Niklas Luhmann

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Niklas Luhmann (* 8. Dezember 1927 in Lüneburg; † 6. November 1998 in Oerlinghausen) war ein deutscher Soziologe und Gesellschaftstheoretiker. Als einer der Begründer der soziologischen Systemtheorie zählt Luhmann zu den herausragenden Klassikern der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert.

Wissenschaftlicher Werdegang

Luhmann studierte von 1946 bis 1949 Rechtswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, mit einem Schwerpunkt auf römischem Recht. Es folgte bis 1953 eine Referendarausbildung in Lüneburg. 1954 bis 1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, 1954 bis 1955 am Oberverwaltungsgericht Lüneburg Assistent des Präsidenten. In dieser Zeit begann er auch mit dem Aufbau seiner Zettelkästen. 1960/1961 erhielt Luhmann ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität, das er nach seiner Beurlaubung wahrnehmen konnte. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. Nach seiner Tätigkeit als Referent an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer von 1962 bis 1965 und als Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund von 1965 bis 1968 (1965/66 daneben ein Semester Studium der Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster (Westfalen)) promovierte er dort 1966 zum Dr.sc.pol. (Doktor der Sozialwissenschaften) mit dem bereits 1964 erschienenen Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation. Fünf Monate später habilitierte] er sich bei Dieter Claessens und Helmut Schelsky mit Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung. Mit seiner Berufung 1968 wurde Luhmann der erste Professor der Universität Bielefeld. Dort trug er zum Aufbau der ersten soziologischen Fakultät im deutschsprachigen Raum bei, lehrte und forschte bis zu seiner Emeritierung 1993.[1]

Die funktional-strukturelle Systemtheorie Luhmanns bis 1975

Ein wesentliches Kennzeichen der luhmannschen Systemtheorie dieser Zeit (der Grundbegriff ist hier für ihn noch die soziale Handlung, im Gegensatz zu seiner späteren Systemtheorie, wo Systeme aus Kommunikationen bestehen) ist eine Umstellung im funktionalistischen Paradigma. Parsons Systemtheorie war ein Strukturfunktionalismus, Strukturen oder Systeme nehmen Funktionen für ein übergeordenetes System wahr, dienen der Strukturerhaltung. Luhmann kritisiert diese Sichtweise und entwickelt seine funktional-strukturelle Systemtheorie, in der Funktionen und deren Analyse eine andere Bedeutung bekommen als noch bei Parsons.

Neben dem Beitrag zur Systemerhaltung bezieht sich Funktionalität nun zusätzlich auf umweltbedingte Problemlösungsanforderungen in spezifischen Situationen. Die funktionale Analyse verlagert den Bezugspunkt der theoretischen Orientierung von den Strukturen auf die Funktionen. Funktionen sind nicht als "zu bewirkende Wirkung", sondern als "regulatives Sinnschema" zu fassen, das zu Zwecken der Bewältigung von Umwelteinwirkungen gebildet wird. Funktionen sind unter dem funktional-strukturellen Aspekt im wesentlichen Anpassungsleistungen an die Umwelt.[2]

Handlung als Reduktion von Komplexität

Soziales Handeln ist für Luhmann nicht wie für Max Weber durch sinnhafte Bezogenheit auf fremdes Verhalten bestimmt, z.B. Verfolgung von Zielen unter Berücksichtigung der zu erwartenden Reaktionen anderer, sondern stellt eine Reduktionsleistung dar:

"Für Luhmann ist Handlung Reduktion, d.h. ein Ergebnis jener Selektionsleistungen, die soziologisch nicht handlungstheoretisch, sondern immer nur systemtheoretisch - d.h. in Handlungssystemen transparent gemacht werden können. (...) Das Faktum der Weltkomplexität macht eben im Interesse des Überlebens eine handlungsorientierende Überlebensstrategie erforderlich, deren grundlegendes Merkmal in der Reduktion dieser Komplexitäten besteht." (Gabor Kiss: 326f.)

Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft als soziale Systeme

Durch die Popularisierung von sozialwissenschaftlichen Begriffen, wie dem des sozialen Systems, denkt man zu "System" gewöhnlich an größere Einheiten, wie dem Wirtschaftsystem etwa. Aus systemtheoretischer Sicht ist jedoch eine jede Organisation, wie z.B. eine Waldorfschule, ein soziales System.

Das Handlungssystem Parsons ist zwar das übergeordnete "Großeganze", aber gleichzeitung auch die einzelne Handlung eines Individuums, als systemischer Vorgang betrachtet. Zur sozialen Systembildung kommt es bereits auf der Ebene der Interaktion. Dies wird von Luhmann am Beipiel der Doppelten Kontingenz erörtert. Bei der Begegnung von sich bisher unbekannten Ego und Alter, oder in neuen Situationen, für die es keine Rezepte gibt, entsteht die Situation einer völligen Offenheit, was zu tun ist, etwa einen Smalltalk beginnen. Sobald jedoch das Gespräch in Gang kommt, verringert sich die Kontingenz, es bildet sich ein Interaktionssystem, weil Ego und Alter sich aufeinander einstellen, und es im Fortlauf der Interaktionen eine stabilisierende Einschränkung stattfindet, was weiter folgen kann. Dies ist die Komplexitätsreduktion, von der Luhmann annimmt, daß soziales Handeln wesentlich durch sie bestimmt ist.

Komplexität bezieht sich mehr auf Wahrnehmung und Erleben, Kontingenz auf mögliche Alternativen der Selektion. Indem das handelnde Individuum die Kontingenz einschränkt und Komplexität reduziert, ist es zusammen mit anderen sozialen Individuen Stifter der sozialen Systeme, angefangen bei den Interaktionen, über Institutionen und Organisationen bis zum System der Gesellschaft. Die Gesellschaft als System ist aus Handeln aufgebaut, bzw. dem, was als Handeln erwartbar ist. Die Erwartbarkeit des Handelns ist ein wesentliches Element von Handlungssystemen. Von einem Lehrer einer Waldorfschule erwartet man anderes Verhalten als von einem Schüler.

Aus solcher systemtheoretischen Sicht findet Soziales generell im Rahmen von Systemen statt. Es gibt kein soziales Handeln außerhalb solcher Systeme, oder wenn es solches soziales Handeln gibt, dann ist mit ihm die Systembildung gegeben. Dieser Systemcharakter des sozialen Handelns zeigt sich in der modernen Gesellschaft als stark gesteigert, die moderne Gesellschaft ist organisiert, weshalb Soziologen auch von der modernen Gesellschaft als einer Organisationsgesellschaft sprechen.

Dies ist auch ein Thema eines Interviews mit Konrad Schily 2010 gewesen:

"Thomas Brunner: Da kann ich ganz gut anschließen mit der nächsten Frage. Wir gehen über in grundsätzliche Fragestellungen. Pestalozzi unterscheidet, ganz deutlich zwischen individueller Existenz und kollektiver Existenz und er sagt, der Mensch wird entwurzelt, wenn er in seinem Bildungsweg in ein generalisiertes, verallgemeinertes System verpflanzt wird. Also deswegen ist er ja erst mal auch ein Gegner von organisierter Schule. Der Soziologe Niklas Luhmann hingegen, nennt diese ganze idealistische Zeit einen moralischen Mythos. Er sagt, das sind schöne Ideale. Heute gelte es, in den modernen komplexen Gesellschaften aber, eine adäquate Wahrheitstheorie zu entwickeln, also nicht mehr die Vernunft des Individuums solle zur Wirksamkeit kommen, sondern eine adäquate, die sich nicht mehr durch die menschliche Unmittelbarkeit definiert, sondern grundsätzlich im Sinne eines generalisierenden und abstrakten Codes von Regeln.

Konrad Schily: Also es gibt nicht die Wahrheit, sondern es gibt die Vereinbarung.

Thomas Brunner: Genau. Für Luhmann gibt es deshalb nur die Möglichkeit sich mit den bestehenden Systemen durch Kompromisse zu arrangieren. Realität haben für ihn nur der Markt und der Staat.

Konrad Schily: Ich halte den Luhmann für den Philosophen des Unwesentlichen, denn er macht ja alles Wesentliche zu einem Surrogat. Zu einem Vorgestellten. Und der Chomeni sagt, die Gemeinde in Allah ist einig und wer nicht einig ist, ist nicht bei Allah und den kann man umbringen. Und das macht der Westen auch. Der grenzt auch aus. Das ist die Vereinbarung. Ja, da gibt ´s mal Vereinbarungen hin und her. Also deutsche Rechtschreibung und so. Das ist dann wieder komisch. Aber manchmal ist es gar nicht komisch. Oder ich könnte auch sagen, Luhmann ist für mich jemand des „Dran vorbei“, ja? Ein Organismus ist etwas total anderes, als ein System. Aber alle Leute lieben heute das System. Das System tut. Na, das eignet sich wunderbar. Alle Moleküle versammeln sich im System und das System beschließt, ja? Das System beschließt also jetzt machen wir den aufrechten Menschen oder wir machen die Qualle oder so. Na, Unsinn ist das! Oder die Gehirnforscher sagen, das Gehirn überlegt. Ich sage, ja und heute Morgen kam ich ans Klavier. Da hat sich das Klavier Mozart überlegt. War wunderbar. Hab´s nur nicht gehört, weil da saß keiner, der Mozart spielt. Also da merkt man, wie man in die Täuschung gerät.

Ralf Gleide: Ja, mal eine freie Frage dazwischen. Jetzt noch mal, wenn man jetzt unterscheidet: Individuelle Existenz und kollektive Existenz und sagen, wir sind mit dem Staat und mit den Verabredungen im Reich dieser kollektiven Existenz und im Geistesleben brauchen wir aber die Individualität mit ihrer Ursprünglichkeit, wie Sie das auch in Ihrem Buch nennen. Warum haben Sie vorhin davon gesprochen, dass es gegenüber der Klüngelei eine Aufsichtsfunktion des Staates braucht? Also warum sehen Sie den Staat als die Instanz an, die diese Aufsichtsfunktion übernehmen muss."[3]

Die erwähnten "Vereinbarungen" sind aber aus systemtheoretischer Sicht nur eine Variante von Erwartbarkeit. In dem Ausschnitt des Interviews ist die Fragestellung mit der Unterscheidung von individueller vs. kollektiver Existenz scharf herausgestellt: Darf eine Waldorfschule organisiert sein, wenn sie ihren Auftrag einer freiheitlichen Erziehung wahrnehmen können soll? Und wenn ja, wie unterscheidet sich dann solche Organisation von der üblichen Organisationsweise? Nicht nur auf der großen Ebene der drei Teilbereiche der Gesellschaft ist diese Frage gestellt: Eine Waldorfschule als sozialer Organismus ist etwas total anderes als ein soziales System. (Sinngemäß K. Schily) (oder sollte es sein, wozu der Unterschied genauer zu bestimmen wäre.)

Einzelnachweise

  1.  Niklas Luhmann: „Was ist der Fall?” und „Was steckt dahinter?” Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie. Bielefeld 1993, S. 3.
  2. Vgl. Gabor Kiss: Einführung in die soziologischen Theorien II, 3. Aufl. 1977, S. 321ff.
  3. Die Standardisierung ist genau das Mittel, um die Komplexität nicht mehr begreifbar zu machen, Konrad Schily, 8/2010 Thomas Brunner, Ralf Gleide und Clara Steinkellner im Gespräch mit Dr. Konrad Schily, Witten, 17.8.2010. Eine gekürzte Fassung ist in Die Drei, Ausgabe 2011/1 erschienen. zitiert nach [1]

Werke (Auswahl)

Geeignete Einstiegsliteratur:

  • Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität Suhrkamp, 1982 (Luhmanns schönstes Buch heißt es, untersucht die Genese der romantischen Liebe)
  • Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 1986 (An einem populären Thema stellt Luhmann alle wesentlichen Aspekte seiner späteren Systemtheorie vor. Das Buch ist von ihm möglichst einfach und verständlich gehalten, und insofern als Einführung geeignet)
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