] im  absoluten Sinn.
 
Hellsehen beruht auf der Fähigkeit zur [[Imagination]], dem ''„malenden Schauen innerer Bilder“'', durch die sich die [[Wirklichkeit]] in archetypischen Sinnbildern offenbart. Das [[Sehen]] bezeichnet dabei nur einen besonders hervorstechenden Aspekt des Hellsehens, die Clairvoyance kann sich auch in andere [[astral]]e Sinnesqualitäten kleiden, so dass man auch vom '''Hellhören''', '''Hellfühlen''' usw., ja insbesondere sogar vom '''Hellschmecken''' sprechen kann. Das Hellsehen ist dabei streng zu unterscheiden von der [[Halluzination]], bei der eine sinnliche Wahrnehmung erregt bzw. vorgetäuscht wird, ohne dass dazu ein entsprechender äußerer Reiz vorhanden ist. Dabei ist allerdings streng zu beachten, dass das imaginativ „Gesehene“ durchaus unsichtbar, das „Gehörte“ völlig unhörbar ist, da es sich eben nicht um eine [[sinnlich]]e, sondern um eine durch die eigene geistige Tätigkeit aktiv und bewusst hervorgebrachte, aber inhaltlich vollkommen durch sich selbst bestimmte rein übersinnliche Wahrnehmung handelt. Da aber beim irdisch verkörperten Menschen die Leibestätigkeit und insbesondere die Sinnessphäre immer leise mitschwingt, ist es ganz natürlich und sachgemäß, das imaginativ Erlebte in sinnlichen Ausdrücken zu beschreiben:
 
{{GZ|Man wird nun finden, daß diejenigen Menschen, welche
übersinnliche Beobachtungen machen können, dasjenige,
was sie schauen, so beschreiben, daß sie sich der
Ausdrücke bedienen, welche den sinnlichen Empfindungen
entlehnt sind. So kann man den elementarischen Leib
eines Wesens der Sinnenwelt, oder ein rein elementarisches
Wesen so beschrieben finden, daß gesagt wird, es offenbare
sich als in sich geschlossener, mannigfaltig gefärbter
Lichtleib. Es blitze in Farben auf, glimmere oder leuchte
und lasse bemerken, daß diese Farben- oder Lichterscheinung
seine Lebensäußerung sei. Wovon der Beobachter da
eigentlich spricht, ist durchaus unsichtbar, und er ist sich
dessen bewußt, daß mit dem, was er wahrnimmt, das
Licht- oder Farbenbild nichts anderes zu tun hat, als etwa
die Schrift, in welcher eine Tatsache mitgeteilt wird, mit
dieser Tatsache selbst. Dennoch hat man nicht etwa bloß
ein Übersinnliches in willkürlicher Art durch sinnliche
Empfindungsvorstellungen ausgedrückt; sondern man hat
während der Beobachtung das Erlebnis wirklich gemacht,
das einem Sinneseindruck ähnlich ist. Es kommt dies davon
her, daß im übersinnlichen Erleben die Befreiung von
dem sinnlichen Leibe keine vollkommene ist. Dieser lebt
mit dem elementarischen Leibe doch noch mit und bringt
das übersinnliche Erlebnis in eine sinnliche Form. Die
Beschreibung, die man so gibt von einer elementarischen
Wesenheit, ist dann tatsächlich so gehalten, daß sie sich
wie eine visionäre, oder phantastische Zusammenstellung
von Sinneseindrücken zeigt. Wenn die Beschreibung so
gegeben wird, dann ist sie trotzdem die wahre Wiedergabe
des Erlebten. Denn man hat geschaut, was man schildert.
Der Fehler, der gemacht werden kann, liegt nicht darin,
daß man das Bild als solches schildert. Es liegt ein Fehler
erst dann vor, wenn man das Bild für die Wirklichkeit
hält, und nicht dasjenige, auf was das Bild, als auf die ihm
entsprechende Wirklichkeit, hindeutet.
 
Ein Mensch, welcher niemals Farben wahrgenommen
hat - ein Blindgeborener - wird, wenn er sich die entsprechende
Fähigkeit erwirbt, elementarische Wesenheiten
nicht so beschreiben, daß er sagt, sie blitzen als Farbenerscheinungen
auf. Er wird sich derjenigen Empfindungsvorstellungen
zum Ausdrucke bedienen, welche ihm gewohnt
sind. Für die Menschen aber, welche sinnlich sehen
können, ist eine Schilderung durchaus geeignet, welche sich
etwa des Ausdruckes bedient, es blitzte eine Farbengestalt
auf. Sie können dadurch sich die Empfindung von dem bilden,
was der Beobachter der elementarischen Welt geschaut
hat. Und das gilt nicht etwa nur für Mitteilungen, welche
ein Hellsichtiger - es sei ein Mensch so genannt, der durch
seinen elementarischen Leib beobachten kann - einem
Nicht-Hellsichtigen macht, sondern auch für die Verständigung
der Hellsichtigen untereinander. In der Sinnenwelt
lebt der Mensch eben in seinem sinnlichen Leib, und dieser
kleidet ihm die übersinnlichen Beobachtungen in Sinnesformen
ein; daher ist innerhalb des menschlichen Erdenlebens
der Ausdruck der übersinnlichen Beobachtungen
durch die von ihnen erzeugten Sinnesbilder denn doch zunächst
eine brauchbare Art der Mitteilung.
 
Es kommt darauf an, daß derjenige, welcher eine solche
Mitteilung empfängt, in seiner Seele ein Erlebnis hat, welches
zu der in Betracht kommenden Tatsache in dem richtigen
Verhältnisse steht. Die sinnlichen Bilder werden nur
mitgeteilt, damit durch sie etwas erlebt wird. So wie sie sich
darbieten, können sie nicht in der Sinnenwelt vorkommen.
Das ist eben ihre Eigentümlichkeit. Und deswegen rufen
sie auch Erlebnisse hervor, die sich auf nichts Sinnliches
beziehen.|16|32ff}}
 
{{GZ|In meiner «[[GA 9|Theosophie]]» finden
Sie, daß man das Seelische in Form einer Art [[Aura]] sieht. Sie
wird in Farben beschrieben. Grobklotzige Menschen, die nicht
weiter eingehen auf die Sachen, sondern selbst Bücher schreiben,
die glauben, daß der Seher die Aura schildert, sie beschreibt,
indem er die Meinung hat, daß da wirklich so ein Nebeldunst
vor ihm ist. Was der Seher vor sich hat, ist ein geistiges Erlebnis.
Wenn er sagt, die Aura ist blau, so sagt er, er hat ein seelisch-geistiges
Erlebnis, das so ist, als wenn er blau sehen würde. Er schildert
überhaupt alles das, was er in der geistigen Welt erlebt und
was analog ist dem, was in der sinnlichen Welt an den Farben
erlebt werden kann.|271|185}}


Hellsichtigkeit allein genügt nicht, um das übersinnlich wahrgenommene auch im richtigen Sinn zu deuten. Sehr häufig kommt es vor, dass hellsichtige Menschen, die Ergebnisse ihrer Schauungen in irrtümlicher Weise interpretieren. Die wahre Bedeutung geistiger Wahrnehmungen eröffnet sich erst dem [[Eingeweihter|Eingeweihten]] - egal ob es sich dabei unmittelbar um eigene Wahrnehmungen handelt, oder um solche, die von hellsichtigen Menschen überliefert wurden. In den alten [[Mysterien]] gab es tatsächlich eine strenge Trennung zwischen Eingeweihten und Hellsehern, die damit auch ganz aufeinander angewiesen waren. Heute ist diese Trennung kaum mehr durchzuhalten.
Das Nichts, als Gegensatz des Seins, ist eben nicht einfach ''nichts'', sondern hat seinen Ursprung im [[Unendlichen]], Unbeschränkten, Unbegrenzten, das sich eben durch seine völlige Grenzenlosigkeit und Unbestimmbarkeit grundsätzlich jeder [[Erkenntnis]]möglichkeit entzieht, aus dem aber letzlich ''ohne'' kausale Ursache und daher in völliger [[Freiheit]] ''alles'' entstehen kann. Das ''Nichts'' und das ''unbeschränkt Unendliche'' sind derart identisch. In diesem Sinn ist etwa das [[Ain Soph]] ([[Hebräische Sprache|hebr.]]אין סוף, ''nicht endlich'') in der [[Kabbala|kabbalistischen]] [[Mystik]] aufzufassen oder das [[Apeiron]] ([[Wikipedia:Griechische Sprache|griech.]] άπειρον, ''das Unendliche'', ''das Unbegrenzte'') des [[Wikipedia:Anaximander|Anaximander]] (um 610–546 v. Chr), das für ihn die [[Arché]], der Ursprung ist, aus dem die ganze Welt entstand. Dem entspricht auch das [[Nirvana]] als der wahren Quelle allen aktiven [[Sein]]s, aus der die ''Schöpfung aus dem Nichts'' entspringt. Aus dieser Quelle stammt und schöpft auch das [[mensch]]liche [[Ich]], der schöpferische Funke in uns, und darum liegt es im [[Wesen]] des [[Mensch]]en, ein stets Werdender zu sein.


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"Derjenige nun, der, ohne selbst hellsichtig zu sein, alles
"Denn Geisteswissenschaft kann nicht anders, als den Menschen darauf
einsieht, was die Geheimwissenschaft zu sagen hat, ist ein
verweisen, daß man fortwährend etwas werden muß, daß man nicht
Eingeweihter. Wer aber selbst eintreten kann in diese Welten,
irgend etwas durch dies oder jenes fertig sein kann. Der Mensch
die wir die unsichtbaren nennen, der ist ein Hellseher.
täuscht sich in furchtbarster Weise über sich selbst, wenn er glaubt,
In alten Zeiten, die noch gar nicht so lange hinter uns liegen,
auf etwas Absolutes hinweisen zu können, was bei ihm irgendeine besondere
bestand in den Geheimschulen eine strenge Trennung zwischen
Vollkommenheit bedingt. Alles, was nicht im Werden ist, bedingt
Hellsehern und Eingeweihten. Man konnte als Eingeweihter,
beim Menschen eine Unvollkommenheit und nicht eine Vollkommenheit." {{Lit|{{G|186|94}}}}
ohne Hellseher zu sein, hinaufsteigen zu den
Erkenntnissen der höheren Welten, wenn man nur in richtiger
Weise den Verstand anwendete. Auf der anderen
Seite konnte man Hellseher sein, ohne in besonders hohem
Grade eingeweiht zu sein. Es wird Ihnen schon klar werden,
wie das gemeint ist. Denken Sie sich zwei Menschen,
einen sehr gelehrten Herrn, der alles mögliche weiß, was
die Physik und die Physiologie über das Licht und die Lichterscheinungen
zu sagen haben, jedoch so kurzsichtig ist, daß
er kaum zehn Zentimeter weit sehen kann: er sieht nicht
viel, ist aber eingeweiht in die Gesetze des Lichtwirkens.
So kann jemand eingeweiht sein in die übersinnliche Welt
und schlecht darin sehen. Ein anderer kann ausgezeichnet
in der äußeren sinnlichen Welt sehen, aber so gut wie nichts
wissen von dem, was der gelehrte Herr weiß. So kann es
auch Hellseher geben, vor deren geistigen Augen die geistigen
Welten offen daliegen. Sie können hineinschauen in die
geistige Welt, haben aber keine Wissenschaft, keine Erkenntnis
von derselben. Daher hat man eine lange Zeit
hindurch den Unterschied gemacht zwischen dem Hellseher
und dem Eingeweihten. Um die Fülle des Lebens zu umfangen,
brauchte man oft nicht einen, sondern viele Menschen.
Die einen wurden, um weiterzukommen, nicht hellsichtig
gemacht. Anderen wurden die geistigen Augen und
Ohren geschaffen. Das, was in der Geheimwissenschaft vorhanden
war, ist durch Mitteilung und Gedankenaustausch
zwischen Geheimwissenschaftern und Hellsehern zustande
gekommen.
 
In unserer Zeit kann diese strenge Trennung zwischen
Hellsehern und Eingeweihten gar nicht durchgeführt werden.
Heute ist es notwendig, daß jedem, der einen bestimmten
Grad der Einweihung erreicht hat, wenigstens auch die
Möglichkeit gegeben wird, einen bestimmten Grad des Hellsehens
zu erlangen. Der Grund dafür ist, daß in unserer Zeit
das große restlose Vertrauen von Mensch zu Mensch nicht
herzustellen ist. Heute will ein jeder selbst wissen und selbst
sehen. Jener tiefe, hingebungsvolle Glaube, wie er früher
von Mensch zu Mensch geherrscht hat, machte es möglich,
daß es eine besondere Art von Hellsehern gab, von denen
man vernahm, was sie in den höheren Welten wahrnahmen.
Andere ordneten dann systematisch, was diese wahrgenommen
hatten. Heute ist eine Art Harmonie in der Entwickelung
der Fähigkeiten zum Eingeweihten und zum Hellseher
geschaffen. Daher kann ein Drittes, das [[Adept]]entum, heute
sehr stark zurücktreten." {{Lit|{{G|56|26f}}}}
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Um hellseherische Fähigkeiten bewusst zu entwickeln, muss der [[Astralleib]] zuvor durch [[Katharsis]] von allen [[Begierde]]n und [[Lust]] und [[Leid]] gereinigt werden, die wie eine dunkle Wolke den Blick auf die geistige Wirklichkeit verschleiern oder verfälscht. Niederes Hellsehen kann sehr leicht zur Wahrnehmung der eigenen unverwandelten [[Begierde]]kräfte führen, die fälschlich für eine äußere [[seelisch]]e oder [[geistig]]e Realität angesehen werden.


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"Hellsehen heißt nichts anderes, als es zu einer Entwickelungsstufe der menschlichen Wesenheit gebracht zu haben, durch welche der Mensch lust- und leidfrei die Welt um sich herum wahrzunehmen vermag." {{Lit|{{G|52|202f}}}}
"... der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im
Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit
versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im
physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen
Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung
durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre
irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr,
und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind
das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt
Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist [[ahrimanisch]]. Nuancen sollten
da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Menschen
kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Gedanken
in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein
wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht
bloß ein seiendes Wesen zu sein." {{Lit|{{G|187|45f}}}}
</div>
</div>


Hellsichtigkeit kann nur erwachen, wenn sich die Erlebnisse des [[Astralleib]]s im [[Ätherleib]] abbilden bzw. spiegeln. So wie die sinnliche Wahrnehmung der [[physisch]]en [[Sinne]] als Spiegelungsapparat bedarf, so müssen beim Hellsehen die übersinnlichen Erlebnisse durch den Ätherleib in das [[Bewusstsein]] reflektiert werden. In beiden Fällen sind die in der [[Astralwelt]] webenden [[Sinnesqualitäten]] das seelische Rohmaterial, aus dem sich die wahrgenommenen Bilder malen. Durch die äußere [[Sinneswahrnehmung]] erscheinen die Sinnesqualitäten allerdings nur in stark abgedämpfter Form. Erst dem hellsichtigen Bewusstsein erscheinen sie, abhängig vom geistigen Entwicklungsgrad des Hellsehers, in ihrer vollen ungetrübten Wirklichkeit.
== Literatur ==
 
<div style="margin-left:20px">
"Hellsichtig sein heißt, sich der Organe seines ätherischen Leibes bedienen können.
Wenn man sich nur der Organe seines astralischen Leibes bedienen kann, so
kann man zwar innerlich fühlen und empfinden, innerlich erleben die tiefsten Geheimnisse;
aber man kann sie nicht schauen. Erst wenn das, was im astralischen Leibe
erlebt wird, sich sozusagen seinen Abdruck verschafft im Ätherleibe, kann Hellsichtigkeit
eintreten." {{Lit|{{G|114|67}}}}
</div>


== Kopf-, Brust- und Bauchhellsehen ==
* [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel]]: ''Werke. Band 8'', Frankfurt a. M. 1979
* [[Heraklit]]: Fragment 49a [[Wikipedia:Die Fragmente der Vorsokratiker|DK]], Übersetzung nach Wilhelm Capelle, ''Die Vorsokratiker'', S 132
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten'', [[GA 176]] (1982), ISBN 3-7274-1760-9 {{Vorträge|176}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage'', [[GA 186]] (1990), ISBN 3-7274-1860-5 {{Vorträge|186}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?'', [[GA 187]] (1995), ISBN 3-7274-1870-2 {{Vorträge|187}}


[[Rudolf Steiner]] hat prinzipiell drei Arten des Hellsehens unterschieden, nämlich das Kopf-, Brust- und Bauchhellsehen, die mit der [[Dreigliederung des menschlichen Organismus]] zusammenhängen, wobei mit dem '''Kopfhellsehen''' zugleich meist auch das Brust- oder '''Herzhellsehen''' aktiviert wird. Es werden dabei die oberen [[Lotosblumen]] bis herunter zum [[Herzchakra]] in Tätigkeit gesetzt. Das Kopfhellsehen hat einen mehr [[Gedanke|gedanklich]]-[[vorstellung]]smäßigen, aber auch [[gefühl]]sartigen Charakter, während das '''Brusthellsehen''' mehr zur [[Wille]]sentwicklung führt. Das Kopfhellsehen liefert zudem vornehmlich Ergebnisse, die vom einzelnen [[Mensch]]en unabhängig und in diesem Sinne „objektiv“ sind, während das '''Bauchhellsehen''' vowiegend mit dem zusammenhängt, was im einzelnen Menschen selbst vorgeht und sehr leicht von [[subjektiv]]en persönlichen [[Egoismus|Egoismen]] durchdrungen wird. Das sogenannte „intuitive“ '''Bauchgefühl''' hängt namentlich mit der dem [[Lebenssinn]] zugehörigen [[Viszerozeption]] zusammen und unterscheidet sich damit deutlich von dem, was Rudolf Steiner als vollbewusste [[Intuition]] bezeichnet.
{{GA}}


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== Weblinks ==
"Nun handelt es sich darum, daß der sich mit Geisteswissenschaft Beschäftigende wirklich genau einsieht den Wert der geisteswissenschaftlichen Beschäftigung als solcher und das Verhältnis dieser geisteswissenschaftlichen Beschäftigung zu dem persönlichen Streben, welches durch Meditation und Konzentration der Gedanken, Empfindungen und Willensimpulse oder sonst irgendwie, den Menschen hineinbringt in die geistige Welt. Denn darüber müssen wir uns vor allen Dingen klar sein, und das ist eine tiefe, bedeutungsvolle Wahrheit, daß jene Einheitlichkeit, die uns gewissermaßen umringt in der gewöhnlichen Welt, nicht in derselben Art in der geistigen Welt vorhanden ist. Ich habe schon hingewiesen darauf, daß diese Einheitlichkeit in dem ganzen Gefüge des geistig-seelischen Menschen begründet ist. Wie streben doch die meisten Menschen danach, immer wieder und wieder zu fragen: Was ist die Einheit der Welt? - Wie finden sie sich erst befriedigt, wenn sie alles auf ein Prinzip zurückführen können!
* [[Wikipedia:Werden (Philosophie)|Werden]] - Artikel in der deutschen [http://de.wikipedia.org Wikipedia].


In der Tat tritt uns die äußere physische Welt im eminenten Sinne als ein Ganzes, als ein einheitlich Gestaltetes entgegen, und diejenigen Menschen, welche gewissermaßen von dem Einheitsteufel ganz beherrscht sind, kommen zu allen möglichen Gedankenabstraktionen, indem sie suchen das einheitliche Prinzip der Welt...
== Einzelnachweise ==
 
<references/>
Vor allen Dingen müssen wir demgegenüber im tiefsten Sinne das nehmen, was in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ausgedrückt ist, daß, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten, wir wirklich in ein dreifaches Erleben hineingeführt werden. Das habe ich in diesem Buche ganz besonders betont, daß die Seele wie dreigespalten wird; und indem die Seele die Schwelle der geistigen Welt überschreitet, ist nichts mehr eigentlich vorhanden, was es einem möglich macht, an den Einheitsteufel, an diesen bequemen Einheitsteufel zu glauben.
 
Ja, wir fühlen selbst, daß wir, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten, mit unserem ganzen Wesen eigentlich in drei Welten eintreten, wirklich in drei Welten eintreten. Und wir müssen dies eigentlich nicht aus dem Auge verlieren, daß man nach dem Überschreiten der Schwelle der geistigen Welt das Erlebnis der drei Welten deutlich hat. Schon mit der ganzen Bildung unseres physischen Leibes gehören wir eigentlich drei Welten an. Ich möchte sagen: Zu diesem wunderbaren Gebilde «Mensch», das uns da entgegentritt in der physischen Welt, ist wirklich das Zusammenwirken von drei Welten, die eine verhältnismäßig starke Unabhängigkeit voneinander haben, notwendig. Und wenn wir die Bildung unseres Hauptes betrachten, die Bildung all dessen betrachten, was zum Haupte gehört, dann müssen wir, selbst wenn wir nur vom physischen Haupte sprechen, uns klar sein darüber, daß die Bildekraft unseres Hauptes und auch die Wesenheiten, die in diesen Bildekräften wirkend und schaffend sind, einer ganz anderen Welt angehören als zum Beispiel die Bildekraft unserer Brust, die Bildekraft alles dessen, was zu unserem Herzen gehört, einschließlich der Arme und Hände. Es ist gewissermaßen, wie wenn die Bildekraft zu diesen materiellen Teilen des Menschen einer ganz anderen Welt angehören würde als die Bildekräfte unseres Hauptes. Und wiederum gehören die Unterleibsorgane und die Beine einer ganz anderen Welt an als die beiden anderen Glieder, die genannt worden sind.
 
Nun können Sie fragen: Was hat denn das alles für eine Bedeutung? Es hat eine große Bedeutung, weil im Grunde genommen der gegenwärtige Menschheitszyklus so ist, daß man reine, echte, wirklich wahre Ergebnisse der Geisteswissenschaft nur dadurch bekommt, daß unser Geistig-Seelisches herausgehoben wird aus dem Haupte. So daß gewissermaßen dies der hellseherische Aspekt eines Menschen ist, welcher geisteswissenschaftliche Beobachtungen hervorzubringen hat, die heute der Menschheit in richtigem Sinne dienen können (siehe Zeichnung).
 
[[Bild:Aetherhaupt.gif|right|250px|Ätherhaupt]]
Dieser hellsichtige Aspekt ist so zu betrachten, daß das Geistig-Seelische hier vorzugsweise herausgehoben wird, und daß dieses Geistig-Seelische gleichsam angeschlossen wird, wie durch einen spirituell elektrischen Anschluß, an die Kräfte des Kosmos. Also es muß alles, das Ich und der astralische Leib bis zum Ätherleibe, herausgezogen werden. Dieses Herausziehen ist dann selbstverständlich verknüpft mit der Entwickelung der sogenannten Lotusblumen. Aber die Kräfte, welche die Lotusblumen in Bewegung setzen, liegen in diesem herausgehobenen oder herauszuhebenden Teile des Geistig-Seelischen des Menschen.
 
Dies, was so erlangt wird, daß das Hellsehen gewissermaßen ein Kopfhellsehen ist, das kann geisteswissenschaftliches Resultat in unserer Zeit sein; denn das dient der Menschheit, dieses kopfhellseherische Ergebnis. Von ganz anderer Art ist das hellseherische Ergebnis, das dadurch bewirkt wird, daß mehr das Geistig-Seelische der Organe des Herzens, der Arme und der Hände herausgehoben wird. Dieses Herausheben unterscheidet sich auch innerlich bedeutend von dem, was zustande kommt durch das, was ich nennen möchte das Kopfhellsehen. Das Herausheben aus dem materiellen Herzorgan wird mehr bewirkt durch die Meditation, die sich auf das Willensleben bezieht; es wird bewirkt durch die demütige Hingabe an den Weltenprozeß. Während das Kopfhellsehen mehr durch die Gedanken, vorstellungsmäßig, aber auch durch empfindungsmäßige Vorstellungen bewirkt wird.
 
Es ist im allgemeinen mit Bezug auf diese beiden Arten des Hellsehens so, daß im Grunde das Herzhellsehen oder das Brusthellsehen, in dem Grade, wie es sich entwickeln soll, mit dem Kopfhellsehen sich schon entwickelt. Es führt das Brusthellsehen mehr zur Willensentwickelung, zum Zusammenhang mit den Aktionen der geistigen Wesenheiten niederer Hierarchien, wie derjenigen, die in den verschiedenen Reichen der Erde verkörpert sind, während das Kopfhellsehen mehr zu dem Anschauen, dem Erkennen, dem Wahrnehmen in den wirklich dem Menschen zunächst wichtigeren höheren Welten führt; wichtigeren, höheren Welten in dem Sinne, daß das Wissen von diesen höheren Mächten zur Befriedigung gewisser Erkenntnisbedürfnisse notwendig ist, die immer mehr und mehr auftreten müssen in der gegenwärtigen Menschheit. Je mehr wir der Zukunft unserer Entwickelung auf der Erde entgegenrücken, desto weniger werden die Menschen, ohne daß ihr Seelenleben ausgedörrt wird, leben können, wenn sie nicht in ihre Erkenntnis aufnehmen können die Ergebnisse dieses Hellsehens.
 
Und wieder eine dritte Art von Hellsehen ist diejenige, die dadurch entsteht, daß aus dem übrigen Menschen gelockert wird, also herausgehoben wird dasjenige, was man das Geistig-Seelische nennen kann. Da müßte ich (auf der Zeichnung) da unten, gegen das Ende zu, das Herausrücken andeuten.
 
[[Bild:Aetherbauch.gif|right|250px|Lockerung des [[Ätherleib]] im Bauchbereich.]]
Wenn auch der Ausdruck nicht besonders ästhetisch ist, so darf ich aber doch vielleicht diese Art des Hellsehens das Bauchhellsehen nennen. So daß man wirklich unterscheiden kann: das Kopfhellsehen, das Brusthellsehen und das Bauchhellsehen.
 
Während das Kopfhellsehen für unseren Menschheitszyklus im eminentesten Sinne dahin führt, von dem Menschen unabhängige Ergebnisse zu gewinnen, führt das Bauchhellsehen dazu, vorzugsweise Ergebnisse zu gewinnen, welche zusammenhängen mit dem, was im Menschen selber vorgeht. Dasjenige, was im Menschen selber vorgeht, muß selbstverständlich auch Gegenstand des Forschens sein, gibt es doch auch auf dem Gebiete des physischen Forschens die Anatomie und die Physiologie, die sich mit alledem zu befassen haben. Es darf nicht die Meinung auftauchen, daß dieses Bauchhellsehen nicht einen gewissen Wert, im höchsten Sinne des Wortes, haben könnte. Selbstverständlich hat es seinen Wert. Aber klar muß man sich darüber sein, daß dieses Bauchhellsehen nur wenig den Menschen unterrichten kann über dasjenige, was unpersönlich in den kosmischen Vorgängen sich abspielt, daß es im wesentlichen den Menschen unterrichtet über das, was in dem Menschen, ich möchte sagen, innerhalb der Haut des Menschen vor sich geht. Über andere Gegensätze zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen werde ich noch sprechen, aber in bezug auf das Moralisch-Ethische sind diese beiden Arten im Grunde genommen auch innerlich recht gut zu unterscheiden. Das Brusthellsehen steht dazwischen, zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen. In bezug auf das Ethische ist verhältnismäßig am wichtigsten das Kopfhellsehen. Menschen, welche danach streben, in unpersönlicher Weise, in dem Sinne wie es angedeutet ist in «[[Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?]]», zu einer Anschauung der höheren Welten zu kommen, Menschen, welche es sich nicht verdrießen lassen, diesen unbequemen, aber sicheren Weg zu gehen, die werden in bezug auf ihre Hellsichtigkeit auch etwas Unpersönliches in sich entwickeln, vor allen Dingen ein höheres Interesse für die objektive Welterkenntnis, für dasjenige, was in der Welt des kosmischen und in der Welt des geschichtlichen Werdens vor sich geht.
 
Von dem Menschen selber wird dieses Kopfhellsehen vorzugsweise in dem Sinne sprechen, daß es aufmerksam macht, wie der Mensch sich hineinstellt in den kosmischen, in den geschichtlichen Werdegang des Lebens, aufmerksam macht darauf, was der Mensch im Ganzen des Weltenprozesses ist, und es wird immer dasjenige, was herauskommt bei diesem Kopfhellsehen, einen unpersönlichen, ich möchte sagen, einen allgemein-wissenschaftlichen Charakter haben; es wird Mitteilungen enthalten, die Wichtigkeit haben - ich bitte das Wort wohl zu beachten - für alle Menschen, nicht nur für den einen oder den anderen.
 
Dasjenige, was Bauchhellsehen ist, das wird vorzugsweise durchdrungen sein von allen möglichen menschlichen Egoismen, wird überhaupt sehr leicht dazu verführen, daß sich der betreffende Hellseher viel mit sich, mit den okkulten Unterlagen seines eigenen Geschickes befaßt, mit den okkulten Unterlagen seines persönlichen Wertes und Charakters. Das ergibt sich wie eine selbstverständliche Neigung aus dem, was man das Bauchhellsehen nennt.
 
Nun tritt in bezug auf die anschauliche Natur zwischen den beiden Arten des Hellsehens ein starker Unterschied auf. Derjenige, der danach strebt, zunächst in dem Sinne, wie es gegeben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», mit seinem Seelisch-Geistigen frei zu werden von dem Wahrnehmungsapparat des Kopfes, der also gewissermaßen den geistig-seelischen Teil des Kopfes herauslockert aus dem physischen Werkzeuge und mit diesem geistig-seelischen Kopfteile sich hineinzuversetzen vermag in die geistige Welt, der wird es außerordentlich schwer haben, aus bloß schattenhaft-hellseherischen Erlebnissen herauszukommen. Dieses Heraustreten aus dem Kopfe ist verbunden zunächst mit Erlebnissen, die wirklich nicht einmal die Farbe, die Gesättigtheit von lebhaften Erinnerungen haben, die also gewissermaßen innerlich sehr farblos auftreten, und erst wenn man in den Anstrengungen, die auf diesem Wege liegen, immer weiter und weiter dringt, stellt es sich heraus, daß der schattenhafte Charakter dieser Erlebnisse sich verliert, und daß gewissermaßen mit Farbigem und Tönendem die farblosen und schattenhaften Erlebnisse tingiert werden.
 
[[Bild:Aethersphaere.gif|right|250px|Äthersphäre]]
Denn der Prozeß, der sich da abspielt, ist der, daß wir herausrücken aus unserem Kopfe zunächst und wirklich in einer Welt darinnen sind, die wir sehr schwer haben zu bemerken. Dann, indem wir nach und nach, langsam uns erwerben die Möglichkeit, außerhalb unseres Kopfes zu leben, verstärken sich diese inneren Lebenskräfte, und die Folge davon ist, daß aus dem ganzen Umkreise der Welt die zuströmenden Kräfte zusammengezogen werden. Also denken Sie sich, aus dem ganzen Umkreise der Welt müssen die Kräfte zusammengezogen werden, und wenn wir aus dem Umkreise der Welt die ganzen Kräfte zusammenziehen, dann bekommen wir die Tingierung mit Farbigem und Tönendem. Denken Sie sich einmal, um sich das vorzustellen, Sie haben hier - a - eine Fläche, die sehr stark gefärbt ist, eine Kugelfläche. Und nun denken Sie sich diese Kugelfläche hinausgedehnt über eine große Fläche - b, c -. Da wird die Farbe viel blasser, und wenn wir sie noch weiter ausdehnen, so wird die Farbe immer blasser und blasser; wenn wir sie hereinbringen würden, so würden wir, wenn dies ein blasses Gelb ist, hier ein sehr gestärktes, gesättigtes Gelb bekommen, weil dieselbe Menge der Farbpunkte dann wieder mehr zusammenkonzentriert ist.
 
Nun steht das Kopfhellsehen dem ganzen Kosmos gegenüber, und über den ganzen Kosmos ist dasjenige ausgedehnt, was der Mensch erst zusammenkonzentrieren muß mit seinen Lebenskräften in das, was er selber ist hellseherisch seiner Wesenheit nach; so daß er wirklich nur im mühseligen Gang der inneren Entwickelung allmählich das Schattenhafte der Erlebnisse tingiert. Und dann, wenn man lange, lange sich Mühe gegeben hat, das allgemeine Erleben zu haben, das einem nur das Gefühl gibt, außerhalb seines Leibes zu sein, und wenn man dieses allgemeine Erleben lange gehabt hat und immer mehr ein Gefühl bekommen hat, ein intensiveres, aber noch nicht farbiges und tönendes, inneres Erleben zu haben, dann kommen allmählich die Gebiete aus dem Kosmos an das Kopfhellsehen heran.
 
Das ist eine Sache der langsamen, selbstlosen Entwickelung. Insbesondere muß gesagt werden, daß zu dieser Entwickelung unerläßlich ist das Studium der Geisteswissenschaft. Es muß immer wieder und wieder betont werden, daß die Geisteswissenschaft, wenn sie gegeben ist, wirklich verstanden werden kann. Man kann das nicht oft genug betonen, daß man kein Hellseher zu sein braucht, um Geisteswissenschaft zu verstehen. Selbstverständlich muß man Hellseher sein, um zu den Ergebnissen zu kommen; aber wenn sie einmal da sind, braucht man kein Hellseher zu sein.
 
Dieses Verständnis der Geisteswissenschaft muß vorangehen dem eigentlichen Schauen. Auch hier ist es so, daß man sagen kann: es ist der umgekehrte Weg von dem der richtige, der m der physisch-sinnlichen Welt der richtige ist. In der physisch-sinnlichen Welt haben wir zuerst die richtigen Anschauungen, dann gehen wir zum gedanklichen Betrachten über; wir bilden uns die wissenschaftlichen Urteile hinterher. Beim Aufsteigen in die geistige Welt ist es umgekehrt. Da müssen wir zuerst die Begriffe und Vorstellungen entwickeln, müssen uns anstrengen, um uns objektiv in die Geisteswissenschaft einzuleben; sonst können wir niemals sicher sein, daß irgendwelche Beobachtung in der geistigen Welt von uns im richtigen Sinne gedeutet wird. Da muß die Wissenschaft eben dem Schauen vorangehen. Und das ist es, was vielen so unendlich unbequem ist: daß sie die Geisteswissenschaft studieren sollen. Das nehmen viele als unbegreifliche Zumutung hin. Denn sie streben danach, Anschauungen zu haben in der geistigen Welt. Gewiß, die kann man relativ leicht haben; aber sie richtig zu deuten, dazu gehört, daß man wirklich objektiv, selbstlos sich in die Geisteswissenschaft einläßt, sich mit ihr durchdringt.
 
Nun ist gerade das Umgekehrte der Fall bei dem, was man nennen kann das Bauchhellsehen. Da gehen wir aus von demjenigen Geistig-Seelischen, das zunächst gearbeitet hat an unserem Leiblich-Physischen. Denn all dem, was es in der Welt gibt, liegt ein Geistiges zugrunde. Wenn Sie, sagen wir, ein Stück Kohlrabi gegessen haben - wir sind ja meist Vegetarier - und es dann verarbeitet wird in unserem Organismus, so hat man es nicht bloß mit dem physisch-chemischen Prozeß zu tun, den der Magen mit seinen Kräften und Säften ausführt, sondern hinter dem allem ist der Ätherleib, der Astralleib und das Ich tätig. Alle diese Prozesse haben hinter sich geistig-spirituelle Prozesse. Es würde ganz falsch sein zu glauben, daß es materielle Prozesse gibt, die nicht einen spirituellen Prozeß hinter sich haben.
 
Denken Sie sich nun, Sie legen sich nach einem mehr oder weniger opulenten Mittagsmahle hin und werden hellsichtig, aber so hellsichtig, daß sich das Geistig-Seelische der Verdauungsorgane vor allen Dingen aus diesen Verdauungsorganen heraushebt. Dann leben Sie, während Ihr Magen und die übrigen Organe richtig verdauen, mit Ihrem Geistig-Seelischen im Geistig-Seelischen selber. Und während Ihnen sonst der spirituelle Prozeß unbewußt bleibt, der sich in Ihrem Ätherleibe, Astralleibe und Ich vollzieht, kommt er Ihnen, wenn Sie hellseherisch werden, zum Bewußtsein, und Sie können dann, indem Sie sich erleben in dem Geistig-Seelischen, all jenes Arbeiten und Bilden und Schaffen des Geistig-Seelischen an den Leibesgliedern während der Verdauung sehen; sehen, indem es sich hinausprojiziert m die Welt, und Ihnen, bildhaft sich spiegelnd, im äußeren Äther erscheint. Dann bekommen Sie, weil Sie jetzt nicht so sehr aus dem Kosmos anzuziehen haben die Farbe, sondern weil Sie den ganzen Prozeß konzentriert in Ihrer eigenen Haut sich abspielen haben, die allerschönsten hellseherischen Gebilde. So daß ein Wunderbares, das sich abspielt um Sie in den herrlichsten, lichtesten Farben- und Gestaltungsprozessen, nichts anderes zu sein braucht als der in den Geistesorganen des Menschen vor sich gehende Verdauungsprozeß oder sonst ein im Leibe befindlicher Prozeß.
 
Dieses Hellsehen unterscheidet sich von dem anderen ganz besonders dadurch, daß während das andere Hellsehen von schattenhaften Gebilden ausgeht und erst mühselig die Tingierung mit Farbe und Ton erhält, dieses schon ausgeht von dem Schönsten und Herrlichsten, das man sehen kann. Man kann es geradezu als ein Gesetz aussprechen: wenn das Hellsehen beginnt mit den herrlichsten Gebilden, insbesondere mit Farbengebilden, dann ist es ein Hellsehen, das sich bezieht auf Prozesse, die sich innerhalb des Persönlichen abspielen. Ich betone aber noch ausdrücklich, daß es für das Erforschen der geistigen Welt von großem Wert sein kann. Geradeso wie der Anatom und der Physiologe den Verdauungsprozeß und andere Prozesse untersuchen müssen, so hat es auch einen höchsten wissenschaftlichen Wert, auf diese Weise das hinter den menschlichen Prozessen stehende Geistige, das Spirituelle zu erforschen. Aber schlimm wäre es, wenn man sich irgendwelchen Täuschungen hingeben würde, wenn man sich Illusionen hingeben und die Dinge nicht in der richtigen Weise deuten würde.
 
Wenn man glauben würde, daß ein solches, ohne die entsprechende Vorbereitung auftretendes Hellsehen mehr geben könnte, als was sich im Menschen abspielt und sich hinausprojiziert in die objektive Welt, wenn man glauben würde, daß man gewissermaßen den regierenden Weltenmächten, den tonangebenden geistigen Kräften durch ein solches Hellsehen näherkommen könnte, so würde man sich sehr täuschen. Ebensowenig wie man durch die Untersuchung der menschlichen Verdauung die Weltenrätsel lösen kann, ebensowenig kann man den Weltenrätseln und Geheimnissen dadurch näherkommen, daß man dieses Bauchhellsehen entwickelt.
 
Sie sehen also, wieviel dazugehört, sich in der Welt, in die wir eintreten durch das Freiwerden unserer geistig-seelischen Kräfte, wirklich richtig zu orientieren. Niemand sollte etwa durch die Erörterungen, die darüber gepflogen worden sind, einen Abscheu haben vor dem Bauchhellsehen. Aber jeder sollte sich klar sein darüber, wie sich ein solches Hellsehen verhält zu dem, was wirklich geistiges Hellsehen werden kann, und wie man fernhalten muß von aller äußeren Überschätzung dasjenige, was auf hellseherischem Wege so gewonnen wird, daß es nur einen persönlichen Inhalt haben kann. Erst dann, wenn man bei diesen Dingen, die auch persönlichen Inhalt haben, absehen kann von dem Persönlichen und sie so betrachten kann wie der Anatom, der Physiologe dasjenige betrachtet, was er durch die Sektion erlebt oder durch seine Untersuchungen erhält, erst wenn man da zur wissenschaftlichen Betrachtung übergeht, dann haben die Dinge einen besonderen Wert. Jedenfalls dürfen sich an diese Dinge nicht im entferntesten irgendwelche religiöse Gefühle anknüpfen; die können sich nur an die Ergebnisse des Kopfhellsehens anknüpfen. Und man wird dem anderen Hellsehen um so gerechter, je mehr man geradezu die Forderung stellt, daß seine Ergebnisse nur im wissenschaftlich-objektiven Sinne behandelt werden, wie die Ergebnisse der Anatomie, der Physiologie.
 
Nicht alles, was auf dem Wege des Hellsehens gefunden wird, ist - ich möchte diesen radikalen Satz aussprechen - anbetungswürdig; aber alles ist des Erlernens wert. Das ist es, was wir ins Auge fassen müssen. Ich sagte, für unseren Zyklus sei es ganz besonders wichtig, die Ergebnisse des Kopfhellsehens der allgemeinen geistigen Menschheitskultur einzuverleiben; und das ist wirklich wichtig. Ich will heute in bezug auf diese Wichtigkeit eine Seite der Sache einmal erwähnen. Wir leben wirklich in einer Zeit, in welcher sich die Menschheit vorbereiten muß, allmählich über den bloßen philosophischen Idealismus hinauszukommen und einzulaufen in ein wirkliches Bewußtsein von den geistigen Welten, von der allgemeinen geistigen Welt, in der wir darinnen leben, wie wir in der physischen Welt darinnen leben.
 
Nun, gehen wir von einem Erlebnisse des Kopfhellsehens aus, das wir leicht verstehen werden, wenn wir uns ein wenig vertieft haben in die Dinge, die gesagt worden sind in dem Münchner Zyklus, der zuletzt gehalten worden ist, und die auch ausgeführt worden sind in meinem Buche «Die Schwelle der geistigen Welt». Ich habe da besonders erwähnt, daß unser Denken eine Umänderung erfährt in dem Augenblicke, wo wir uns freimachen, besonders in bezug auf unsere Gedanken, von dem physischen Werkzeuge des Kopfes. Ich habe es damals grotesk ausgedrückt, indem ich gesagt habe: Wenn wir so frei werden, dann haben unsere Gedanken nicht mehr den Charakter, den sie haben im gewöhnlichen, alltäglichen Leben. Im gewöhnlichen, alltäglichen Erleben müssen wir das Gefühl haben - wenn wir nicht verrückt sind -, daß wir Herr sind über unsere Gedankenwelt, daß, wenn wir zwei Gedanken haben, wir es sind, die diese Gedanken verbinden oder trennen.
 
Wenn wir uns erinnern, sind wir uns bewußt: mit unserem Innenleben gehen wir von einem gegenwärtigen zu einem vergangenen Erlebnis über. Immer haben wir das Gefühl: wir sind es, die hinter dem Gewebe und Gewoge unserer Gedanken stehen. Das hört auf in dem Augenblicke, wo wir im Kopfteil das Geistig-Seelische freiwerden lassen vom physischen Werkzeug, wo wir ein Denken entwickeln, das leibbefreit ist. Ich habe dazumal radikal gesagt: Es ist, wie wenn wir den Kopf in einen Ameisenhaufen hineingesteckt hätten, in dem alles zu quirlen anfängt. So fangen die Gedanken auch an, ein eigenes Leben zu entwickeln und durcheinanderzuspielen. Und wenn wir im gewöhnlichen Leben zwei Gedanken haben und sie verbinden, wie zum Beispiel die zwei Gedanken «Rose» und «rot», so wissen wir, daß wir Herr sind in unserer Gedankenwelt, die Begriffe zu verbinden zu: «die Rose ist rot» und zu der Vorstellung «die rote Rose». Das ist nicht so, wenn wir draußen sind außer dem Leibe. Da bekommen wir in die Gedanken Leben, das Eigenleben der Gedanken. Jeder Gedanke wird zu einem Wesen. Der eine Gedanke läuft zu dem anderen hin, ein anderer läuft von dem anderen fort.
 
Also die Gedankenwelt gewinnt ein Eigenleben. Warum gewinnt sie ein Eigenleben? Nun, was wir im gewöhnlichen Denken des Alltags erleben, das sind nur Bilder, nur Schatten von Gedanken. Sie können das schon in meinem Buche «Theosophie» nachlesen. Sobald wir das Denken leibfrei entwickeln, wird jeder Gedanke so wie eine Hülse, und in die Hülse hinein schlüpft ein elementares Wesen. Der Gedanke ist nicht mehr in unserer Gewalt: Wir lassen ihn, wie einen Fühler, hinausgehen in die Welt, und da schlüpft ein elementarisches Wesen hinein. Unsere Gedanken sind so von elementarischen Wesen gleichsam ausgefüllt, und das quirlt und braust, das webt und west in uns. So daß wir sagen können: Wenn wir unseren geistig-seelischen Teil des Kopfes in die geistige Welt hineinstecken - wir haben ihn nur dadurch draußen, daß wir im physischen Kopfe nicht darinnen sind -, wenn wir ihn so hineinstecken in die geistige Welt, dann erleben wir nicht mehr solche Gedanken, wie wir sie erleben in der physischen Welt, sondern wir erleben das Leben von Wesen. Wir stecken unseren Kopf eben, wie ich damals sagte, gleichsam in einen Ameisenhaufen hinein. Wir erleben das Leben von Wesen.
 
So ist es im Grunde genommen bis hinauf zu den Wesenheiten der
höchsten Hierarchien. Und wenn wir einen Engel, einen Erzengel, einen
Geist der Persönlichkeit erleben wollen, so muß es so sein, daß wir in der
geschilderten Weise unsere Gedanken ausstrecken. Das Wesen muß sich
einhüllen in unsere Gedanken. Wir schicken unsere Gedanken aus, und das Wesen schlüpft hinein und bewegt sich darinnen. Wenn wir wahrnehmen die Wesen auf der Venus oder auf dem Saturn, so ist es so, daß wir unsere Gedanken hmausschlüpfen lassen, und die Venus- und Saturnwesen hineinschlüpfen. Wir dürfen uns nicht fürchten davor, nicht mehr irdisch-menschliche Gedanken zu haben, sondern Hierarchiengedanken. Wir müssen uns gewöhnen, mit unserem Kopfe in den höheren Hierarchien darinnen zu leben. Wir müssen uns sagen: unser Denken hört auf, und unser Kopf wird der Schauplatz des Wirkens der höheren Hierarchien.
 
Nun ist es so, daß in der Fichte-Schelling-Hegel-Philosophie der Gedanke bis zu seiner reinsten Gedankenklarheit gebracht worden ist im Beginn des 19. Jahrhunderts. Wozu sich der Gedanke aufschwingen kann, das ist in dieser Philosophie wirklich enthalten. Die Aufgabe, bis zu welcher der Gedanke gebracht werden kann, ist da gelöst. Der nächste Schritt aber ist der, daß der Gedanke aus sich herausgeht und man wirklich hineinkommt in das quirlende und webende Leben des Gedankens. So daß wir in der Zeit leben - man kann das sagen -, wo die Menschheit dazu berufen ist, wahrzunehmen die höheren Hierarchien. Hingenommen werden sollen wir von der Welt der höheren Hierarchien, und abstreifen müssen wir die Furcht vor dem Verlieren der Gedanken an das Leben und Weben in den höheren Hierarchien." {{Lit|{{G|161|153ff}}}}
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== Literatur ==
* Karl von Meyenn (Hrsg.): ''Wolfgang Pauli. Wissenschaftlicher Briefwechsel, Band III: 1940–1949. Springer. Berlin (1993) Brief #929, S. 496
* H. Atmanspacher, H. Primas, E. Wertenschlag-Birkhäuser (Hrsg.), ''Der Pauli-Jung-Dialog'', Springer Verlag, Berlin Heidelberg 1995
* Goethes Werke, ''Vollständige Ausgabe in vierzig Teilen'', Auf Grund der Hempelschen Ausgabe, Deutsches Verlagshaus Bong u. Co, Berlin Leipzig Wien Stuttgart, 38. Teil
* Goethes Werke (WA). Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919. Abteilung  IV 8, Briefe
* Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77
* [[Rudolf Steiner]]: ''Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen'', [[GA 16]] (2004), ISBN 3-7274-0160-5; zusammen mit [[GA 17]] in '''Tb 602''', ISBN 978-3-7274-6021-0 {{Schriften|016}}
* Rudolf Steiner: ''Briefe Band I: 1881 – 1890'', [[GA 38]] (1985), ISBN 3-7274-0380-2 {{Briefe|038}}
* Rudolf Steiner: ''Die Erkenntnis der Seele und des Geistes'', [[GA 56]] (1985), ISBN 3-7274-0560-0 {{Vorträge|056}}
* Rudolf Steiner: ''Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung'', [[GA 52]] (1986), 30. März 1904, Berlin {{Vorträge|52}}
* Rudolf Steiner: ''Das Lukas-Evangelium'', [[GA 114]] (2001) {{Vorträge|114}}
* Rudolf Steiner: ''Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?'', [[GA 154]] (1985), ISBN 3-7274-1540-1 {{Vorträge|154}}
* Rudolf Steiner: ''Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung'', [[GA 161]] (1980) {{Vorträge|161}}
* Rudolf Steiner: ''Kunst und Kunsterkenntnis'', [[GA 271]] (1985), ISBN 3-7274-2712-4 {{Vorträge|271}}
* Flensburger Hefte Nr. 66: ''Hellsehen - Der Blick über die Schwelle'', Flensburger Hefte Vlg., Flensburg 1999
* Flensburger Hefte Nr. 107: ''Neues Hellsehen'', Flensburger Hefte Vlg., Flensburg 2010
 
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Version vom 15. Februar 2020, 10:36 Uhr

Werden ist Veränderung, ist Entstehen, Verwandeln und Vergehen, ist Gestaltung und Umgestaltung, Metamorphose, und als solches der grundlegende Prozess der Schöpfung. Alles Sein entspringt aus dem Nichts, verdichtet sich bis zum physischen Dasein und verschwindet wieder ins Nichts. Mit dem Werden tritt zugleich die Zeit hervor. Das Sein, als ein bereits real Gewordenes, gehört der Vergangenheit an. Das Werdende ist noch nicht gegenwärtig, d.h. noch nicht äußerlich sichtbar oder messbar vorhanden, sondern gehört der Zukunft an, aus der es uns entgegenkommt. Und doch liegt in diesem Werdenden, das jetzt noch keine äußerlich reale Existenz hat, die wirkliche gestaltende Kraft, die das zukünftige Sein bestimmt.

Bereits der griechische Philosoph Heraklit betonte im Gegensatz zu Parmenides, dass das Wesen alles Seins im Werden begründet ist. Er vergleicht das Sein mit einem Fluss, in den man kein zweites Mal steigen könne: "Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht." (Lit.: Heraklit, S 132[1]). Der spätantike Aristoteles-Kommentator Simplikios[2] fasste das später zusammen in die berühmte Kurzformel "panta rhei" (griech. πάντα ῥεῖ, „Alles fließt“).

Rudolf Steiner bemerkte dazu:

"... daß alles dasjenige, was wir als das Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen beilegen, in einem lebendigen Verhältnis zum Werden steht, und zwar in einem eigentümlichen Verhältnis zum Werden. In Wahrheit ist weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot; und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. Finden Sie irgendwo ein Sein, zum Beispiel in der sich um uns ausbreitenden Natur, so antwortet Ihnen die Geisteswissenschaft darauf: Dieses Sein — lesen Sie das in der «Geheimwissenschaft» - ist dadurch entstanden, daß einmal ein Werden war, und dieses Werden hat seinen Leichnam zurückgelassen, dasjenige, was uns gegenwärtig als Sein umgibt. Das Sein ist das Tote, das Werden ist das Lebendige!" (Lit.: GA 176, S. 182)

Für Aristoteles ist alles Werden durch das Zusammenspiel von Akt und Potenz bedingt, indem der verwirklichende Akt die bloße Möglichkeit (Potenz) zum realen Sein erhebt. Diese Lehre wurde später von Thomas von Aquin aufgegriffen und im christlichen Sinn gedeutet. Die Urmaterie, die «materia prima», ist reine Potenz und Gott, als die höchste Quelle der schöpferischen Aktivität, ist «actus purus».

Hegel setzte zwar als Anfang das Sein, dem sich aber das Nichts entgegensetzt; die höhere Einheit beider, ihre Synthese, ist das Werden. In seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften schreibt er:

"§86 Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann [...]

§87 Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist [...]

§88 Das Nichts ist als dieses unmittelbare, sich selbst gleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden." (Lit.: Hegel, S 182ff.)

Hegels dialektischen Ansatz erläutert Steiner so:

"Der Begriff, der den geringsten Inhalt und den größten Umfang hat, ist der Begriff des Seins. Er ist in der Tat derjenige Begriff, der im ganzen Umkreis unserer Welt anwendbar ist, er hat den größten Umfang und den geringsten Inhalt. Wenn wir vom Sein schlechtweg sprechen, ist nichts ausgesagt von der Art des Seins. Von dem Begriff des Seins geht Hegel aus. Nun fragt es sich: Wie kommt man hinaus über diesen Begriff des Seins ? Wir können nicht stehenbleiben bei diesem Begriff, sonst bekommen wir kein Begriffssystem. Wir müssen die Möglichkeit haben, ein Begriffssystem zu gewinnen, indem wir Begriff aus Begriff herauswachsen lassen. Wie finden wir einen Anhaltspunkt dazu? Diesen Anhaltspunkt finden wir eben in der dialektischen Methode, und zwar wenn wir uns darüber klar werden, wie ein jeder Begriff in sich selber noch etwas anderes enthält, als das, als was er zunächst erscheint. Es ist mit dem Begriff wie mit einer Wurzel. Die Wurzel enthält eigentlich die ganze Pflanze, die noch nicht herausgewachsen, sondern noch in ihr drinnen ist. Wenn wir die Wurzel anschauen, haben wir noch nicht alles, was da ist. Die Pflanze selber, die drin ist in der Wurzel, sehen wir nicht. Wenn wir nur mit äußeren Augen die Wurzel anschauen, sehen wir gerade nicht, was die Pflanze aus der Wurzel heraustreibt. So steckt auch in jedem Begriff etwas drin, was aus ihm herauswachsen kann, ebenso wie in der Wurzel etwas steckt, was aus ihr herauswachsen kann, und zwar steckt im Begriff des Seins das Gegenteil, das Nichts drin. Wenn wir den Begriff des Seins fassen, so umfaßt er alles Mögliche, was in der sinnlichen und in der übersinnlichen Welt auftauchen kann. Dadurch, daß er alles umfaßt, umfaßt er zugleich das «Nichts». Das «Nichts» steckt darinnen im «Sein», es sproßt heraus aus dem «Sein». Wenn wir das «Sein» innerlich betrachten, so sehen wir hier schon den Begriff des «Nichts» aus dem Begriff des «Seins» herauswachsen. Wenn wir uns eine Vorstellung von dem Begriff des Nichts machen wollen, so ist das ebenso schwer als es wichtig ist. Viele Leute, auch Philosophen, werden sagen, es sei überhaupt unmöglich, sich von dem Nichts eine Vorstellung zu machen. Das ist aber etwas, was innerhalb der Begriffswelt für den Anthroposophen ungeheuer wichtig ist, und es wird eine Zeit kommen, wenn die Anthroposophie mehr eingehen wird auf die Begriffe, da wird viel davon abhängen, daß gerade der Begriff des «Nichts» in der richtigen Weise gefaßt wird. Es leidet die Theosophie daran, daß der Begriff des «Nichts» unklar gefaßt wird. Deshalb ist ja die Theosophie zu einer Art «Emanationslehre» geworden, [Lücke in der Nachschrift] so als ob das Spätere aus dem Früheren hervorgegangen sei.

Denken Sie sich selbst einer äußeren Wirklichkeit gegenübergestellt, zum Beispiel zwei Menschen, und betrachten Sie diese nach einem Gesichtspunkt, der nur von Ihnen selbst abhängt. Und betrachten Sie zum Beispiel zwei Menschen, einen großen und einen kleinen, und denken Sie sich etwas über sie aus, bilden Sie sich einen Begriff, der nie gefaßt worden wäre, wenn Sie ihnen nicht gegenübergetreten wären. Es ist ganz gleich, was Sie sich da über diese beiden Menschen denken, aber der Begriff wäre nicht gefaßt worden, wenn sie Ihnen nicht gegenübergetreten wären. Nehmen wir an, die beiden hätten in Amerika gelebt, dann wären Sie als Europäer ihnen niemals begegnet. Dadurch aber, daß Sie ihnen begegnet sind, ist der Begriff «groß» und «klein» in Ihnen aufgetaucht. Es liegt also nicht an Ihnen, daß sich der Begriff des großen und des kleinen Menschen gebildet hat; Sie werden in sich selbst nichts finden, das zu Ihrem Begriff von «groß» und «klein» hätte führen müssen. Auf der anderen Seite werden Sie die Urgründe, die zu dem Begriff hätten führen müssen, auch in den beiden Menschen nicht finden. Sie mußten erst den beiden Menschen gegenübertreten. So also liegt es nicht an Ihnen, was sich da als Begriff gebildet hat, und es liegt auch nicht an dem großen oder kleinen Menschen; es ist etwas, was rein durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch ihre Konstellation herbeigeführt worden ist. Jetzt aber wird dieser Begriff, der aus dem Nichts entstanden ist, ein Faktor, der in Ihnen fortwirkt. Sie können es sich nicht anders denken, als daß dieser Begriff aus dem Nichts durch die Beziehung der Dinge zueinander, durch die Konstellation hervorgehen kann. Aus der Beziehung, aus der Konstellation bildet so eine fortwährende Kraft etwas heraus, was dann fortwirkt. Das heißt, es entsteht ein Etwas aus dem Nichts. Das Nichts ist so durchaus ein reeller Faktor im Weltengeschehen, und Sie können dieses Weltengeschehen nie begreifen, wenn Sie das Nichts in dieser realen Bedeutung nicht erfaßt haben. Sie würden auch den Begriff des «Nirwana» besser verstehen, wenn Sie einen klaren Begriff vom Nichts hätten, wenn Sie einmal über den Begriff des Nichts meditiert hätten, was etwas durchaus Wirksames ist.

Wir haben also aus dem Begriff des Seins den Begriff des Nichts herausgesponnen. Den nächsten Begriff findet man nun dadurch, daß man diese beiden Begriffe miteinander verbindet. Wenn man «Sein» und «Nichtsein» miteinander verbindet, entsteht das «Werden ». Das «Werden» ist ein reicherer Begriff, der die beiden anderen schon in sich enthält. «Werden» ist ein fortwährender Übergang von Nichtsein zu Sein, das Vorhergehende vergeht, das Folgende entsteht. So haben Sie in dem Begriff «Werden» das Spiel der beiden Begriffe «Sein» und «Nichts». Von dem Begriff des Werdens ausgehend kommen Sie dann zu dem Begriff «Dasein». Es ist das, was als das Nächste an das Werden sich anschließt: das Starrwerden des Werdens ist das «Dasein», ein abgeschlossenes Werden. Dem «Dasein» muß ein Werden vorangehen. Was haben wir nun davon, wenn wir solche vier Begriffe innerlich uns ausgestaltet und sie so gewonnen haben? Wir haben sehr viel davon. Wir denken nun bei dem Begriff des Werdens nichts anderes, als was wir hier als Inhalt das Begriffs kennengelernt haben. Wir müssen alles ausschließen, was nicht zu dem Begriff gehört. Wer richtig dialektisch geschult ist, der hat, wenn von «Werden» gesprochen wird, in diesem Begriff nichts anderes als das Ineinanderspielen von «Sein» und «Nichts». Wenn der dialektisch geschulte Denker vom «Werden» spricht, so ist das ein ebenso bestimmter Begriff, wie wenn er von dem Begriff «Dreieck» spricht. So ist die Dialektik gerade die wunderbarste Zucht des Denkens." (Lit.: GA 108, S. 247ff)

Der Begriff des Werdens steht im Gegensatz zu dem des Gewordenen. Ersterer bezieht sich primär auf die lebendige Welt des Ätherischen, letzterer auf die physische Welt, die das Insgesamt des Gewordenen darstellt. Um einen wirklichkeitsgemäßen Begriff des Werdens zu fassen, genügt es nicht, Veränderungen des Gewordenen aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken von Teilelementen des Gewordenen abzuleiten. Damit kommt man aus dem Bereich des Gewordenen nicht heraus; das Gewordene bleibt ein Gewordenes, auch wenn es sich im Zeitenlauf gesetzmäßig verändert. Erst dort, wo etwas in den Bereich des Gewordenen hereintritt, das zuvor nicht vorhanden war und auch nicht aus dem Vorhandenen abgeleitet werden kann, beginnt das lebendige Werden. Das Ätherische, das die Quelle des Werdens ist, erscheint aber aus der Sicht des Physischen als Nichts, als etwas nicht Vorhandenes, nicht Daseiendes. Der Begriff des Werdens leitet zu dem der Schöpfung aus dem Nichts über, allerdings noch nicht im absoluten Sinn. Schreitet man nämlich vom Ätherischen weiter zum Astralischen, so erscheint das Ätherische, allerdings nun in einem höheren und lebendigeren Sinn, ebenfalls wieder als etwas Gewordenes. Ähnlich ist es, wenn man vom Astralischen zum Geistigen vordringt; dann erscheint selbst das Astralische als etwas Geschaffenes. Erst im Geistigen selbst hat man die wahre Quelle alles Werdens. Das Geistige entsteht aus nichts anderem, als aus sich selbst. Erst im Geistigen haben wir es mit einem reinen Schaffen zu tun, das auf kein Geschaffenes mehr zurückgreift. Hier erst verwirklicht sich die Schöpfung aus dem Nichts im absoluten Sinn.

Das Nichts, als Gegensatz des Seins, ist eben nicht einfach nichts, sondern hat seinen Ursprung im Unendlichen, Unbeschränkten, Unbegrenzten, das sich eben durch seine völlige Grenzenlosigkeit und Unbestimmbarkeit grundsätzlich jeder Erkenntnismöglichkeit entzieht, aus dem aber letzlich ohne kausale Ursache und daher in völliger Freiheit alles entstehen kann. Das Nichts und das unbeschränkt Unendliche sind derart identisch. In diesem Sinn ist etwa das Ain Soph (hebr.אין סוף, nicht endlich) in der kabbalistischen Mystik aufzufassen oder das Apeiron (griech. άπειρον, das Unendliche, das Unbegrenzte) des Anaximander (um 610–546 v. Chr), das für ihn die Arché, der Ursprung ist, aus dem die ganze Welt entstand. Dem entspricht auch das Nirvana als der wahren Quelle allen aktiven Seins, aus der die Schöpfung aus dem Nichts entspringt. Aus dieser Quelle stammt und schöpft auch das menschliche Ich, der schöpferische Funke in uns, und darum liegt es im Wesen des Menschen, ein stets Werdender zu sein.

"Denn Geisteswissenschaft kann nicht anders, als den Menschen darauf verweisen, daß man fortwährend etwas werden muß, daß man nicht irgend etwas durch dies oder jenes fertig sein kann. Der Mensch täuscht sich in furchtbarster Weise über sich selbst, wenn er glaubt, auf etwas Absolutes hinweisen zu können, was bei ihm irgendeine besondere Vollkommenheit bedingt. Alles, was nicht im Werden ist, bedingt beim Menschen eine Unvollkommenheit und nicht eine Vollkommenheit." (Lit.: GA 186, S. 94)

"... der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre irdische Mission ist. Was Sie gestern waren, sind Sie heute nicht mehr, und was Sie heute sind, werden Sie morgen nicht mehr sein. Es sind das allerdings kleine Nuancen. Wohl dem, bei dem es überhaupt Nuancen sind, denn das Stehenbleiben ist ahrimanisch. Nuancen sollten da sein. Es sollte wenigstens gewissermaßen im Leben des Menschen kein Tag vor sich gehen, ohne daß er wenigstens einen Gedanken in sich aufnimmt, der ein wenig sein Wesen ändert; der ein wenig ihn in die Möglichkeit versetzt, ein werdendes Wesen, nicht bloß ein seiendes Wesen zu sein." (Lit.: GA 187, S. 45f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Das Fragment 49a gilt allerdings nur als vage Anlehnung an den Originaltext, der gesamte zweite Teil ist nicht authentisch; vgl. Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 326
  2. Hermann Diels: Simplicius, In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria. Reimer, Berlin 1895 (Nachdr. de Gruyter 1954), (Commentaria in Aristotelem Graeca 10) S. 1313.