Stanislas Dehaene und Baldwin-Effekt: Unterschied zwischen den Seiten

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Als '''Baldwin-Effekt''' wird ein [[Evolution|evolutionärer]] Mechanismus bezeichnet, bei dem ein ursprünglich durch Lernen erworbenes Merkmal durch [[natürliche Selektion]] innerhalb mehrerer [[Generation]]en durch ein [[Vererbung (Biologie)|vererbtes]], also [[Genetik|genetisch]] bestimmtes analoges Merkmal ersetzt wird. Im Gegensatz zu [[Lamarckismus|lamarckistischen]] Vorstellungen wird dabei nicht direkt die erlernte Eigenschaft vererbt, sondern durch diese der Rahmen beeinflusst, innerhalb dessen die natürliche Selektion wirkt. Welche Bedeutung der Baldwin-Effekt in der Evolution tatsächlich hat, ist bis heute umstritten.
'''Stanislas Dehaene''' (* [[Wikipedia:12. Mai|12. Mai]] [[Wikipedia:1965|1965]] in [[Wikipedia:Roubaix|Roubaix]]) ist ein [[Frankreich|französischer]] Neurowissenschaftler und Professor am [[Wikipedia:Collège de France|Collège de France]]. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die [[kognitiv]]e [[Neurowissenschaft]] und hier insbesondere die numerische Kognition und die Theorie der [[Neuronales Korrelat des Bewusstseins|neuronalen Korrelate des Bewusstseins]]. Dehaene gehört zu den einflussreichsten Forschern im Bereich der mentalen Verarbeitung mathematischer Probleme und hat die [[kognitionswissenschaft]]liche Debatte in Frankreich maßgeblich beeinflusst.


== Leben ==
== Mechanismus ==
Nach einem Studium der Mathematik an der [[Wikipedia:École normale supérieure|École normale supérieure]] 1984 bis 1989 wandte sich Dehaene der [[Neurowissenschaft]] zu, wozu er durch [[Wikipedia:Jean-Pierre Changeux|Jean-Pierre Changeux]]s einflussreiches Buch ''L’Homme neuronal'' inspiriert wurde. Nach seinem [[Wikipedia:PhD|PhD]] in Psychologie arbeitete Dehaene unter anderem in der Forschungsgruppe von [[Wikipedia:Michael Posner (Psychologe)|Michael Posner]] an der [[Wikipedia:University of Oregon|University of Oregon]].
Die Theorie hinter dem Baldwin-Effekt geht davon aus, dass Verhalten jeweils zum Teil von äußeren Umständen, [[Instinkt]]en und Erlerntem abhängig ist. Da das Verhalten als Ganzes zur [[Fitness (Biologie)|biologischen Fitness]], also zum Fortpflanzungserfolg des Individuums beiträgt, ist es für den Erfolg zunächst gleichgültig, ob ein bestimmtes Merkmal ererbt oder individuell erworben worden ist (Ebene der Selektion ist das Individuum). In einer Population aus Individuen, die alle dieselbe durch Umwelteinflüsse geprägte Modifikation zeigen, ist es aber leicht vorstellbar, dass eine Mutation, die dasselbe Merkmal genetisch hervorbringt, anschließend fixiert wird und sich in der Population durchsetzt. Auf diese Weise schafft das erlernte Verhalten Bedingungen, unter denen die natürliche Selektion über zahlreiche Generationen den Erfolg vererbbarer Varianten ([[Mutation]]en) fördert, so dass letztendlich ursprünglich erlerntes Verhalten sich im genetischen Material der Art niederschlägt. Das Auftreten und die Richtung der Mutation selbst sind dabei nicht betroffen (das ist der wesentliche Unterschied zum Lamarckismus).


Von 1997 bis 2005 war er Forschungsdirektor am [[Wikipedia:Institut national de la santé et de la recherche médicale|Institut national de la santé et de la recherche médicale]] (INSERM, Nationales französisches Institut für medizinische Forschung).
Es gibt zwei Arten biologischer Mechanismen, die zum Baldwin-Effekt führen: [[Genetische Assimilation]] und [[Ökologische Nische|Nischenbildung]]. Diese beiden biologischen Mechanismen scheinen eine [[Rückkopplung]] zu beinhalten, die den Evolutionsprozess verändern kann. Die dem Baldwin-Effekt zugrundeliegende Idee ist, dass manchmal sowohl Richtung als auch Geschwindigkeit der Evolution durch natürliche Selektion von erlernten Verhaltensweisen beeinflusst werden.<ref>Wörtlich aus [[Michael Gazzaniga]]: ''Die Ich-Illusion: Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen.'' Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-43011-2, S. 176, S. 178.</ref> Zum Beispiel beeinflusst soziales Verhalten mit der Zeit das [[Genom]], wie der russische Genetiker [[Wikipedia:Dmitri Konstantinowitsch Beljajew|Dmitri Konstantinowitsch Beljajew]] an seinen [[Wikipedia:Dmitri Konstantinowitsch Beljajew#Selektive Zucht von Füchsen|Experimenten mit Füchsen]] zeigte.


Seit 2005 ist er Leiter des Instituts für experimentelle [[Kognitionspsychologie]] am Collège de France. Er ist Mitherausgeber der Zeitschriften ''[[Wikipedia:Science|Science]]'', ''[[Wikipedia:Cognition|Cognition]]'' und ''Frontiers in Neurosciences'', außerdem Beiratsmitglied von ''[[Wikipedia:NeuroImage|NeuroImage]]'', ''[[Wikipedia:PLoS Biology|PLoS Biology]]'' und ''Mind Brain and Education''.
== Geschichte ==
Der Begriff „Baldwin-Effekt“ wurde 1953 von [[Wikipedia:George Gaylord Simpson|George Gaylord Simpson]]<ref>{{Literatur| Autor = George Gaylord Simpson| Titel = The Baldwin effect| Sammelwerk = Evolution| Jahr =1953| Seiten =110-117| Band =7| Nummer =2}}</ref> für den Mechanismus geprägt, den 1896 [[Wikipedia:James Mark Baldwin|James Mark Baldwin]]<ref>{{Literatur| Autor =James Mark Baldwin| Titel =A New Factor in Evolution| Sammelwerk =The American Naturalist| Jahr =1896| Seiten =441-451| Band =30}}</ref>, [[Wikipedia:Conwy Lloyd Morgan|Conwy Lloyd Morgan]] <ref>{{Literatur| Autor=Conwy Lloyd Morgan| Titel=Habitat and instinct| Verlag=Arnold| Ort=London| Jahr=1896}}</ref> und [[Wikipedia:Henry Fairfield Osborn|Henry Fairfield Osborn]]<ref>{{Literatur| Autor =Henry Fairfield Osborn| Titel =A mode of evolution requiring neither natural selection nor the inheritance of acquired characters| Sammelwerk =Transactions of the New York Academy of Science| Jahr =1896| Seiten =141-142| Band =15|Sprache=en}}</ref> unabhängig voneinander beschrieben hatten. Vor allem Baldwin entwickelte die Idee in der folgenden Zeit weiter. Der Baldwin-Effekt wurde von allen drei Wissenschaftlern als eine Möglichkeit angesehen, den Streit zwischen [[Darwinismus|Neodarwinisten]] und [[Neolamarckismus|Neolamarckisten]] um die Frage der Vererbbarkeit erlernten Verhaltens zu entschärfen. Nach der Wiederentdeckung der [[Wikipedia:Gregor Mendel|mendelschen]] [[Genetik|Vererbungslehre]] zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die die neolamarckistischen Annahmen widerlegte, wurde der Baldwin-Effekt nur wenig beachtet und in die [[synthetische Evolutionstheorie]] später als Mechanismus geringerer Bedeutung integriert. Die Meinung verschiedener Evolutionsbiologen zum Baldwin-Effekt war dabei geteilt. Während [[Julian Huxley]] der Idee positiv gegenüberstand und George Gaylord Simpson sie zumindest als plausibel ansah, wurde das Konzept von [[Wikipedia:Ernst Mayr|Ernst Mayr]] und [[Wikipedia:Theodosius Dobzhansky|Theodosius Dobzhansky]] als entweder triviales Beispiel für natürliche Selektion oder Rückfall in den Lamarckismus abgelehnt. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Idee dagegen besonders von Evolutionsbiologen und Philosophen wie [[Daniel Dennett]] als mögliche Erklärung für eine beschleunigte Evolution geistiger Merkmale und das Erreichen ungewöhnlicher evolutionärer Zustände gesehen.


2001 erhielt Dehaene den [[Wikipedia:Jean-Louis-Signoret-Preis|Jean-Louis-Signoret-Preis]]. 2003 wurde ihm für seine Arbeiten im Bereich der numerischen Kognition der Louis D. Preis des [[Wikipedia:Institut de France|Institut de France]] verliehen, 2012 den [[Wikipedia:Prix Roger de Spoelberch|Prix Roger de Spoelberch]] und 2014 der [[Wikipedia:Brain Prize|Brain Prize]]. Dehaene war zudem Präsident der [[Wikipedia:Association for the Scientific Study of Consciousness|Association for the Scientific Study of Consciousness]]. Seit 2009 ist er ordentliches Mitglied der [[Wikipedia:Academia Europaea|Academia Europaea]],<ref>{{Internetquelle| url=http://www.ae-info.org/ae/Member/Dehaene_Stanislas| titel=Mitgliederverzeichnis: Stanislas Dehaene
== Siehe auch ==
| hrsg=Academia Europaea| zugriff=2017-09-01}}</ref> seit 2010 der [[Wikipedia:National Academy of Sciences|National Academy of Sciences]]. 2014 wurde er in die [[Wikipedia:European Molecular Biology Organization|EMBO]] gewählt.<ref>[http://idw-online.de/en/news585634 EMBO enlarges its membership for 50th anniversary.] Pressemitteilung vom 8. Mai 2014 beim [[Wikipedia:Informationsdienst Wissenschaft|Informationsdienst Wissenschaft]] (idw-online.de)</ref>
* {{WikipediaDE|Baldwin-Effekt}}
 
== Leistungen ==
Bekannt ist Dehaene insbesondere für seine Erforschung der mentalen Verarbeitung mathematischer Probleme. In der Forschung stützt er sich neben kognitionspsychologischen Methoden insbesondere auf [[Bildgebendes Verfahren (Medizin)|bildgebende Verfahren]] ([[Elektroenzephalografie]] (EEG) und der [[Magnetresonanztomographie]] (MRT)), die nach Dehaene zeigen, dass beim Lösen mathematischer Probleme primär Bereiche des [[Frontallappen|Frontal-]] und des [[Parietallappen]]s aktiv sind. In eine ähnliche Richtung weisen [[Neurologie|neurologische]] Studien zu [[Läsion|Gehirnläsionen]].
 
Dehaene argumentiert zudem, dass auch Tiere und Kinder im Alter von 6 Monaten einen elementaren „[[Zahlensinn]]“ haben. So wurden Ratten darauf trainiert, Aktionen 8 oder 16 mal durchzuführen, um zu Nahrung zu gelangen. Bei Kindern nahm die [[Aufmerksamkeit]] zu, wenn man nach mehrmaliger Präsentation von 16 Punkten ein Bild mit 8 Punkten präsentierte. Dabei wurde darauf geachtet, dass der Aufmerksamkeitswechsel nicht durch Randbedingungen (etwa die Fläche, die die Punkte einnehmen) beeinflusst wurde. Es veränderte sich zudem die Aufmerksamkeit, wenn die Verhältnisse von Punktverteilungen verändert wurden (zunächst etwa das Verteilungsverhältnis 2:1, danach 3:2).<ref name="Feigson et al. 04" />
 
Im Folgenden versucht Dehaene eine evolutionäre und kognitionswissenschaftliche Erklärung für die Entwicklung der numerischen Kognition zu geben: „Weil wir in einer Welt von diskreten und beweglichen Objekten leben, ist das Extrahieren von Nummern sehr nützlich. Sie können helfen, Feinde aufzuspüren oder den besten Platz für die Futtersuche auszuwählen, um nur zwei Beispiele zu erwähnen. Dies ist der Grund, warum die Evolution die Gehirne von uns und vielen Tieren mit einfachen numerischen Mechanismen ausgestattet hat. In Tieren sind diese Mechanismen sehr einfach […]. Wir Menschen haben zudem die Fähigkeit zu Sprache und symbolischer Vorstellung. Dies hat es uns ermöglicht, exakte mentale Repräsentationen für große Zahlen und Algorithmen für präzise Kalkulationen zu entwickeln.“<ref name="Dehaene 97" />
 
In den letzten Jahren hat sich Dehaene zunehmend einer allgemeinen Theorie des Bewusstseins zugewandt, wobei er sich insbesondere auf [[Bernard Baars]]’ Theorie des globalen Arbeitsraums (''Global Workspace Theory'') bezieht. Baars argumentiert, dass kognitive Prozesse genau dann [[Bewusstsein|bewusst]] werden, wenn sie in einem globalen Arbeitsraum präsentiert und somit für andere kognitive Prozesse zugänglich werden. Eine [[Wahrnehmung]] wird etwa bewusst, wenn sie in diesen Arbeitsraum gelangt und dadurch Objekt des expliziten Nachdenkens, Lernens, Problemlösens oder Erinnerns werden kann. Dehaene versucht, Baars’ weitgehend psychologisches Modell auf ein gehirnphysiologisch realistisches Fundament zu stellen.<ref name="Dehaene und Naccache 01" />
 
== Schriften ==
* (Ed.): ''Numerical Cognition'' (''Cognition'', special issue). Blackwell, Oxford 1993. ISBN 1-55786-444-6
* (Ed.): ''Le Cerveau en action: l'imagerie cérébrale en psychologie cognitive''. Presses Universitaires de France, Paris 1997. ISBN 2-13-048270-8
* ''La Bosse des maths''. Odile Jacob, Paris 1997. ISBN 0-7139-9170-4 (englisch: ''The number sense. How the Mind Creates Mathematics''. Oxford University Press, New York 1997; Penguin Press, Cambridge 1997. ISBN 978-0-19-513240-3; deutsch: ''Der Zahlensinn oder Warum wir rechnen können''. Birkhäuser, Basel 1999. ISBN 3-7643-5960-9)
* (Ed.): ''The Cognitive Neuroscience of Consciousness''. MIT Press, Cambridge, MA 2001. ISBN 0-262-54131-9
* mit  Duhamel, J.R., Hauser, M. und Rizzolatti, G. (Eds): ''From Monkey Brain to Human Brain''. MIT Press, Cambridge, MA 2005. ISBN 0-262-04223-1
* ''Vers une science de la vie mentale'' [Antrittsvorlesung am Collège de France]. Fayard, Paris 2007.  ISBN 2-213-63084-4
* ''Les Neurones de la Lecture''. Odile Jacob, Paris 2007 (englisch: ''Reading in the Brain. The Science and Evolution of a Human Invention''. Viking, New York 2009. ISBN 978-0-670-02110-9; deutsch: ''Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert''. Knaus, München 2010. ISBN 978-3-8135-0383-8)
* ''Consciousness and the Brain. Deciphering How the Brain Codes Our Thoughts''. Viking, New York 2014. ISBN 978-0-670-02543-5
** deutsch: ''Denken: Wie das Gehirn Bewusstsein schafft.'' Albrecht Knaus Verlag (Random House), München 2014. ISBN 978-3-8135-0420-0 (Print); ISBN 978-3-641-14774-7 (eBook)


== Literatur ==
== Literatur ==
* Susan M. Fitzpatrick (Hrsg.): ''Carving our destiny. Scientific research faces a new millennium''. J. H. Press, Washington, D.C. 2001, ISBN 0-309-06848-7
* {{Literatur| Herausgeber=Bruce H. Weber, David J. Depew| Titel=Evolution and learning: the Baldwin effect reconsidered| Sammelwerk = Bradford Books - Life and Mind: Philosophical Issues in Biology and Psychology| Verlag=MIT Press| Ort=| Jahr=2003| ISBN=9780262232296}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references>
<references/>
<ref name="Feigson et al. 04">
Feigenson, L., Dehaene, S. & Spelke, E.''Core systems of number'', in: ''Trends in Cognitive Science'', vol. 8, no. 7, 2004, S. 307–314 {{ISSN|1364-6613}}
</ref>
<ref name="Dehaene 97">
{{Internetquelle
|autor=Stanislas Dehaene
|url=http://www.edge.org/3rd_culture/dehaene/index.html
|sprache=en
|titel=What Are Numbers, Really? A Cerebral Basis For Number Sense
|werk=The Third Culture
|datum=1997-10-27
|zugriff=2010-09-08}}
</ref>
<ref name="Dehaene und Naccache 01">
Dehaene, S. and Naccache, L.: ''Towards a cognitive neuroscience of consciousness: Basic evidence and a workspace framework'', in: ''Cognition'', 2001, S. 1–37.
</ref>
</references>
 
== Weblinks ==
* {{DNB-Portal|130199133}}
* [http://www.unicog.org/ Website von Dehaenes Labor]
* [http://www.college-de-france.fr/default/EN/all/psy_cog/biographie.htm Seite am College de France]
* [http://www.edge.org/3rd_culture/bios/dehaene.html Biographie]
 
{{Normdaten|TYP=p|GND=130199133|LCCN=n/93/7066|VIAF=79101210}}


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Version vom 14. Januar 2019, 21:10 Uhr

Als Baldwin-Effekt wird ein evolutionärer Mechanismus bezeichnet, bei dem ein ursprünglich durch Lernen erworbenes Merkmal durch natürliche Selektion innerhalb mehrerer Generationen durch ein vererbtes, also genetisch bestimmtes analoges Merkmal ersetzt wird. Im Gegensatz zu lamarckistischen Vorstellungen wird dabei nicht direkt die erlernte Eigenschaft vererbt, sondern durch diese der Rahmen beeinflusst, innerhalb dessen die natürliche Selektion wirkt. Welche Bedeutung der Baldwin-Effekt in der Evolution tatsächlich hat, ist bis heute umstritten.

Mechanismus

Die Theorie hinter dem Baldwin-Effekt geht davon aus, dass Verhalten jeweils zum Teil von äußeren Umständen, Instinkten und Erlerntem abhängig ist. Da das Verhalten als Ganzes zur biologischen Fitness, also zum Fortpflanzungserfolg des Individuums beiträgt, ist es für den Erfolg zunächst gleichgültig, ob ein bestimmtes Merkmal ererbt oder individuell erworben worden ist (Ebene der Selektion ist das Individuum). In einer Population aus Individuen, die alle dieselbe durch Umwelteinflüsse geprägte Modifikation zeigen, ist es aber leicht vorstellbar, dass eine Mutation, die dasselbe Merkmal genetisch hervorbringt, anschließend fixiert wird und sich in der Population durchsetzt. Auf diese Weise schafft das erlernte Verhalten Bedingungen, unter denen die natürliche Selektion über zahlreiche Generationen den Erfolg vererbbarer Varianten (Mutationen) fördert, so dass letztendlich ursprünglich erlerntes Verhalten sich im genetischen Material der Art niederschlägt. Das Auftreten und die Richtung der Mutation selbst sind dabei nicht betroffen (das ist der wesentliche Unterschied zum Lamarckismus).

Es gibt zwei Arten biologischer Mechanismen, die zum Baldwin-Effekt führen: Genetische Assimilation und Nischenbildung. Diese beiden biologischen Mechanismen scheinen eine Rückkopplung zu beinhalten, die den Evolutionsprozess verändern kann. Die dem Baldwin-Effekt zugrundeliegende Idee ist, dass manchmal sowohl Richtung als auch Geschwindigkeit der Evolution durch natürliche Selektion von erlernten Verhaltensweisen beeinflusst werden.[1] Zum Beispiel beeinflusst soziales Verhalten mit der Zeit das Genom, wie der russische Genetiker Dmitri Konstantinowitsch Beljajew an seinen Experimenten mit Füchsen zeigte.

Geschichte

Der Begriff „Baldwin-Effekt“ wurde 1953 von George Gaylord Simpson[2] für den Mechanismus geprägt, den 1896 James Mark Baldwin[3], Conwy Lloyd Morgan [4] und Henry Fairfield Osborn[5] unabhängig voneinander beschrieben hatten. Vor allem Baldwin entwickelte die Idee in der folgenden Zeit weiter. Der Baldwin-Effekt wurde von allen drei Wissenschaftlern als eine Möglichkeit angesehen, den Streit zwischen Neodarwinisten und Neolamarckisten um die Frage der Vererbbarkeit erlernten Verhaltens zu entschärfen. Nach der Wiederentdeckung der mendelschen Vererbungslehre zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die die neolamarckistischen Annahmen widerlegte, wurde der Baldwin-Effekt nur wenig beachtet und in die synthetische Evolutionstheorie später als Mechanismus geringerer Bedeutung integriert. Die Meinung verschiedener Evolutionsbiologen zum Baldwin-Effekt war dabei geteilt. Während Julian Huxley der Idee positiv gegenüberstand und George Gaylord Simpson sie zumindest als plausibel ansah, wurde das Konzept von Ernst Mayr und Theodosius Dobzhansky als entweder triviales Beispiel für natürliche Selektion oder Rückfall in den Lamarckismus abgelehnt. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Idee dagegen besonders von Evolutionsbiologen und Philosophen wie Daniel Dennett als mögliche Erklärung für eine beschleunigte Evolution geistiger Merkmale und das Erreichen ungewöhnlicher evolutionärer Zustände gesehen.

Siehe auch

Literatur

  •  Bruce H. Weber, David J. Depew (Hrsg.): Evolution and learning: the Baldwin effect reconsidered. In: Bradford Books - Life and Mind: Philosophical Issues in Biology and Psychology. MIT Press, 2003, ISBN 9780262232296.

Einzelnachweise

  1. Wörtlich aus Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion: Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-43011-2, S. 176, S. 178.
  2.  George Gaylord Simpson: The Baldwin effect. In: Evolution. 7, Nr. 2, 1953, S. 110-117.
  3.  James Mark Baldwin: A New Factor in Evolution. In: The American Naturalist. 30, 1896, S. 441-451.
  4.  Conwy Lloyd Morgan: Habitat and instinct. Arnold, London 1896.
  5.  Henry Fairfield Osborn: A mode of evolution requiring neither natural selection nor the inheritance of acquired characters. In: Transactions of the New York Academy of Science. 15, 1896, S. 141-142.


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