Demokratie

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Die Wahl bzw. Abstimmung – der zentrale Prozess einer Demokratie
Anstehen für das Volksbegehren gegen Studiengebühren in München (2013)

Demokratie (griech. Δημοκρατία, von δῆμος [dēmos], „Volk“, und κρατία [kratía], „Herrschaft“, vgl. -kratie; wörtlich: „Herrschaft des Volkes“) ist ein politisches System, bei dem das Volk eine wesentliche mitbestimmende Funktion einnimmt. Typische Merkmale einer Demokratie sind freie Wahlen, das Mehrheitsprinzip, die Respektierung politischer Opposition, Verfassungsmäßigkeit und Schutz der Grundrechte (bzw. nur den Staatsbürgern vorbehaltenen Bürgerrechten).

Demokratie und soziale Dreigliederung

Demokratische Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip bilden die Grundlage des Staatslebens; untauglich sind sie hingegen zur Gestaltung der Wirtschaft und des freien Geisteslebens.

"In bezug auf das geistige Leben und das wirtschaftliche Leben sind Majoritätsbeschlüsse ein Unding; da muß alles aus Sach- und Fachtüchtigkeit heraus sich entwickeln, Majoritätsbeschlüsse, eigentliche Demokratie ist nur möglich für diejenigen Angelegenheiten, in denen jeder Mensch kompetent ist. Es ist ein weites Feld von politisch-rechtlichen Angelegenheiten, die dann übrig bleiben zwischen einem freien Geistesleben und dem auf das Assoziations- Prinzip gestellten Wirtschaftsleben. Es sind alle diejenigen Angelegenheiten, in denen jeder mündig gewordene Mensch dem anderen als ein gleicher im parlamentarischen Leben gegenübersteht, wo alle die Fragen entschieden werden, die dann schon von selbst übrig bleiben aus dem Wirtschaftsleben, aus dem Geistesleben." (Lit.: GA 297a, S. 69)

Grundlagen

Das Wort „Demokratie“ ist im antiken Griechenland entstanden und bedeutete dort die direkte Volksherrschaft. Der Begriff „Volk“ wurde in jener Zeit sehr eng gefasst, da mit diesem nur einer äußerst begrenzten Gruppe von Bürgern politische Partizipationsrechte eingeräumt wurden. So konnten in einer griechischen Polis nur freie Männer an Volksversammlungen teilnehmen. Die Entartung des Grundgedankens der Demokratie wurde Ochlokratie („Herrschaft des Pöbels“) genannt. In der heutigen Zeit sind die meisten Demokratien zugleich Republiken, was der antiken Verwendung des Wortes entspricht.

Die Demokratie ist in den meisten demokratischen Ländern formell ein tragendes Verfassungsprinzip, so in Deutschland durch den (Art. 20 Abs. 1 GG), Österreich (Artikel 1 B-VG) und der Schweiz (Präambel der schweizerischen Bundesverfassung). Dies ist auch in vielen Staaten der Fall, deren demokratischer Charakter umstritten ist, wie beispielsweise im vorrevolutionären Libyen durch das Grüne Buch (dort: „Die Lösung des Demokratie-Problems“, 1975).

Moderne Monarchien sind dem Demokratiebegriff in vielerlei Hinsicht vereinbar geworden – so haben sich neue Staatsformen, wie die parlamentarische Monarchie herausgebildet, die ebenfalls entscheidende Elemente einer Demokratie in sich vereinen.

Demokratietheorien

Hauptartikel: Demokratietheorie

Zweck und Funktionsweise der Demokratie werden in verschiedenen Demokratietheorien diskutiert, die jeweils eine bestimmte Vorstellung von Demokratie beinhalten und unterschiedliche Demokratieformen befürworten, so die direkte Demokratie, repräsentative Demokratie, Demarchie, Radikaldemokratie oder Basisdemokratie.

Nach der Legitimationstheorie ist die Demokratie das Ideal einer durch die Zustimmung der Mehrheit der Bürger und deren Beteiligung legitimierten Regierungsform, der „Volksherrschaft“. Die Demokratie in diesem modernen Sinne hat sich im westlich geprägten Verständnis als die einzige natürlich legitimierte staatliche Grundordnung durchgesetzt (siehe auch Demokratismus).[1] Oft wird dabei Demokratie (obwohl staatstheoretisch nicht direkt damit verbunden und de facto auch häufig nicht der Fall) automatisch mit Rechtsstaatlichkeit gleichgesetzt.[2] Die Überzeugung der Demokratie als die „(einzig) richtige Staatsform“ hat in der heutigen Zeit zu dem sogenannten Demokratisierungsprozess geführt.[3] Dabei wird unterschieden zwischen der Demokratisierung von „oben“ und von „unten“; das heißt, die Demokratie wird entweder durch eine Revolution des Volkes von innen heraus eingeführt, oder aber das Land wird durch eine fremde Macht von außen „demokratisiert“.[4] Letzteres kann als abgeschwächte Form zum Beispiel durch Demokratieförderung, oder aber auch durch die gewaltsame „Befreiung“ eines Landes (wie es bspw. bei der Entnazifizierung, oder in Afghanistan und dem Irak der Fall war) geschehen.[5]

Aus der Sicht der politikwissenschaftlichen Souveränitätstheorie ist die Demokratie ein politisches System, in dem das Volk der souveräne Träger der Staatsgewalt ist.[6] Aus dieser Sicht heraus besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Demokratie und parlamentarischer Monarchie, weil dort immer noch der Monarch das Souverän darstellt. Dem steht das allgemeine politische Verständnis gegenüber, wonach die Abgrenzung zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie oftmals danach entschieden wird, inwiefern ein Volk über seine Staatsform selbst entscheiden darf, oder sie ihm aufgezwungen wird.[7]

Eine abweichende Auffassung vertritt der Kritische Rationalismus. Demnach beinhalten die verbreiteten Souveränitäts- und Legitimationstheorien Fehler, die sie anfällig für totalitäre Tendenzen machen. Diese Fehler sind aus der Sicht eines kritischen Rationalismus analog der fehlerhaften erkenntnistheoretischen Frage nach den autoritativen Quellen der Erkenntnis und ihrer Begründung. Sie gründeten letztendlich auf der Ansicht, es sei Ziel der Staatsphilosophie, die Frage „Wer soll herrschen?“ zu beantworten. Die üblichen Demokratietheorien haben diese staatsphilosophische Grundposition als Voraussetzung und behaupten darauf die Antwort „Das Volk soll herrschen“ oder „Die Mehrheit soll herrschen“ geben zu können. Nach Karl Popper, dem Begründer des Kritischen Rationalismus, ist diese Frage falsch gestellt und die Antwort auch falsch, weil weder das Volk noch die Mehrheit, sondern die Regierung in einer Demokratie tatsächlich herrscht oder überhaupt herrschen könne. Diese Frage müsse ersetzt werden durch die bessere Frage, wie eine Tyrannis vermieden werden kann und wie der Staat so gestaltet und die Gewalten so geteilt und kontrolliert werden können, dass Herrscher keinen zu großen Schaden anrichten können und unblutig abgesetzt werden können. Handlungen von Regierungen sind nach dieser Theorie grundsätzlich nie legitimiert und können sich nicht über die Moral stellen. Weder das Volk, noch die Regierung, sind oder sollten demnach souverän sein; die Regierung müsse Minderheiten auch gegen den Willen von Mehrheiten schützen, und das Volk müsse die Regierung gegen ihren Willen bei Wahlen zur Verantwortung ziehen. Die demokratische Wahl ist nach dieser Sicht keine souveräne Auswahl und Legitimation einer neuen Regierung, die am besten fähig ist, den Willen des Volkes oder der Mehrheit durchzusetzen, sondern sie ist ein Volksgericht über die bestehende Regierung, bei dem Bürger darüber entscheiden, ob sie tüchtig genug ist und ob ihre Handlungen moralisch vertretbar sind. Die Theorie der Mehrheitsherrschaft müsse durch die Theorie der Entlassungsgewalt der Mehrheit ersetzt werden. Daraus zieht Popper auch praktische Konsequenzen, z. B. behauptet er die moralische Überlegenheit des Mehrheitswahlrechts und der Zweiparteiendemokratie gegenüber dem Verhältniswahlrecht und der Mehrparteiendemokratie, während die Souveränitäts- und Legitimationstheorien üblicherweise zu der genau entgegengesetzten Ansicht neigen.[8]

Wesentliche Merkmale der Demokratie

Ein Staat gilt als demokratisch, wenn die folgenden Kriterien zutreffen:

  • Es gibt einen Demos (das Volk), welcher politische Entscheidungen in kollektiven Prozeduren (Wahlen oder Abstimmungen) trifft.
  • Das Volk ist der souveräne Träger der Staatsgewalt (Volkssouveränität). Es gibt sich selbst (meist durch eine Verfassung) ein politisches System (verfassungsgebende Gewalt).
  • Es gibt ein Territorium, in dem die Entscheidungen innenpolitisch angewendet werden und in dem der Demos angesiedelt ist: das Staatsgebiet. Weil dieses im Regelfall mit der Heimat des Demos korrespondiert, stimmen Demos und Reichweite des demokratischen Prozesses überein. Kolonien von Demokratien werden selbst nicht als demokratisch betrachtet, wenn sie vom demokratischen Mutterland regiert werden. (Demos und Territorium stimmen nicht überein.)
    • Umgekehrt gilt jedoch: Ist die Bevölkerung (auch deutlich) größer als der Demos und somit das Territorium und die Bevölkerung ebenfalls divergieren, wird im Allgemeinen trotzdem von einer Demokratie gesprochen (Ausländerproblematik bei Wahlen).
  • Es gibt für politische Normen eine Entscheidungsfindungsprozedur, die entweder direkt (als Referendum) oder indirekt (über die Wahl eines vertretenden Parlamentes) funktioniert. Diese Prozedur wird vom Demos bereits dadurch als legitimiert betrachtet, dass sein Ergebnis „akzeptiert“ wird. In einer repräsentativen Demokratie wird die politische Legitimität der Repräsentanten aus der Bereitschaft der Bevölkerung abgeleitet, die Entscheidungen des Staates (auch die der Regierung und der Gerichte) entgegen individuellen Vorzügen und Interessen zu akzeptieren oder hinzunehmen. Dies ist deshalb wichtig, weil demokratische Wahlen immer Gewinner und Verlierer haben. Zumindest muss die Prozedur geeignet sein, Regierungswechsel herbeizuführen, sofern eine ausreichende Unterstützung dafür existiert. Scheinwahlen, die ein existierendes Regime nur bestätigen können, sind nicht demokratisch.
  • Im Fall von Nationalstaaten müssen diese souverän sein: Demokratische Wahlen sind nutzlos, wenn eine Autorität von außen das Ergebnis überstimmen kann. Ausnahmen kann es im Falle der Suzeränität geben (Beispiel Island).
  • Ein unverzichtbares Merkmal einer Demokratie ist schließlich, dass durch wiederkehrende, verbindlich festgelegte Verfahren die Regierung ohne Revolution wechseln kann. In vorwiegend direkt-demokratischen Systemen entscheidet das Volk zum Beispiel mittels Volksabstimmungen und kooperativer Planung in Sachfragen selbst. In repräsentativen Demokratien werden hierzu von den Bürgern Repräsentanten gewählt (oder in der Vergangenheit auch per Los bestimmt), die die Herrschaft ausüben sollen.

Obwohl die Staatsform der Demokratie dies per Definition nicht unbedingt miteinschließt, wird sie im äußeren, modernen, vor allem westlich geprägten Bild meist mit einer gewissen Form der Rechtsstaatlichkeit verbunden (siehe auch Demokratie#Demokratie und Rechtsstaat). Mindestens zu nennen sind dabei:

Die demokratische Entscheidung

Damit eine Wahl in repräsentativen Demokratien, bzw. eine Abstimmung in direkten Demokratien demokratischen Mindeststandards entspricht, müssen neben dem Mehrheits- oder Konsensprinzip weitere Kriterien erfüllt sein. Die konkrete Ausprägung dieser Kriterien hängt vom jeweiligen Wahlverfahren ab.

  • Allgemeine Wahl: Jeder Wahlberechtigte darf an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen (aktives Wahlrecht) und besitzt ein passives Wahlrecht.
  • Gleiche Wahl: Jeder Wahlberechtigte hat gleich viele Stimmen.
  • Freie Wahl: Es darf kein Zwang auf die Wähler ausgeübt werden.
  • Unmittelbare Wahl: Bei einer Personenwahl wird die Stimme unmittelbar einem Kandidaten gegeben.
  • Geheime Wahl: Um die freie Wahl zu sichern, wird häufig geheim abgestimmt. Dabei sollte auch hinreichend viel Zeit für die Entscheidung zur Verfügung stehen.

Als Ergebnis der Freiheit zu kandidieren (passives Wahlrecht) kann es zur Situation kommen, dass nur ein Kandidat zur Wahl steht. Eine echte Entscheidung kann freilich nur getroffen werden, wenn es mehrere Alternativen gibt. Dennoch gilt aber auch eine Abstimmung mit nur einer Alternative als demokratisch, sofern die anderen Demokratiekriterien gewahrt bleiben.

Eine Demokratie setzt die Einhaltung der Grundrechte voraus. Insbesondere gilt dies für die

  • Meinungsfreiheit und Pressefreiheit: Der politischen Entscheidung sollte ein freier Austausch der Meinungen und Standpunkte vorausgehen.
  • Organisationsfreiheit: Damit ist die Freiheit gemeint, frei Parteien und Organisationen zu bilden.
  • Rezipientenfreiheit: Im Idealfall sollte jeder Teilnehmer wissen und verstehen, was er entscheidet. Da Wissen und Verstehen aber nur schwer überprüfbar sind, gilt als Demokratiekriterium der freie Zugang zu allen Informationen, die für die Entscheidung maßgeblich sind.

Mißbrauch der Demokratie

„Und jenes Blech, das heute als griechische und römische Geschichte verzapft wird in den Schulen, wie könnte das belebt werden, wenn es wirklich von den geisteswissenschaftlichen Impulsen durchdrungen würde, die wir dafür kennengelernt haben! Man braucht ja nicht diese Begriffe und Ideen zum Ausdruck zu bringen, sondern nur so zu erzählen, daß es anschaulich in der Erzählung wird. Aber davon hat man sich immer mehr und mehr entfernt und muß sich ihm wiederum nähern.

Dadurch allein werden die Menschen sich Wirklichkeitssinn erwerben. Denn heute fehlt den Menschen selbst in bezug auf das Primitivste des Umlebens und des Miterlebens der Wirklichkeitssinn. Die Menschen glauben heute realistisch, materialistisch zu sein, sind aber die abstraktesten Theoretiker, die man sich nur denken kann, sind vollgepfropft von bloßen Theorien, schlafen in lauter Theorien und sind sich dessen nicht bewußt, daß sie in Theorien schlafen. Wenn einmal einer aufwacht - es ist nicht Zufälligkeit, aber man könnte in populärer Redewendung sagen -, wenn einmal einer zufällig aufwacht und etwas wach sagt, wird er einfach unberücksichtigt bleiben. So geht es eben heute.

Sie werden vielleicht schon gehört haben, daß von gewissen Leuten immer wiederum in die Welt posaunt wird: Die Demokratie muß die ganze Kulturwelt ergreifen. Demokratisierung der Menschheit ist dasjenige, was das Heil bringt; dafür muß man nun alles kurz und klein schlagen, damit die Demokratie sich ausbreitet auf der Welt. -Ja, wenn die Menschen einfach so fortleben, daß sie die Dinge, die als Begriffe an sie herantreten, nur so an sich herankommen lassen, also ganz aufgehend in dem Begriffe Demokratie, dann haben sie eben den Begriff Demokratie so, wie ich ihn als Definition des Menschen angeführt habe: Ein Mensch ist ein Wesen, das zwei Beine und keine Federn hat - wie ein gerupfter Hahn. - Denn ungefähr so viel, wie der, dem man einen gerupften Hahn zeigt, vom Menschen weiß, wissen die Menschen, die heute die Glorie der Demokratie verkündigen, von der Demokratie. Man nimmt Begriffe für Wirklichkeiten. Dadurch aber ist es unschwer möglich, daß die Illusion sich an die Stelle der Wirklichkeit setzt, wenn es sich ums Menschenleben handelt, indem man die Menschen einlullt und einschlä- fert durch Begriffe. Dann glauben sie, in ihrem Streben gehe es dahin, daß jeder Mensch seinen Willen zum Ausdruck bringen könne durch die verschiedenen Einrichtungen der Demokratie, und merken nicht, daß diese Strukturen der Demokratie so sind, daß immer ein paar Menschen an den Drähten ziehen, die andern aber werden gezogen. Doch weil man ihnen immer vorredet, sie sind in der Demokratie drinnen, merken sie nicht, daß sie gezogen werden, daß da einzelne ziehen. Und um so besser können diese einzelnen ziehen, wenn die andern alle glauben, sie ziehen selbst, sie werden nicht gezogen. So kann man ganz gut durch abstrakte Begriffe die Menschen einlullen und sie glauben das Gegenteil von dem, was Wirklichkeit ist. Dadurch können aber die dunkeln Mächte gerade am allerbesten wirken. Und wenn einmal einer aufwacht, so wird er eben nicht berücksichtigt.

Interessant ist es, wie 1910 einer den schönen Satz geschrieben hat, daß es dem Großkapitalismus gelungen sei, aus der Demokratie das wunderbarste, wirksamste, biegsamste Werkzeug zur Ausbeutung der Gesamtheit zu machen. Man bilde sich gewöhnlich ein, die Finanzleute seien Gegner der Demokratie, schreibt der betreffende Mann - ein Grundirrtum; vielmehr seien sie deren Leiter und deren bewußte Förderer. Denn diese - die Demokratie nämlich - bilde die Spanische Wand, hinter welcher sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr fänden sie das beste Verteidigungsmittel gegen die etwaige Empörung des Volkes.

Da hat einmal einer, der aufgewacht ist, gesehen, wie es nicht darauf ankommt, von Demokratie zu deklamieren, sondern wie es darauf ankommt, die Wirklichkeit zu durchschauen, nichts auf alle solche Schlagworte zu geben, sondern zu sehen, was wirklich ist. Heute wäre dies ganz besonders notwendig, denn man würde dann sehen, von wie wenigen Zentren aus die Ereignisse heute eigentlich gelenkt und geleitet werden, die so furchtbar, so blutig über die ganze Menschheit hin walten. Darauf wird man nicht kommen, wenn man immer in dem Irrwahn lebt, die Völker bekämpfen sich; wenn man sich immer einlullen läßt von der europäischen und amerikanischen Presse über irgendwelche Beziehungen, die in den gegenwärtigen Ereignissen zwischen den Völkern sein sollen. Das alles, was da gesagt wird über Antagonismus und Gegensätzlichkeiten der Völker, das ist dazu da, um über die wahren Gründe den Schleier zu breiten. Denn nicht dadurch, daß man von Worten heute zehrt, um diese Ereignisse zu erklären, kommt man zu irgendeinem Resultat, sondern dadurch, daß man auf die konkreten Persönlichkeiten hinzeigt. Das wird nur manchmal unbequem. Und derselbe Mann, der diese Sätze niedergeschrieben hat 1910, der aufgewacht ist, der hat auch in demselben Buche eine höchst unangenehme Rechnung angestellt. Er hat nämlich eine Liste aufgestellt von fünfundfünfzig Männern, die in Wirklichkeit Frankreich beherrschen und ausbeuten. Diese Liste gibt es in dem Buche «La Democratie et les Financiers», 1910, von Francis Delaisi, von demselben Mann, der das ja mittlerweile berühmt gewordene Buch «La Guerre qui vient» geschrieben hat, das letztere 1911, das Buch «La Democratie et les Financiers» 1910. In diesem Buche finden Sie Sätze von fundamentaler Bedeutung. Da ist einmal ein Mensch aufgewacht gegenüber der Wirklichkeit. In diesem Buche «Die Demokratie und die Finanzwelt» liegen Impulse, um vieles von dem zu durchschauen, was heute durchschaut werden sollte, vieles aber auch zu zerhauen von dem, was als Nebel über die Gehirne der Menschen hin zum Fluten gebracht wird. Auch über diese Dinge muß man sich entschließen, die Wirklichkeit ins Auge zu fassen.

Natürlich ist das Buch unberücksichtigt geblieben. Aber in diesem Buche werden gewisse Fragen aufgeworfen, die heute in der ganzen Welt aufgeworfen werden sollten, weil sie manches über die Wirklichkeit lehren würden, die man so begraben will unter all den Deklamationen von Demokratie und Autokratie und was die Schlagworte alle sind. In diesem Buche finden Sie zum Beispiel auch eine sehr schöne Darstellung von der üblen Lage, in der eigentlich ein Parlamentarier ist. Nicht wahr, die Menschen glauben, so ein Parlamentarier stimmt nach seiner Überzeugung ab. Aber würde man alle die Fäden kennen, durch die ein solcher Parlamentarier zusammenhängt mit der Wirklichkeit, dann würde man erst wissen, warum er in einem Fall ja und im andern Fall nein sagt. Denn gewisse Fragen müssen aufgeworfen werden. Delaisi wirft sie auf. Zum Beispiel wirft er die Frage auf, indem er einen Parlamentarier ins Auge faßt: Auf welche Seite soll sich der arme Mann stellen? Das Volk zahlt ihm jährlich dreitausend Francs Diäten, die Aktionäre dreißigtausend Francs! - Die Frage stellen heißt sie schon beantworten. Also der gute arme Mann bekommt vom Volk seine dreitausend Francs Diäten, von den Aktionären dreißigtausend! Nicht wahr, es ist ein sehr schöner Beweis, zeugt manchmal von großem Scharfsinn zu sagen: Wie schön ist es doch, daß einmal in einem Parlament ein Sozialist, ein Volksmann wie Millerand, einen Platz gefunden hat! Es ist etwas Großartiges, daß eine solche Errungenschaft möglich geworden ist. Delaisi fragt etwas anderes. Er fragt: Wie steht es mit der Unabhängigkeit eines Menschen wie Millerand, der jährlich dreißigtausend Francs als Vertreter von Versicherungsgesellschaften verdiente?

Da ist einmal einer aufgewacht; der weiß ganz gut, wie die Fäden gehen von den Taten eines solchen Mannes in die verschiedenen Versicherungsgesellschaften hinein. Aber solche Dinge, die heute im Wachzustand über die Wirklichkeit erzählt werden, die werden eben nicht berücksichtigt. Man kann natürlich sehr schön den Menschen von der Demokratie der westlichen Welten deklamieren. Wenn man ihnen aber die Wahrheit sagen wollte, müßte man ihnen sagen: Wer soundso heißt, macht es so, und wer soundso heißt, macht es so. - Und da rechnet Delaisi fünfundfünfzig Männer heraus, nicht eine Demokratie, sondern fünfundfünfzig bestimmte Männer, von denen er sagt, daß sie Frankreich beherrschen und ausbeuten. Da ist man auf die realen Tatsachen gekommen, denn auch im gewöhnlichen Leben muß der Sinn erwachen für reale Tatsachen. Das weiß man auch aus dem Buch von Delaisi: Es war einmal ein Advokat. Dieser Advokat - viele Fäden verbanden ihn mit allen möglichen, nicht nur mit Versicherungsgesellschaften, sondern auch mit Finanzzentren, Finanzwelten -, aber dieser Advokat hatte noch höheren Ehrgeiz; er wollte für seine Taten nicht nur durch die Finanzwelt, durch die Industriewelt, Handelswelt protegiert sein, sondern auch durch die Gelehrtenwelt der Akademie. Das ist die Stätte, wo man durch die Gelehrtenwelt selbst in die Sphäre der Unsterblichkeit erhoben werden kann. Aber nun fanden sich zwei «Unsterbliche» innerhalb der Akademie, welche just unerlaubte Trustgeschäfte machten. Sie fanden es ganz gut vereinbar mit ihrem Wirken für die Unsterblichkeit, Trustgeschäfte, die unerlaubt waren nach dem Gesetze des Landes, zu machen. Da fand sich denn der sehr scharfsinnige Advokat und vertrat die beiden Unsterblichen vor dem Gerichte, und es gelang ihm, sie freizubekommen, sie reinzuwaschen, so daß sie nicht verurteilt wurden. Da nahmen sie ihn selber unter die «Unsterblichen» auf. Die Wissenschaft, die nicht das Zeitliche der Welt, sondern das Ewige der Welt, das Unsterbliche verwaltet, die ist verteidigt worden von diesem «selbstlosen» Advokaten: Raymond Poincare heißt er. - Delaisi erzählt in dem genannten Buche diese Geschichte.

Es ist ganz gut, solche Dinge als Ingredienzen der Wirklichkeit auch zu wissen. Diese Dinge müssen schon ins Auge gefaßt werden. Und man wird so gelenkt, daß man einen gewissen Spürsinn für die Wahrheit bekommt, wenn man Geisteswissenschaft aufnimmt, während die materialistische Bildung der heutigen Zeit, in die ja so unzählige Kanäle von der Presse fließen, dazu angetan ist, nicht auf die Wirklichkeiten hinzuweisen, sondern auf etwas, was mit allerlei Schlagworten wie mit Mäntelchen belegt wird. Und wenn einmal einer aufwacht wie der Delaisi und die Dinge schildert, wie sie sind: Wie vielen Menschen werden diese Dinge bekannt? Wie viele Menschen hören darauf? Sie können ja auch nicht hören, denn es wird begraben von dem - nun, eben wieder von dem von der Presse beherrschten Leben. Delaisi erweist sich in seinem Buche über die Demokratie und die Finanzwelt als ein recht heller Kopf, der sich viele Mühe gegeben hat, manches zu durchschauen. Er ist kein blinder Anbeter des Parlamentarismus, er ist kein blinder Anbeter der Demokratie. Er sagt voraus, daß diese Dinge, auf die sich die heutigen Menschen so furchtbar viel zugutetun, aufhören werden. Er sagt es ausdrücklich, auch von der «Abstimmungsmaschine» - so ungefähr ist das Wort, in dem er sich ausdrückt. Und ganz wissenschaftlich und ernsthaft ergeht sich auch Delaisi über diese parlamentarische Abstimmungsmaschine, denn er durchschaut den ganzen Apparat, der in diese Abstimmungsmaschinen hineinführt, denen gegenüber man den Glauben erwecken will, da stimme ab eine überzeugte Majorität gegen eine verrückte Minorität. Er weiß, daß, wenn eine gesunde Entwickelung kommen soll, ganz anderes an die Stelle treten muß.

Das ist heute noch nicht möglich, weil es noch die Leute sehr schockieren würde, zu sagen, was an die Stelle treten wird. Das kann heute eigentlich im Grunde genommen nur der in die Geisteswissenschaft Eingeweihte wissen. Formen der Vergangenheit werden ganz gewiß nicht an die Stelle treten. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß derjenige, der aus der Geisteswissenschaft heraus redet, irgendwelchen reaktionären oder konservativen Dingen das Wort redet; vergangene Dinge werden es nicht sein. Doch sind die Dinge von dem, was heute als Abstimmungsmaschine besteht, so verschieden, daß es schockieren würde. Es würde noch als eine Verrücktheit angesehen. Trotzdem wird es sich in die Impulse der Zeitentwickelung einleben. Aber auch Delaisi meint: Wie in der organischen Entwikkelung später unnütze Glieder auftreten, die fortbestehen, obgleich sie ihre Funktionen schon verloren haben, so werden längere Zeit auch noch diese Parlamente abstimmen; aber das lebendige Leben, das geht aus ihnen fort.

Sie wissen, der Mensch hat solche Glieder, die heute ihre Aufgabe verloren haben: manche können noch die Ohren bewegen, auf frü- heren Stufen waren Muskeln da, die haben ihre Aufgabe verloren. Der Mensch hat heute noch diese Muskeln, aber es sind sogenannte atavistische Glieder, die nicht mehr ihre Aufgabe haben. So stellt sich Delaisi das Parlament der Zukunft vor; die Parlamente werden noch solche abfallende, abgestorbene, atavistische Überreste sein, aber etwas anderes wird in die menschheitliche Entwickelung hineingeführt werden.

Ich habe Ihnen gerade Delaisi angeführt, das Buch, das vor noch gar nicht zu langer Zeit, 1910, erschienen ist, um Sie aufmerksam darauf, zu machen, daß eigentlich genugsam Leute vorhanden sind - denn einer genügt ja für manche Tausende -, daß es sich nur darum handelt, diese Leute nicht unberücksichtigt zu lassen. Und neben dem, daß ich mich bestrebe, Sie einzuführen in die Gesetze des geistigen Lebens, in die Impulse des geistigen Lebens, neben dem betrachte ich es auch als meine Aufgabe, auf die bedeutenden Erscheinungen der Gegenwart hinzuweisen, wenn auch dadurch zunächst zustandekommt, daß dasjenige, was Sie hier in diesen Vorträgen als die bedeutenden Erscheinungen hören, Sie draußen im Leben gerade nicht als bedeutende Erscheinungen genannt finden, wenn Sie es überhaupt genannt finden. Es muß sich schon radikal und gründlich das, was unter uns getrieben wird, unterscheiden von dem, was draußen getrieben wird. Nur dann, wenn wir dies in aller Tiefe und in allem Ernste auffassen, können wir wirklich in entsprechender Weise Geisteswissenschaft treiben.“ (Lit.:GA 177, S. 264ff)

Einzelnachweise

  1. Dalibor Truhlar: Demokratismus – Philosophie der demokratischen Weltanschauung. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-631-55818-X.
  2. Gregor Husi/Marcel Meier Kressig: Der Geist des Demokratismus. Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Westfälisches Dampfboot, Münster 1998, ISBN 3-89691-440-5.
  3. Wilhelm Hennis: Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs. In: Martin Greiffenhagen: Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, München 1973, S. 61.
  4. Fritz Vilmar: Strategien der Demokratisierung. 1973, Band I, S. 102.
  5. Vgl. Otfried Höffe: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung. C.H. Beck, München 2004, S. 10; vgl. auch S. 93.
  6. Peter Graf Kielmansegg: Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität. Stuttgart 1977.
  7. Tobias Friske: Staatsform Monarchie. Was unterscheidet eine Monarchie heute noch von einer Republik?. Magisterarbeit (überarbeitete Fassung), Universität Freiburg 2007 (Volltext).
  8. Sir Karl Popper: Zur Theorie der Demokratie, in: Der Spiegel 32/1987 vom 3. August 1987.

Siehe auch

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Erziehung zum Leben. Selbsterziehung und pädagogische Praxis., GA 297a (1998), ISBN 3-7274-2975-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis, GA 177 (1977)
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