Gott und Wahrheit: Unterschied zwischen den Seiten

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Das Wort '''Gott''' ([[Wikipedia:mittelhochdeutsch|mhd.]], [[Wikipedia:althochdeutsch|ahd.]] ''got'', [[Wikipedia:Gotische Sprache|got.]] ''guth'', [[Wikipedia:Englische Sprache|engl.]] ''god'', [[Wikipedia:Schwedische Sprache|schwed.]] ''Gud'', abgleitet von  [[Wikipedia:Germanische Sprachen|germ.]] ''*guda-'' Gott = ''Anrufung''), ist im [[Wikipedia:Germanen|germanischen]] Sprachraum entstanden als allgemeine Bezeichnung für erhabene [[geistige Wesen]]. Als '''Götter''' oder '''Gottheiten''' werden in der Regel [[Wesenheit]]en der ersten und zweiten [[Hierarchie]] bezeichnet. Ursprünglich hatte das Wort ''Gott'' sächliches Geschlecht, da es männliche und weibliche Gottheiten gleichermaßen umfasste. Heute wird der Singular ''Gott'' vor allem als Bezeichnung für das [[Vater (Trinität)|Vaterprinzip]] der göttlichen [[Trinität]] verwendet.
{{Textbox|<poem>Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und
die Wahrheit wird euch frei machen.</poem>|{{B|Joh|8|32|LUT}}}}


Nach [[Thomas von Aquin]] (* um 1225; † 1274) kann der [[Mensch]] zwar durch seine [[Vernunft]] erkennen, ''dass'' Gott ist, nicht aber ''was'' Gott ist. Letztere Erkenntnis ist auch den [[Hierarchien|Engelwesen]], obwohl sie höher stehen als der Mensch, nicht zugänglich, sondern bleibt Gott allein vorbehalten.
'''Wahrheit''' (von {{idg|*wēr-|Vertrauen, Treue, Zustimmung}}; [[lat.]] ''[[veritas]]''; {{ELSalt|ἀλήθεια}} [[Aletheia]], aus [[Wikipedia:Alpha privativum|α privativum]] und {{polytonisch|λῆθος}}, [[Wikipedia:Partizip Perfekt Passiv|P.P.P.]] von {{polytonisch|λανθάνω}}, „verbergen“, bedeutet also wörtlich: „das Unverborgene“) ist ein [[Philosophie|philosophischer]] [[Begriff|Grundbegriff]], der aber von verschiedenen [[Denken|Denkern]] sehr unterschiedlich gefasst wurde → [[Wikipedia:Wahrheit|Wahrheit]].


{{Zitat|Es gibt aber in dem, was wir von Gott bekennen, zwei Weisen von
{{GZ|Die Wahrheit ist aber nichts,
Wahrheit. Einiges nämlich über Gott ist wahr, was über jede Fähigkeit
worüber man [[Meinung]]en haben kann. Eine Wahrheit weiß man, oder
der menschlichen Vernunft hinausgeht, z. B. daß Gott dreifaltig und
man weiß sie nicht. Es kann niemand sagen, daß die drei Winkel im
einer zugleich ist; anderes ist wahr, wozu auch die natürliche Vernunft
Dreieck 725 Grad haben statt 180.|93|108}}
gelangen kann, z. B. daß Gott ist, daß Gott einer ist und anderes dieser
Art, was ja auch die Philosophen, geleitet vom Licht der natürlichen
Vernunft, von Gott durch Beweise dargelegt haben.|[[Thomas von Aquin]]|''Summa contra gentiles'' I,3}}


Nach [[Johannes Scottus Eriugena]] (9. Jh.) weiß auch Gott selbst nicht ''was'' er ist, da er selbst grenzenlos und jenseits jeder Bestimmbarkeit ist und alles in ihm in ungeschiedener [[Ganzheit]] in [[1|Eins]] zusammenfällt. Dieses „Nichtwissen“ ist aber zugleich die höchste und wahre [[Weisheit]], das unbegreifliche und unendliche [[Wissen]] Gottes selbst:
== Was ist Wahrheit? ==
[[Bild:Was_ist_Wahrheit.jpg|thumb|250px|[[Wikipedia:Nikolai Nikolajewitsch Ge|Nikolai Nikolajewitsch Ge]]: ''Was ist Wahrheit'' – Quid est veritas? (1890); [[Pontius Pilatus]] zu [[Jesus von Nazareth|Jesus]] {{Bibel|Joh|18|38|LUT}}.]]


{{Zitat|Wenn wir sagen, Gott wisse nicht, was er sei, wollen wir
Solange die Menschen noch von der alten Götterweisheit, die sie [[Hellsehen|hellsichtig]] empfangen hatten, zehren konnten, und sei es auch nur durch Überlieferung, solange brauchten sie die Frage nach der Wahrheit nicht zu stellen. [[Paulus]], als er noch Saulus war, vertraute noch ganz auf diese alte Offenbarung. Ein letzter Rest dieser - mittlerweile freilich substanzlos gewordenen - Gesinnung lebt noch in dem [[1870]] festgeschriebenen [[Dogma]] der [[Päpstliche Unfehlbarkeit|Päpstlichen Unfehlbarkeit]] für alle [[Wikipedia:ex cathedra|ex cathedra]] verkündigten [[Glaube]]ns- und [[Moral|Sittenlehren]]. Quelle der Wahrheit ist hier nicht der [[Mensch]], aber ein allmächtiger Gott kann nach dem Anspruch dieses Dogmas die Unfehlbarkeit eines Menschen, nämlich des [[Papst]]es, bewirken.
damit wohl. etwas Anderes andeuten, als dass er sich. in
keinem von Allem, was ist, begreife? Denn wie könnte
er in ihm selber Etwas erkennen, was in ihm selber nicht
sein kann? Sind doch die Gründe Alles dessen, was Gott
in sich selber, d. h. der Vater im Sohne, geschaffen hat,
ungetheilt in ihm Eins; sie gestatten keine Bestimmung
der eigenthtimlichen Bestandheiten durch eigenthümliche
Unterschiede oder zufällige Bestimmungen, indem sie dergleichen
nur in ihren Wirkungen, nicht aber in ihnen
selber zulassen. Was ist dann aber von der unaussprechlichen
und unbegreiflichen Natur selber zu halten? Wer
möchte darin etwas durch eine Grenze Bestimmtes, im
Raume Ausgedehntes, in Theile Getrenntes, aus Bestandheiten
und zufälligen Bestimmungen Zusammengesetztes
denken? Das göttliche Nichtwissen ist also die höchste
und wahre Weisheit.|Johannes Scottus Eriugena|''Über die Einteilung der Natur''|ref=<ref>Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): ''Über die Eintheilung der Natur'', Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 209 [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Johannes_Scotus_Erigena/Johannes_Scotus_Erigena_Ueber_die_Einteilung_der_Natur.pdf#page=216&view=Fit]</ref>}}


Was gemeinhin als Gott angesprochen wird, ist allerdings oft nur der eigne führende [[Engel]] oder das [[Höheres Seöbst|höhere Selbst]] des [[Mensch]]en.
[[Pilatus]], als er den [[Christus]] verhörte, konnte sich der Wahrheit nicht mehr sicher sein:


{{GZ|Denn das, wovon man in Wirklichkeit redet, wenn man
{{Zitat|33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden?
heute vielfach von seinem Gott spricht, das ist der einzelne Engel
34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt?
oder gar das eigene Selbst in der Zeit zwischen dem letzten Tode und
35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
der jetzigen Geburt.|181|353}}
36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.
37 Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.|[[Johannesevangelium]]|{{BB|Joh|18|33-38|LUT}}}}


{{GZ|Wenn man für die Vorstellung all die Begriffe durchgeht, welche sich
Durch [[Luzifer]] war der [[Mensch]] in die [[irdisch]]-[[sinnliche Welt]] versetzt worden. Dadurch kam er zugleich immer mehr in den Einflussbereich [[Ahriman]]s und verfiel dem [[Irrtum]] und der [[Sünde]].  
solche Menschen von ihrem Gotte machen - was ist denn in solchen
Begriffen ausgeführt? Nichts anderes als das Wesen eines Engels, eines
Angelos, und all diejenigen Menschen, welche davon sprechen, daß sie
unmittelbar von ihrer Seele zu Gott aufschauen, schauen nur zu einem
Engel auf. Und suchen Sie sich alle Beschreibungen - wenn sie noch so
erhaben klingen - solcher Menschen auf, so werden Sie finden: sie beschreiben
nichts anderes als einen Engel, und dasjenige, was diese Menschen
sagen, ist nichts anderes als die Forderung, man solle sich unter
Gott nichts Höheres vorstellen als einen Engel. Das zum Beispiel, was
man heute den modernen protestantischen Gott nennt und über den
gerade von protestantischer Seite so viel geredet wird, ist ein Angelos,
ist nichts anderes. Denn nicht darauf kommt es an, ob man sich einbildet,
man finde den Weg zu dem höchsten Gotte, sondern darauf
kommt es an, wozu man wirklich den Weg findet. Und man findet auf
diese Weise nur den Weg zu seinem Angelos. Ich sage: zu ''seinem'' Angelos,
denn das ist wichtig.|172|178f}}


{{GGZ|Die Angeloi sind dazu
{{GZ|Dadurch, daß der Mensch verfrüht herunterversetzt
berufen, die einzelne menschliche Individualität hindurchzuführen
worden ist in die irdische Sphäre, daß ihn seine irdischen Interessen
durch die wiederholten Erdenleben.
und Begierden heruntergedrängt haben, dadurch kam es anders, wie es
Dann kommen wir herunter bis zum Menschen selber. Der Mensch,
sonst gekommen wäre in der Mitte der atlantischen Zeit.
so wie er heute auf der Erde ist, erinnert sich nur an sein Erdenleben
hier im physischen Leib. Das Gedächtnis der Engel geht viel weiter,
denn nur dadurch, daß es viel weiter geht, können sie die wiederholten
Erdenleben der Menschen lenken und leiten. Nicht einmal richtig aber
stellt sich der moderne Theologe den Engel vor, weil der moderne Theologe
schon diese Eigenschaft wegläßt von dem Engel, daß er die menschliche
Individualität durch die wiederholten Erdenleben durchleitet.
Wenn wir ins Auge fassen, daß wir, indem wir den Erzengeln gegenüberstehen,
es erst bei den Erzengeln zu tun haben mit Wesenheiten, die
menschliche Zusammenhänge regieren, und bei den Zeitgeistern mit
Wesenheiten, die menschliche Zusammenhänge über lange Zeiträume
hindurch regieren, daß wir es bei den Engeln zu tun haben mit Wesenheiten,
die wesentlich das Leben des einzelnen Menschen regieren, dann
werden wir nicht verkennen, wenn wir das im Auge behalten, daß es
ein verborgener Egoismus ist von den Menschen, unmittelbar zu dem
Gotte sich erheben zu wollen, denn sie wollen sich in Wahrheit - obwohl
sie das nicht zugeben - nur zu ihrem Gotte, zu ihrem eigenen
Engel erheben.


Das hat eine große praktische Bedeutung, das ist von einer großen
Dadurch haben sich hineingemischt in das, was der Mensch hat
Wichtigkeit, denn es trägt einen gewissen Keim in sich. Es trägt den
sehen und begreifen können, die ahrimanischen Geister, diejenigen
Keim in sich, daß die Menschen von dem einen Gotte sprechen, aber
Geister, die eben auch mit dem Namen mephistophelische Geister
daß es nur eine Phantasterei ist, daß sie von dem einen Gotte sprechen.
bezeichnet werden können. Dadurch verfiel der Mensch in Irrtum,
Denn in Wahrheit, indem die Menschen sich dieser Phantasterei hingeben,
verfiel in das, was man eigentlich erst die bewußte Sünde nennen
spricht jeder von seinem eigenen Gotte, nämlich von seinem
könnte. Also von der Mitte der atlantischen Zeit an wirkt auf den
Engel. Und die Folge davon muß sein, daß im Laufe der Zeit jeder
Menschen die Schar der ahrimanischen Geister ein. Wozu hat nun diese
Mensch seinen eigenen Gott, nämlich seinen eigenen Engel verehrt. Und
Schar der ahrimanischen Geister sozusagen den Menschen verführt?
wir sehen schon, wie stark der Drang der Menschen ist, daß jeder seinen
Sie hat ihn dazu verführt, daß er das, was in seiner Umgebung ist,
eigenen Gott verehrt. Das Zusammenfinden der Menschen in denjenigen
für stofflich, für materiell hält, daß er nicht durch dieses Stoffliche
Göttern, die allen gemeinsam sind, ist ein sehr geringes geworden
hindurchsieht auf die wahren Untergründe des Stofflichen, auf das
in der neueren Zeit. Das Pochen eines jeden auf seinen eigenen Gott
Geistige. Würde der Mensch in jedem Stein, in jeder Pflanze und in
hat sich als etwas ganz besonders Hervorstechendes herausgestellt.
jedem Tier das Geistige sehen, er würde niemals verfallen sein in
Das Menschengeschlecht wird atomisiert. Es bleibt gewissermaßen nur
Irrtum und damit in das Böse, sondern der Mensch würde, wenn nur
das Wort «Gott» noch übrig, das für die Menschen einer Sprache
die fortschreitenden Geister auf ihn gewirkt hätten, bewahrt geblieben
gemeinsam lautet, aber unter diesem einen Worte stellt sich jeder etwas
sein vor jenen Illusionen, denen er immer verfallen muß, wenn er nur
anderes vor, nämlich seinen eigenen Engel. Und er kommt nicht einmal
auf die Aussage der Sinneswelt baut.|107|244ff}}
hinauf bis zu dem Erzengel, welcher menschliche Gemeinschaften
leitet.|172|180f}}


{{GGZ|Indem der Mensch eigentlich
Erst nachdem der Mensch gelernt hatte, sich seines eigenen [[Verstand]]es zu bedienen, der aber eben auch durch den Einfluss [[Ahriman]]s dem [[Irrtum]] unterliegen kann, stellt sich immer wieder die Frage, die auch [[Pontius Pilatus]] stellen musste: „Was ist Wahrheit?“
nur zu seinem Engel aufblickt, das sich aber nicht gesteht, sondern
glaubt, er blicke zu dem Gotte auf - während er nicht einmal zu einem
Erzengel aufblickt -, betäubt er durch diese unwahre Vorstellung in
einem gewissen Sinne seine Seele. Und diese Betäubung der Seele ist ja
heute allgemein vorhanden. Aber wenn man die Seele betäubt, dann ist
das für unsere heutige Menschheitsentwickelung außerordentlich verhängnisvoll.
Denn durch die Betäubung der Seele wird das Ich heruntergedrückt,
heruntergetrübt, und dann schleichen sich die anderen Mächte,
die nicht in der Seele wirken sollen, in diese Seele ein. Das heißt, es
schleicht sich an die Stelle des Engels, den man zunächst verehren wollte,
den man aber umtauft zu «Gott», der luziferische Angelos ein, und man
kommt allmählich dazu, nicht den Engel zu verehren, sondern den luziferischen
Angelos.|172|181}}


{{GZ|Die Religionen haben Schuld,
<div style="margin-left:20px">
die religiösen Bekenntnisse, indem sie das Bewußtsein der Menschen trüben
"Unter
und an die Stelle Gottes einen Engel setzen, für den sich dann substituiert
den hebräischen Menschen gab es Schriftgelehrte, die aus der Schrift
der luziferische Engel, der ihm entspricht. Und dieser luziferische
wußten, was da noch aufbewahrt worden war von der alten Götterweisheit
Engel wird den Menschen alsbald in den Materialismus hineinführen.
her. Aus diesen Schriftgelehrten heraus entstand das Urteil,
Das ist der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen den hochmütigen,
das den Christus Jesus zum Tode verurteilt hat. Solch ein Mensch wie
egoistischen Religionsbekenntnissen, welche nichts hören wollen von
Paulus, als er noch Saulus war, sieht also hinauf zu der Urgötterweisheit. Aus der strömt herunter bis zu den Schriftgelehrten seiner Zeit
dem, was über einem Engel steht, sondern in maßlosem Hochmut sagen,
dasjenige, was diese Götterweisheit dem Menschen geworden ist. Indem
daß sie von «Gott» sprechen, während sie nur von einem Engel sprechen,
hervorragende Menschen sich hingegeben haben dem Schrifttum,
und von dem noch nicht einmal vollständig. Dieser maßlose Hochmut,
konnte diese Götterweisheit nur dazu führen, daß gerechte Urteile
der noch oftmals als Demut angesprochen wird, er ist es, welcher letzten
gesprochen wurden. Ein Unschuldiger, der zum Kreuzestod verurteilt
Endes den Materialismus hat hervorbringen müssen. Wenn wir dies
wird: unmöglich, unmöglich! wenn sich alles so vollzog, wie es sich
bedenken, dann sehen wir einen bedeutungsvollen Zusammenhang:
vollzogen hat bei der Verurteilung des Christus Jesus. Nur der römische
Durch die fälschliche Umdeutung eines Engels zu Gott entsteht in der
Landpfleger Pontius Pilatus, der war schon instinktiv hineinverstrickt
Menschenseele der Hang zum Materialismus. Und es liegt ein unbewußter
in eine ganz andere Weltanschauung, der konnte das inhaltsvolle
Egoismus zugrunde, der sich darinnen äußert, daß der Mensch
Wort aussprechen: Was ist Wahrheit? - Für Paulus, als er noch
es verschmäht, aufzusteigen zu der Erkenntnis der geistigen Welt, der
Saulus war, war keine Möglichkeit, auch nur daran zu denken, daß
sich auch darinnen äußert, daß der Mensch sozusagen nur aus sich heraus
das, was nach gerechtem Urteile sich vollzogen hat, nicht hätte Wahrheit
den Zusammenhang mit seinem Gotte unmittelbar zu finden meint.|183}}
sein sollen.


== Siehe auch ==
Zu welcher Überzeugung mußte sich denn Paulus durchringen? Zu
der Überzeugung, daß bei den Menschen Irrtum sein kann dasjenige,
was einmal von den Göttern als Wahrheit gekommen ist, daß die Menschen
es haben zum Irrtume machen können, zu solch starkem Irrtum,
daß der Schuldloseste durch den Kreuzestod geht.
 
Um ganz klar zu werden, machen wir uns davon eine schematische
Zeichnung:
 
[[Datei:GA211 118.gif|center|500px|GA 211, S 118]]
 
Ursprüngliche Götterweisheit, sie strömt herunter bis zu der Weisheit
der Schriftgelehrten, die die Zeitgenossen des Mysteriums von
Golgatha innerhalb des Hebräertums waren (weiß). Da kann nur die
Wahrheit drinnen sein, so mußte Saulus denken. Aber man mußte anders
denken. Paulus, als er noch Saulus war, sagte sich: Ist das wirklich
der Christus, der Messias, der durch den Kreuzestod gegangen ist, so
muß da drinnen in dieser Strömung (rot) Irrtum sein. Da muß Irrtum
zugemischt sein der Wahrheit, denn der Irrtum muß es sein, der den
Christus ans Kreuz gebracht hat; das heißt, die einstige Götter Wahrheit
muß in den Menschen zum Irrtum geworden sein.
 
Selbstverständlich konnte der Saulus sich nur überzeugen durch die
Tatsache, daß das so ist. Nur der Christus selbst konnte ihn überzeugen,
wenn er ihm erschien, wie das durch das Ereignis von Damaskus
geschehen ist. Was bedeutete das aber für den Saulus? Das bedeutete,
daß eben nicht mehr die alte Götterweisheit war, sondern daß in diese
das [[Ahriman]]ische hereingeströmt war.
 
So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung
von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des
Irrtums auf der Erde ist." {{Lit|{{G|211|117ff}}}}
</div>
 
=== Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben ===
{{Textbox|<poem>Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt,
ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.
 
Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin.
 
Ich breite die Arme aus, wie ER getan,
ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn.</poem>|Christian Morgenstern<ref>Christian Morgenstern: ''Wir fanden einen Pfad'', Piper, München 1914, S. 52</ref>}}
Die Antwort auf die Frage des Pilatus nimmt der Christus schon während des [[Abendmahl|Letzten Abendmahls]] in seinen Abschiedsreden voraus, wie sie im [[Johannesevangelium]] überliefert sind, wenn er sagt: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben». Christus selbst ''ist'' die lebendige Wahrheit, zu der er auch den Weg bereitet - und dieser Weg führt durch den Christus zum [[Vater]], d.h. in das innerste Zentrum und die eigentliche Quelle des höchsten [[Gott|Göttlichen]]. Indem sich der Mensch aus freiem Entschluss auf ganz individuelle Weise mit der Christuskraft durchdringt, im Sinne des Paulinischen Wortes «[[Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir]]» {{Bibel|Gal|2|20|LUT}}, lebt in ihm die Wahrheit.
 
[[File:Christ at Rest, by Hans Holbein the Younger.jpg|mini|390px|[[Wikipedia:Hans Holbein der Jüngere|Hans Holbein der Jüngere]]: ''Christus im Elend'', 1519]]
{{Zitat|1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!
2 In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?
3 Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.
4 Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr.
5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen?
6 Jesus spricht zu ihm: '''Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben'''; niemand kommt zum Vater denn durch mich.
7 Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.
8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns.
9 Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater?
10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke.
11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen.
12 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.
13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn.
14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.|[[Johannesevangelium]]|{{BB|Joh|14|1-14|LUT}}}}
 
=== Ecce homo ===
 
In dem [[Christus Jesus]] ist die Wahrheit erstmals und in vollem Umfang leibhaftig Mensch geworden. Mit vollem Recht spricht Pilatus daher, als er den gegeißelten, blutüberströmten, in den purpurnen Königsmantel gehüllten und mit der [[Dornenkrone]] gekrönten Jesus Christus dem Volk präsentiert, sein [[Ecce homo]] ({{ELSalt|Ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος}} ''idoù ho ánthropos'' „Siehe, der Mensch“) {{Bibel|Joh|19|5|ELB}}.
 
Die Wahrheit erkennen heißt deshalb: ''Christus erkennen!'' Jenen Christus, dessen Wesen die reine Liebe ist, die sich frei verschenkt und darum auch Freiheit schenkt. Und wo immer ein Stück der Wahrheit erkannt wird, wird auch der Christus erkannt.
 
{{LZ|Wenn wir von
»Wahrheit« reden, meinen wir damit einen allgemeinen
Sinnverhalt, nämlich die Tatsache, daß wir irgend
etwas im Lichte der ewigen Wesenheit erkennen. Johannes
aber sagt im Prolog: Das ist ein bloßer Zwischengedanke, der nur bedingt gilt. Im Letzten ist die
Wahrheit Er, der Logos; und Erkennen bedeutet im
Letzen, den Logos, Christus zu erkennen und alle
Dinge in Ihm.|Guardini, S. 103f}}
 
Und weil der Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist, ist auch die Wahrheit ''göttlich'' und ''menschlich'' zugleich.
 
== Wahrheitstheorien ==
 
{{Hauptartikel|Wahrheitstheorie}}
 
Im Lauf der [[Philosophiegeschichte]] wurden verschiedene [[Wahrheitstheorien]] entwickelt. Nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die wichtigsten Ansätze:
 
{| class="wikitable zebra" style="width: 90%; margin-left: 2em; text-align: center;"
!width="20%"|''Position''
!width="38%"|''Wahrheitsdefinition''
!width="20%"|''Wahrheitsträger''
!width="22%"|''Wahrheitskriterium''
|-
|[[Ontologisch-metaphysische Korrespondenztheorie]]
|„Veritas est adaequatio intellectus et rei“<br />Wahrheit ist die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache
|Denken
|Sachen in der Welt
|-
| [[Dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie]]
|Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und objektiver Realität
|Bewusstsein (orthodoxer Marxismus)<br />oder Aussage (moderner Marxismus)
|Praxis<ref name="Wahrheit">Artikel „Wahrheit“. In: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): ''Philosophisches Wörterbuch.'' 11. Aufl., Leipzig 1975.</ref>
|-
|[[Wikipedia:Wahrheit|Logisch-empiristische Bildtheorie]]
|Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts
|Satzstruktur
|Struktur der Sachverhalte
|-
|[[Semantische Theorie der Wahrheit]]
|„x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p“ (Für „p“ ist eine beliebige Aussage, für „x“ ein beliebiger Eigennahmen dieser Aussage einzusetzen.)
|Satz (der Objektsprache)
|Diskursuniversum (der Objektsprache)
|-
|[[Redundanztheorie]]
|Der Begriff der Wahrheit wird nur aus stilistischen Gründen verwendet, oder um der eigenen Behauptung Nachdruck zu verleihen.
| Sätze
| –
|-
|[[Wikipedia:Wahrheit|Performative Theorie]]
|das, was man tut, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr
|Handlung / Sprechakt / Selbstverpflichtung
|eigenes Verhalten
|-
|[[Kohärenztheorie der Wahrheit|Kohärenztheorie]]
|[[Widerspruchsfreiheit]] / Ableitungsbeziehungen einer Aussage zum System akzeptierter Aussagen
|Aussage
|Kein Widerspruch von Aussage und bereits akzeptiertem Aussage-System
|-
|[[Konsenstheorie der Wahrheit|Konsensustheorie]]
|[[diskurs]]iv einlösbarer [[Geltungsanspruch]], der mit einem konstativen Sprechakt verbunden ist
|Aussage/Proposition<ref name="Habermas">Jürgen Habermas: ''Wahrheitstheorien''. In: [[Wikipedia:Helmut Fahrenbach|Helmut Fahrenbach]] (Hrsg.): ''Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag''. Neske, Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 249: „Nur Aussagen können wahr oder falsch sein.“</ref>
|begründeter Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation<ref name="Habermas" />
|-
|}
 
== Die Wahrheit ist ein freies schöpferisches Erzeugnis des Menschen ==
[[Datei:GA3.jpg|thumb|200px|]]
 
{{Zitat|Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.|Johannes-Evangelium|{{BB|Joh|8|31-32|LUT}}}}
 
[[Rudolf Steiner]]s Wahrheitsbegriff deckt sich in ihrem wesentlichen Kern mit ''keiner'' der genannten [[Wahrheitstheorien]], sondern ist auf die [[schöpfer]]ische [[Freiheit]] des [[Individuum|individuellen]] Menschen gegründet.
 
Für [[Johann Gottlieb Fichte|Fichte]], an den Rudolf Steiner in seiner Dissertation anknüpft, muss die Wahrheit ''„thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigne Kraftanwendung“''<ref>[http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Fichte/Fichte_Ueber_Belebung_und_Erhoehung_des_reinen_Interesses_fuer_Wahrheit.pdf Johann Gottlieb Fichte: ''Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit'']. In: [[Johann Gottlieb Fichte]]: ''Werke''. Bd. 8, S. 351</ref> und besteht letztlich darin, ''mit sich selbst'' übereinstimmend zu denken.
 
{{Zitat|Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit andern, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das leztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bey allen denen gewiß seyn, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins, und eben dasselbe. Wie andre denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muß von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andre denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andre. – Mit denen übereinzustimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?|Johann Gottlieb Fichte|Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit|ref=<ref>[http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Fichte/Fichte_Ueber_Belebung_und_Erhoehung_des_reinen_Interesses_fuer_Wahrheit.pdf Johann Gottlieb Fichte: ''Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit'']</ref>}}
 
Wahrheit ist nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas [[Freiheit|frei]] und [[Individualität|individuell]] durch das [[Ich]] zu Schaffendes - diesen Standpunkt hat auch [[Rudolf Steiner]] in seinem [[Philosophie|philosophischen]] Grundlagenwerk «[[Wahrheit und Wissenschaft]]» (1892) vertreten:
 
{{GZ|Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle
Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies
Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends
existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die
Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts
Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern
die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der
sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle
Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des
Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem
allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese
Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich
abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem
Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger
Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich
wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,
sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das
Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des
Universums.|3|11f|11}}
 
Rudolf Steiner sieht sich damit im Einklang mit [[Goethe]]:
 
{{GZ|Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei
verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an die
objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr,
dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen der
Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was
dem einen so, dem andern anders erscheint. Für denjenigen, der
die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der
Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, dass die Natur ihren
reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann. Dem
einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem
individuellen Kleide. Sie passt sich der Eigenart seiner
Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten, dem Menschen
wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen,
überträgt der Mensch seine geistigen, intimsten Erlebnisse auf
die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste
seiner Persönlichkeit. Es gibt auch allgemeingültige
Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine
individuelle Färbung zu geben. Dies sind aber die
oberflächlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem
allgemeinen Gattungscharakter der
Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse
Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über
die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die
Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher
finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den
Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersönlichkeit von
dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der
Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit.
Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die
Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf,
dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten
einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen
Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen
verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen
Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen
Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit,
die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine
eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies
ist Goethes Meinung.|6|65f|59}}
 
Die „eine einzige Wahrheit“ kann sich nur auf das Vergangene, Gewordene, Tote beziehen - und versagt gegenüber dem [[Leben]]digen.
 
{{GZ|Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt,
das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung
mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige
beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren.
Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen
herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen.
Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen,
sondern nur in dem Begriff selber leben.|163|88}}
 
Ganz deutlich betonte Rudolf Steiner diesen schöpferischen Charakter des Erkennens auch in dem Ausblick, mit dem seine 1900 veröffentlichen „[[Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert]]“ ausklingen, die später zu „[[Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt]]“ ([[GA 18]]) erweitert wurden:
 
{{LZ|Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.|Rudolf Steiner: ''Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert'', Berlin 1900, [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url&#61;http://www.odysseetheater.org/ftp/anthroposophie/Rudolf_Steiner/Faksimiles/GA018_1900.pdf#page&#61;370&view&#61;Fit S. 188]}}
 
Schon in den «[[GA 1|Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften]]» hatte Rudolf Steiner geschrieben, dass der Mensch zwangsläufig einen offenbaren oder verhüllten [[Anthropomorphismus]] in seine [[Erkenntnis]]tätigkeit hineinträgt, ja, dass dadurch, wenn es in richtiger Weise geschieht, überhaupt erst Erkenntnis möglich wird. Er entfernt sich dadurch keineswegs von der Wirklichkeit, die grundsätzlich nur in einem Subjekt und Objekt übergreifenden Prozess zu erreichen ist:
 
{{GZ|Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen
lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über
dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines
Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die
Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die
einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper
bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man
sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper
stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn
man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges
hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen,
das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper
der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen
Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man
vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt
die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber
diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der
Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch
die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne,
weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie
machen kann.<ref>Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz
zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß
die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht
werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht
wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne.
Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die
Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und
er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner
Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge
spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb
konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten.
Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen
völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers
haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen
Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den
Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl
durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser
«das ''subjektive'' Erkenntnisvermögen nun selbst als ''Objekt'' betrachtet
und den Punkt, wo ''subjektiv'' und ''objektiv'' zusammentreffen,
zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv
treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht,
und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum ''einigen'' Wesen
der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv
und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit.
Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff.
Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. ''Vorländer''
im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung
über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung
«mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen
Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis
der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite
erkläre. ''Vorländer'' hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in
der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts
nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein
Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was
gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen
Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr
wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn
es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder
mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder
schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist . . . Ein weit
schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb
nach Kenntnis die Gegenstände der Natur ''an sich selbst'' und in
ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen
und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung
lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der
entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt
keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie
sie in bezug auf uns ''erscheinen''. Diese Ansicht läßt Goethe nur als
ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen.» Dazu sagt ''Vorländer'': «Diese (Worte Goethes) wollen
weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem
Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll
suchen, <''was ist'' und nicht was ''behagt''>. Wer, wie Steiner, die letztere
allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis
zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu
raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B.
den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa
aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie
aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den
Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe
die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch
zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind.
Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem
menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht,
in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf
sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen
Weise mißverstehen kann wie ''Vorländer'', der mag es sich ersparen,
andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische
Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz
richtig ''lesen'' zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch
zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung deuten, kann jedenfalls ''Vorländer'' nicht.</ref> Von einer andern als einer subjektiven
menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn
Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven
Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven
Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter
annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren
Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen,
was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder
Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in
gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich
mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern,
der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz
zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle
Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur
darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente
der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken
eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen
oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder
seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche
widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß
nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr.,
4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine
allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert
die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er
die äußeren Erscheinungen deutet.
 
Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes
seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit
nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven
und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges
Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt
der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges
in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst
durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen
hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil
der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung
anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß
die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw.
Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon
Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein
Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung,
die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt
und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen
der Dinge, ist nicht ''[[Mystik]]''. Sie hat aber mit der Mystik das
gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in
der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt.
Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe
der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen
Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich
einem blinden ''[[Glauben]]'' an diese Gründe hingeben, der von
einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält,
oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen,
wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen
ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen
Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein
Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab,
und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
Menschen selbst ausspricht.|335ff|335}}
 
Hier macht Steiner auch deutlich, dass die verschiedenen Perspektiven, durch die sich die Wahrheit jeweils in ganz individueller Form zeigt, durch die Verschiedenheit der Verstandeswelten bedingt ist. Der [[Verstand]] zerschneidet gleichsam die Wiklichkeit auf ganz individuelle Weise in [[Begriff]]e. Die [[Vernunft]] fügt sie (im Idealfall) wieder zu den der Sache angemessenen [[Idee]]n zusammen:
 
{{GZ|Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung,
Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und
Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die
einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinander zu halten; und
die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu
verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu
verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie
kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt
hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue
Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde
''Begriffe'', die Vernunftschöpfungen ''Ideen''. Und man sieht, dass
der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu
erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das
objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist
ersichtlich, dass die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur
durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht
hindern, dass ich ein und dieselbe objektive Einheit in
Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen
verschieden sind; das hindert nicht, dass meine Vernunft in der
Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von
der wir ja beide ausgegangen sind.
 
[[Datei:GA1 173.gif|center|500px|Zeichnung aus GA 1, S. 173]]
 
Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt
(Figur 1). Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein
anderer anders, wie Fig. 3.
 
Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe
Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so
verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der
Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur ''eine'' sein
kann. ''Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten''. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über
die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte.
Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen
Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich
einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch,
welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit
menschlicher Anschauungen einzunehmen haben.|1|172f|167}}
 
In seinen «Goethe-Studien» schreibt Steiner:
 
{{GZ|Was aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich
beobachtend und denkend der Außenwelt gegenüberstellt, ist die
Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen
als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen
noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll,
der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen
nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse
entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken
zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser
Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen
stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen,
deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht
das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes
sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht.
Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die
Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das
Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er,
daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an
eine Außenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die
Dinge sind uns nur so lange fremd, solange wir sie bloß beobachten.
Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von
objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt,
als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht
erkennt. Die menschliche Innenwelt gehört als ein Glied zum
Weltprozeß wie jeder andere Vorgang.
 
Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache,
daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von
den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen
der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine
und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz
gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an,
ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das
gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das
Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen
der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation
des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er
die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen
dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge.
Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck
kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge.
Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse
enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der
tiefste Gehalt der Welt.|30|203f}}
 
Weiter heißt es:
 
{{GZ|Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes
seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur
durch den Zusammenfluß von Beobachtung und Denken zustande.
Weder durch einseitiges Beobachten noch durch einseitiges
Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist
nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern
wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit
den Dingen hervorgebracht. Wer ausschließlich die Erfahrung anpreist,
dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung
nur die Hälfte der Erfahrung ist». «Alles Faktische ist schon
Theorie» (Sprüche in Prosa), das heißt, es offenbart sich im
menschlichen Geiste ein Gesetzliches, wenn er ein Faktisches
betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit
der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben
in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der
Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als
etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas,
das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen laßt. Die entgegengesetzte
Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge
hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges
Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben
an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion
seinen Inhalt enthält, oder Verstandes-Hypothesen
und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet
der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker wie auch der Bekenner
der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den
Glauben an ein Jenseitiges wie auch die Hypothesen über ein solches
ab und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem
Menschen selbst ausspricht.|30|204f}}
 
== Wahrheitssinn ==
 
Jeder Mensch verfügt über einen '''Wahrheitssinn''', mit dem er die [[geisteswissenschaft]]lichen [[Erkenntnis]]se auffassen und mit [[unbefangen]]er [[Logik]] auch folgerichtig [[Verstand|verstehen]] und prüfen kann.
 
{{GZ|Jede Seele ist in sich selber veranlagt,
wenn sie sich auch noch nicht dem gekennzeichneten
einsamen Ringen hingegeben hat, durch eine unbefangene
Logik und durch einen gesunden Wahrheitssinn in sich aufzunehmen,
was von der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird.
Wenn auch ganz gewiß zugegeben werden muß, daß im
weitesten Umkreis, in dem heute dieses oder jenes von der
Geisteswissenschaft getrieben wird, bei der Aufnahme der
Mitteilungen der Geistesforschung nicht überall dieser gesunde
Wahrheitssinn und diese gesunde Logik herrschen,
so ist das ein Mangel einer jeden Geistesbewegung. Im
Prinzip ist es aber durchaus richtig, was gesagt ist. Ja, im
Prinzip sollte sogar beachtet werden, daß es zu Irrtümern
über Irrtümern führen muß, wenn leichten Herzens und
mit einem blinden Glauben das entgegengenommen wird,
was so oft heute als Geisteswissenschaft an die Menschheit
herangebracht wird. Wer wirklich auf dem Boden der
Geisteswissenschaft steht, fühlt sich in strenger Art verpflichtet,
logisch und vernunftgemäß das mitzuteilen, was
er zu sagen hat, so daß es wirklich von einem gesunden
Wahrheitssinn und von aller Logik geprüft werden kann.|60|18f}}
 
== Subjekt und Objekt ==
{{Textbox|<poem><center><small>Johann Wolfgang Goethe</small>
Vermächtnis</center>
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
 
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn,
 
Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
 
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.
 
Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendige
Der Augenblick ist Ewigkeit.
 
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
 
Und wie von alters her, im stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf. <small><ref>Goethe: ''Gedichte - Ausgabe letzter Hand 1827'', Goethe-BA Bd. 1, 541 [http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Gedichte/Gedichte+%28Ausgabe+letzter+Hand.+1827%29/Gott+und+Welt/Verm%C3%A4chtnis]</ref></small></poem>}}
 
Tatsächlich lässt sich der Begriff der Wahrheit nur im [[Subjekt]] und [[Objekt]] übergreifenden, [[individuell]]en Bezug auf die [[Wirklichkeit]] sinnvoll formulieren, womit aber nicht notwendigerweise ein willkürlicher [[Relativismus]] begründet wird. Vielmehr geht es darum, den subjektiven Standpunkt, von dem aus man die objektive Welt betrachtet, ganz bewusst in die Wahrheitsfindung miteinzubeziehen. Das betonte auch der US-amerikanische Philosoph [[Thomas Nagel]] in seinem Buch «Der Blick von nirgendwo»:
 
{{LZ|Wie ist die ''subjektive'' Perspektive einer einzelnen und
besonderen Person in der Welt mit einer objektiven Auffassung
von ebendieser Welt zu vermitteln, welche die Person und ihren
Srnndpunkt einschließt? Vor dieses Problem sieht jedes Wesen
sich gestellt, das den Impetus und das Vermögen besitzt, seine je
eigene Perspektive zu transzendieren und das Weltgeschehen als
ein Ganzes zu begreifen...
 
Die Schwierigkeit einer Vermittlung der
beiden Standpunkte stellt sich im konkreten Leben wie im Denken.
Sie erweist sich als die Schlüsselfrage für die Moral, die
Erkenntnis, die Freiheit, die Subjektivität und die Beziehung des
Psychischen zur materiellen Welt.|Nagel, S. 11}}
 
Die Problematik, dass sich das beobachtete Objekt nicht von den subjektiven Voraussetzungen der [[Beobachtung]] trennen lässt, drängte sich insbesondere in der modernen [[Quantenphysik]] auf. Der [[Quantenchemiker]] [[Hans Primas]] schreibt dazu:
 
{{LZ|In der von
René Descartes (1596 - 1650) begründeten
Philosophie zerlegt das Subjekt die Welt in
einfache Sachverhalte und betrachtet die objektive
Welt einfach als Summe dieser elementaren
Sachverhalte. Dagegen steht in der
Quantenmechanik so etwas wie ein «[[Ding an sich]]» nicht mehr zur Diskussion. Ein Subjekt
ist ein Subjekt, weil es in Relation zu einem
Objekt steht. Ein Objekt ist ein Objekt, weil
es in Relation zu einem Subjekt steht. Das bisher
übliche Kompartimentalisierungsdenken
muß aufgegeben werden. Die Quantenmechanik
beschreibt die materielle Welt primär als
ein unteilbares Ganzes; das Heraustrennen
einzelner Objekte bedarf einer Rechtfertigung,
welche prinzipiell außerhalb der Prinzipien
der Quantenmechanik liegt.
 
In jeder ganzheitlichen Theorie kann man
über ein Phänomen in Klarheit und Deutlichkeit
nur sprechen, wenn man zugleich den
[[Kontext]] angibt, von dem aus es bestimmt ist.
Isolierte «Fakten» beweisen wenig, sie erlangen
ihren Beweiswert erst durch die Angabe
des Kontexts, in dem sie beobachtet wurden.
Jeder Kontext hat seine implizierten Vorgaben,
die wir als Bezugspunkte zur Beschreibung
der Natur auswahlen. Entscheidet man
sich für andere Vorgaben, so wählt man einen
anderen Kontext mit anderer Perspektive, so
daß die Natur anders gesehen wird.|Primas, S. 114f.}}
 
Ähnlich dachte schon [[Johann Wolfgang von Goethe]]:
 
<div style="margin-left:20px">
"In monumentaler Weise hat Goethe den Gesichtspunkt der höchsten [[Erkenntnis]] in den Worten angedeutet:
 
«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»<ref name=goethe>{{Zeno-Werk|http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Aphorismen+und+Aufzeichnungen/Maximen+und+Reflexionen/Aus+%C2%BBKunst+und+Altertum%C2%AB/Vierten+Bandes+zweites+Heft.+1823|Maximen und Reflexionen, 4. Band, 2. Heft (1823)|Johann Wolfgang Goethe}}</ref>
 
Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige.
 
Das Verständnis für die Aufhebung des Individuellen,
des einzelnen Ich zum All-Ich in der Persönlichkeit betrachten
tiefere Naturen als das im Innern des Menschen sich
offenbarende Geheimnis, als das Ur-Mysterium des Lebens.
Auch dafür hat ''Goethe'' einen treffenden Ausspruch
gefunden: «Und so lang du das nicht hast,dieses: Stirb
und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen
Erde.»
 
Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern ein reeller
Teil des Weltprozesses ist das, was sich im menschlichen
Innenleben abspielt. Die Welt wäre nicht, was sie ist, wenn
sich das zu ihr gehörige Glied in der menschlichen Seele
nicht abspielte. Und nennt man das höchste, das dem Menschen
erreichbar ist, das Göttliche, dann muß man sagen,
daß dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist,
um ''bildlich'' im Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern
daß dieses Göttliche im Menschen ''erweckt'' wird. Dafür
hat [[Angelus Silesius]] die rechten Worte gefunden: «Ich
weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd'
ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.» «Gott
mag nicht ''ohne mich'' ein einzig's Würmlein machen:
erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks zerkrachen.»
Eine solche Behauptung kann nur der machen, welcher
voraussetzt, daß im Menschen etwas zum Vorschein
kommt, ohne welches ein äußeres Wesen nicht existieren
kann. Wäre alles, was zum «Würmlein» gehört, auch ohne
den Menschen da, dann könnte man unmöglich davon sprechen,
daß es «zerkrachen» müßte, wenn der Mensch es
nicht erhielte.
 
Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern der Welt
in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis
bedeutet für den Menschen Weben und Wirken
innerhalb des Weltenkernes." {{Lit|{{G|7|33f|33}}}}
</div>
 
Oder wie es [[Johannes Scottus Eriugena]] mit dem Hinweis auf [[Dionysius Areopagita]] ausdrückt:
 
{{Zitat|Denn die Gedanken der Dinge sind wahrhaft die Dinge selbst, wie der heilige Dionysius sagt: „die Erkenntnis des Seienden ist das Seiende selbst;“ aber ihre uranfänglichen Ursachen und Gründe werden durch Denktätigkeit, nicht durch die Dinge selbst zur Vereinigung geführt.|Johannes Scottus Eriugena|''Über die Einteilung der Natur''|ref=<ref>Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): ''Über die Eintheilung der Natur'', Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 133f [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/bibliothek/Philosophie/Johannes_Scotus_Erigena/Johannes_Scotus_Erigena_Ueber_die_Einteilung_der_Natur.pdf#page=140&view=Fit]</ref>}}
 
Die [[Subjekt-Objekt-Spaltung]], ohne die unser [[Ich-Bewusstsein]] nicht möglich wäre, durch die sich aber die Wahrheit zunächst unter dem Schleier der Objekte verhüllt, wird durch das [[Ich]] auf jeweils [[individuell]]e Weise hervorgerufen und kann auch nur durch das individuelle Ich wieder enthüllt werden. Indem im [[Erkenntnis]]akt die Wahrheit aufleuchtet, wird die durch unser [[Ich-Bewusstsein]] aufgerissene Kluft zwischen [[Ich]] und Welt wieder überwunden.
 
Mit dem an [[Sinne]] gebundenen [[Verstand]] stehen wir den Dingen ''gegenüber'', wir sind von ihnen getrennt. Wir sehen sie nur von außen und sie bleiben uns dadurch letztlich fremd. So ist es nicht in der wahren [[Erkenntnis]], wie auch die [[Gnosis|Gnostiker]] betonen. Hier ist die Trennung aufgehoben. Wir ''werden'' selbst, was wir erkennen - und darum ist ''diese'' Subjekt und Objekt übergreifende Erkenntnis zugleich immer auch ''wahre'' [[Selbsterkenntnis]]. Im [[apokryphen]] [[Valentinianer|valentinianischen]] [[Philippusevangelium]] heißt es entsprechend:
 
{{Zitat|Niemand kann etwas Unvergängliches wahrnehmen,
außer er wird selbst unvergänglich.
 
Es ist mit der Wahrheit nicht so wie auf der Welt,
wo der Mensch die Sonne sieht, ohne selbst Sonne zu
sein, wo er den Himmel sieht und die Erde und alles
Übrige, ohne selbst Himmel, Erde und dergleichen zu
sein. Sondern im Reich der Wahrheit siehst du etwas
von ihr und wirst selbst zu ihr. Du siehst den Geist
und wirst selbst zu Geist. Du siehst Christus: du wirst
Christus. Du siehst den Vater: du wirst zum Vater.
Hier auf dieser Welt also siehst du alle Dinge, siehst
aber dich selbst nicht. In der anderen Welt jedoch
siehst du dich selbst. Denn was du dort siehst, das
wirst du selbst.|[[Philippusevangelium]]|Spruch 44|ref=&nbsp;<ref>Dietzfelbringer, S. 107</ref>}}
 
Oder wie es der [[österreich]]ische Arbeiterdichter [[Alfons Petzold]] poetisch ausdrückte:
 
{{Zitat|vor=|nach=|<poem>;ICH BIN DIE WELT
Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.
 
Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.</poem>|Alfons Petzold|''Pfad aus der Dämmerung'', Wien 1947}}
 
== Die lebendige Wahrheit lebt im [[Ätherleib]] ==
 
Mit dem an das Werkzeug des [[physisch]]en [[Gehirn]]s gebundenen [[Verstand]]esdenken lassen sich nur ''tote'' Wahrheiten erfassen, die sich auf das bereits Gewordene beziehen, das bereits mehr oder weniger fertig in der Welt vorhanden ist. Zwar lassen sich auf diese Weise mannigfaltigste gesetzmäßige Beziehungen zwischen den einzelnen [[Erscheinung]]en der gewordenen Welt erhellen und in logisch zusammenhängender Weise darstellen, was durchaus zur [[Erkenntnis]] der [[Physische Welt|physischen Welt]] notwendig ist, doch bleibt die Erkenntnis dennoch unvollständig, solange das heute fertig Gewordene nicht in seinem ursprünglichen [[Werden]], aus dem es einst hervorgegangen ist, erfasst wird. Zwar lassen sich mit dem Verstandesdenken auch Veränderungen des bereits Gewordenen, das durchaus nicht starr und unveränderlich gedacht werden muss, beschreiben, in dem sie auf das gesetzmäßige Zusammenwirken einzelner Teilelemente des Gewordenen bezogen werden, doch ist damit das eigentliche ''lebendige'' Werden noch nicht erfasst. Man bleibt immer noch bei der bloßen Kombination fertiger ''toter'' Elemente stehen. Wahres Werden ist erst dort gegeben, wo etwas völlig Neues, zuvor noch nicht Vorhandenes und auch nicht aus bereits Vorhandenem Ableitbares gleichsam aus dem [[Nichts]] entsteht. Solange das lebendige Werden nicht begriffen wird, bleibt auch das Gewordene seinem eigentlichen Ursprung nach unverständlich, so wie der Leichnam unverständlich bleibt, solange er nicht als das Ergebnis eines ehemals Lebendigen erkannt wird. Die volle Wahrheit, die das lebendige Werden mit umfasst, kann erst durch die lebendige Tätigkeit des [[Ätherleib]]s ergriffen werden: 
 
<div style="margin-left:20px">
"Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im
ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt
sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes." {{Lit|{{G|170|72}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so
zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib
losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine
Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist
das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von
sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen
reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke
kann nur im Ätherleibe gefaßt werden." {{Lit|{{G|176|116}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas
Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der [[Initiation]], daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet
oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende
aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht
hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein
viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt
in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen
Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl
gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit
geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen
wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis
zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin
äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation
nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres
Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben,
verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen." {{Lit|{{G|170|72f}}}}
</div>
 
== Der Ursprung der Wahrheit auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] ==


* {{WikipediaDE|Gott}}
Wahrheit, [[Schönheit]] und [[Güte]] sind die drei großen [[Tugend]]en des [[Eingeweihter|Eingeweihten]], der in dieser Beziehung nur den anderen Menschen beispielgebend voranschreitet, damit sie sich diese Tugenden auch einmal im vollen Umfang erwerben. Die Anlage zu diesen Tugenden haben wir bereits in der Vergangenheit zu suchen, allerdings sind sie sehr unterschiedlichen Alters. Da die Wahrheit im [[Ätherleib]] lebt, müssen wir ihren Ursprung dort suchen, wo der Ätherleib des Menschen entstanden ist. Die erste Anlage des menschlichen Ätherleibs wurde auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] als Gabe der [[Geister der Weisheit]] gebildet. Damals wurde auch die Wahrheit veranlagt und sie ist damit die älteste der drei genannten Tugenden; die Schönheit geht auf das [[Alter Mond|alte Mondendasein]] zurück, wo sich zugleich die Wahrheit weiter bis zur [[Weisheit]] geläutert hat, und der Sinn für das [[Gute]] wird erst auf der [[Erde (Planet)|Erde]] entwickelt:


== Anmerkungen ==
<div style="margin-left:20px">
"So steht der Mensch zum Wahren, Schönen, Guten. Im Wahren öffnet er seinen Ätherleib, zunächst den Ätherteil des Kopfes, unmittelbar dem Kosmos. Im Schönen öffnet er seinen astralischen Leib unmittelbar dem Kosmos. In der Moralität öffnet er unmittelbar sein Ich dem Kosmos. Im Wahren - wir werden diese Dinge morgen weiter ausführen und dann auch die Gesetze des Lebens zwischen Geburt und Tod und auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt anführen -, im Wahren haben wir etwas, was am längsten schon vorbereitet ist für den Menschen. Im Schönen haben wir etwas, was verhältnismäßig kürzer vorbereitet ist; und im Moralischen haben wir etwas, was erst jetzt auf der Erde seinen Anfang nimmt. Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdenentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als die Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. Schönheit - was eine sehr innerliche Sache für den Menschen ist - nimmt ihren Anfang während der Mondenentwickelung, setzt sich während der Erdenentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung, was wir die Venusentwickelung nennen." {{Lit|{{G|170|74}}}}
</div>


<references />
Auf der [[Alte Sonne|alten Sonne]] konnte die Wahrheit vom [[Mensch]]en noch nicht [[individuell]] erfasst werden, ebensowenig auf dem [[Alter Mond|alten Mond]] die [[Weisheit]], die sich dort entwickelt hat. Das konnte erst auf der [[Erde (Planet)|Erde]] beginnen, seit der Mensch hier sein [[Ich]] entwickelt. Seit dem tritt zur [[göttlich]]en Weisheit die individuelle menschliche hinzu.


== Literatur ==
==Literatur==
#Rudolf Steiner: ''Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben'', [[GA 172]] (2002), ISBN 3-7274-1720-X {{Vorträge|172}}
* [[Wikipedia:Romano Guardini|Romano Guardini]]: ''Die letzten Dinge: Die christliche Lehre vom Tode, der Läuterung nach dem Tode, Auferstehung, Gericht und Ewigkeit'', Topos Verlag 2008 (1. Aufl. 1952), ISBN 978-3836704618
#Rudolf Steiner: ''Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft'', [[GA 181]] (1991), ISBN 3-7274-1810-9 {{Vorträge|181}}
*Konrad Dietzfelbringer: ''Apokryphe Evangelien aus Nag Hammadi'', Königsdorfer-Verlag 2004, ISBN 978-3980784733
* {{Literatur
  |Autor=[[Thomas Nagel (Philosoph)|Thomas Nagel]]
  |Titel=Der Blick von nirgendwo
  |Verlag=Suhrkamp
  |Ort=Frankfurt am Main
  |Datum=1992
  |ISBN=3-518-58116-3
  |Originaltitel=The View from Nowhere
  |Originaljahr=1986
  |Übersetzer=Michael Gebauer}}
*[[Hans Primas]]: ''Kann Chemie auf Physik reduziert werden?'' Erster Teil: ''Das Molekulare Programm'' in: [[Wikipedia:Chemie in unserer Zeit|Chemie in unserer Zeit]] 19/4 (August 1985) {{doi|10.1002/ciuz.19850190402}}
*[[Sigismund von Gleich]]: ''Die Wahrheit als Gesamtumfang aller Weltansichten'', J. Ch. Mellinger Vlg., Stuttgart 1989
*[[Herbert Witzenmann]]: ''Das Wahrheitsproblem im Lichte der Urteilslehre Rudolf Steiners'', Aufsatz in: ''Verstandesblindheit und Ideenschau'', S.16-31, Gideon Spicker Verlag, Dornach, 1. Aufl. 1985
* [[Gerhard Kienle]], [[Herbert Hensel]], Karl-Ernst Schäfer: ''Wissenschaft und Anthroposophie'', Urachhaus-Verlag, Stuttgart 1989, ISBN 978-3878386094
* Marek B. Majorek: ''Rudolf Steiners Geisteswissenschaft: Mythisches Denken oder Wissenschaft?'', 2 Bände, Verlag Narr Francke Attempto, Tübingen 2015, ISBN 978-3772085635, eBook: ASIN B0714F4N5R
*[[Peter Heusser]]: ''Anthroposophie und Wissenschaft: Eine Einführung. Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie, Genetik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Philosophie des Geistes, Anthropologie, Anthroposophie, Medizin'', Verlag am Goetheanum, Dornach 2016, ISBN 978-3723515686
*Johannes Weinzirl (Hrsg.), Peter Heusser (Hrsg.): ''Was ist Geist?'', Wittener Kolloquium für Humanismus, Medizin und Philosophie, Band 2, Königshausen u. Neumann 2014, ISBN 978-3826052224
*Peter Heusser, Johannes Weinzirl: ''[[Rudolf Steiner]]: Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute'', Schattauer Verlag 2013, ISBN 978-3794529476, eBook {{ASIN|B07N91XPKK}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert'', Verlag Siegfried Cronbach, Berlin 1900 [http://www.odysseetheater.org/jump.php?url=http://www.odysseetheater.org/ftp/anthroposophie/Rudolf_Steiner/Faksimiles/GA018_1900.pdf pdf (1900)]
*[[Rudolf Steiner]]: ''Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften'', [[GA 1]] (1987), ISBN 3-7274-0011-0; '''Tb 649''', ISBN 978-3-7274-6490-4 {{Schriften|001}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X; '''Tb 629''', ISBN 978-3-7274-6290-0 {{Schriften|002}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Wahrheit und Wissenschaft'', [[GA 3]] (1980), ISBN 3-7274-0030-7
*[[Rudolf Steiner]]: ''Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung'', [[GA 7]] (1990)
*[[Rudolf Steiner]]: ''Methodische Grundlagen der Anthroposophie'', [[GA 30]] (1989), ISBN 3-7274-0300-4 {{Vorträge|030}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins'', [[GA 60]] (1983), ISBN 3-7274-0600-3 {{Vorträge|060}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Die Tempellegende und die Goldene Legende '', [[GA 93]] (1991), ISBN 3-7274-0930-4 {{Vorträge|093}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Geisteswissenschaftliche Menschenkunde'', [[GA 107]] (1988), ISBN 3-7274-1070-1 {{Vorträge|107}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung '', [[GA 163]] (1986), ISBN 3-7274-1630-0
*[[Rudolf Steiner]]: ''Weltwesen und Ichheit'', [[GA 169]] (1998), ISBN 3-7274-1690-4 {{Vorträge|169}}
*[[Rudolf Steiner]]: ''Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte'', [[GA 170]] (1992)
*[[Rudolf Steiner]]: ''Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten'', [[GA 176]] (1982)
*[[Rudolf Steiner]]: ''Der menschliche und der kosmische Gedanke'', [[GA 151]], (1980)
*[[Rudolf Steiner]]: ''Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung'', [[GA 211]] (1986), ISBN 3-7274-2110-X {{Vorträge|211}}


{{GA}}
{{GA}}


[[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Theologie]] [[Kategorie:Religion]]
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Wahrheit}}
* [[Wahrheitskriterium]]
* [[Wahrhaftigkeit]]
 
== Weblinks ==
* {{Eisler|Wahrheit}}
* {{Kirchner|Wahrheit}}
* {{UTB-Philosophie|Brigitte Wiesen|948|Wahrheit}}
*[http://www.gerd-albrecht.de/Die%20Gnostischen%20Schriften/Das%20Philippusevangelium.htm Das Philippusevangelium] (Gerd Albrecht)
* [http://web.archive.org/web/20070912010206/http://wwwuser.gwdg.de/~rzellwe/nhs/node87.html#SECTION000190000000000000000 Das Philippusevangelium] (deutsche Übersetzung von Gerd Lüdemann und Martina Janßen)
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/philosophie2b.html Projekt Wahrheit] Website
 
== Einzelnachweis ==
 
<references/>
 
[[Kategorie:Erkenntnistheorie]] [[Kategorie:Wissenschaftstheorie]] [[Kategorie:Wahrheit|!]] [[Kategorie:Wahrheitsempfinden]] [[Kategorie:Ethisches Gut]] [[Kategorie:Ethisches Prinzip]] [[Kategorie:Ethik]] [[Kategorie:Das Gute, das Schöne und das Wahre|204]] [[Kategorie:Wertvorstellung]]
[[Kategorie:Das Wahre]]

Version vom 10. September 2020, 17:48 Uhr

Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und
die Wahrheit wird euch frei machen.

Joh 8,32 LUT

Wahrheit (von idg. *wēr- „Vertrauen, Treue, Zustimmung“; lat. veritas; griech. ἀλήθεια Aletheia, aus α privativum und λῆθος, P.P.P. von λανθάνω, „verbergen“, bedeutet also wörtlich: „das Unverborgene“) ist ein philosophischer Grundbegriff, der aber von verschiedenen Denkern sehr unterschiedlich gefasst wurde → Wahrheit.

„Die Wahrheit ist aber nichts, worüber man Meinungen haben kann. Eine Wahrheit weiß man, oder man weiß sie nicht. Es kann niemand sagen, daß die drei Winkel im Dreieck 725 Grad haben statt 180.“ (Lit.:GA 93, S. 108)

Was ist Wahrheit?

Datei:Was ist Wahrheit.jpg
Nikolai Nikolajewitsch Ge: Was ist Wahrheit – Quid est veritas? (1890); Pontius Pilatus zu Jesus (Joh 18,38 LUT).

Solange die Menschen noch von der alten Götterweisheit, die sie hellsichtig empfangen hatten, zehren konnten, und sei es auch nur durch Überlieferung, solange brauchten sie die Frage nach der Wahrheit nicht zu stellen. Paulus, als er noch Saulus war, vertraute noch ganz auf diese alte Offenbarung. Ein letzter Rest dieser - mittlerweile freilich substanzlos gewordenen - Gesinnung lebt noch in dem 1870 festgeschriebenen Dogma der Päpstlichen Unfehlbarkeit für alle ex cathedra verkündigten Glaubens- und Sittenlehren. Quelle der Wahrheit ist hier nicht der Mensch, aber ein allmächtiger Gott kann nach dem Anspruch dieses Dogmas die Unfehlbarkeit eines Menschen, nämlich des Papstes, bewirken.

Pilatus, als er den Christus verhörte, konnte sich der Wahrheit nicht mehr sicher sein:

„33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. 37 Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. 38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.“

Johannesevangelium: 18,33-38 LUT

Durch Luzifer war der Mensch in die irdisch-sinnliche Welt versetzt worden. Dadurch kam er zugleich immer mehr in den Einflussbereich Ahrimans und verfiel dem Irrtum und der Sünde.

„Dadurch, daß der Mensch verfrüht herunterversetzt worden ist in die irdische Sphäre, daß ihn seine irdischen Interessen und Begierden heruntergedrängt haben, dadurch kam es anders, wie es sonst gekommen wäre in der Mitte der atlantischen Zeit.

Dadurch haben sich hineingemischt in das, was der Mensch hat sehen und begreifen können, die ahrimanischen Geister, diejenigen Geister, die eben auch mit dem Namen mephistophelische Geister bezeichnet werden können. Dadurch verfiel der Mensch in Irrtum, verfiel in das, was man eigentlich erst die bewußte Sünde nennen könnte. Also von der Mitte der atlantischen Zeit an wirkt auf den Menschen die Schar der ahrimanischen Geister ein. Wozu hat nun diese Schar der ahrimanischen Geister sozusagen den Menschen verführt? Sie hat ihn dazu verführt, daß er das, was in seiner Umgebung ist, für stofflich, für materiell hält, daß er nicht durch dieses Stoffliche hindurchsieht auf die wahren Untergründe des Stofflichen, auf das Geistige. Würde der Mensch in jedem Stein, in jeder Pflanze und in jedem Tier das Geistige sehen, er würde niemals verfallen sein in Irrtum und damit in das Böse, sondern der Mensch würde, wenn nur die fortschreitenden Geister auf ihn gewirkt hätten, bewahrt geblieben sein vor jenen Illusionen, denen er immer verfallen muß, wenn er nur auf die Aussage der Sinneswelt baut.“ (Lit.:GA 107, S. 244ff)

Erst nachdem der Mensch gelernt hatte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, der aber eben auch durch den Einfluss Ahrimans dem Irrtum unterliegen kann, stellt sich immer wieder die Frage, die auch Pontius Pilatus stellen musste: „Was ist Wahrheit?“

"Unter den hebräischen Menschen gab es Schriftgelehrte, die aus der Schrift wußten, was da noch aufbewahrt worden war von der alten Götterweisheit her. Aus diesen Schriftgelehrten heraus entstand das Urteil, das den Christus Jesus zum Tode verurteilt hat. Solch ein Mensch wie Paulus, als er noch Saulus war, sieht also hinauf zu der Urgötterweisheit. Aus der strömt herunter bis zu den Schriftgelehrten seiner Zeit dasjenige, was diese Götterweisheit dem Menschen geworden ist. Indem hervorragende Menschen sich hingegeben haben dem Schrifttum, konnte diese Götterweisheit nur dazu führen, daß gerechte Urteile gesprochen wurden. Ein Unschuldiger, der zum Kreuzestod verurteilt wird: unmöglich, unmöglich! wenn sich alles so vollzog, wie es sich vollzogen hat bei der Verurteilung des Christus Jesus. Nur der römische Landpfleger Pontius Pilatus, der war schon instinktiv hineinverstrickt in eine ganz andere Weltanschauung, der konnte das inhaltsvolle Wort aussprechen: Was ist Wahrheit? - Für Paulus, als er noch Saulus war, war keine Möglichkeit, auch nur daran zu denken, daß das, was nach gerechtem Urteile sich vollzogen hat, nicht hätte Wahrheit sein sollen.

Zu welcher Überzeugung mußte sich denn Paulus durchringen? Zu der Überzeugung, daß bei den Menschen Irrtum sein kann dasjenige, was einmal von den Göttern als Wahrheit gekommen ist, daß die Menschen es haben zum Irrtume machen können, zu solch starkem Irrtum, daß der Schuldloseste durch den Kreuzestod geht.

Um ganz klar zu werden, machen wir uns davon eine schematische Zeichnung:

GA 211, S 118
GA 211, S 118

Ursprüngliche Götterweisheit, sie strömt herunter bis zu der Weisheit der Schriftgelehrten, die die Zeitgenossen des Mysteriums von Golgatha innerhalb des Hebräertums waren (weiß). Da kann nur die Wahrheit drinnen sein, so mußte Saulus denken. Aber man mußte anders denken. Paulus, als er noch Saulus war, sagte sich: Ist das wirklich der Christus, der Messias, der durch den Kreuzestod gegangen ist, so muß da drinnen in dieser Strömung (rot) Irrtum sein. Da muß Irrtum zugemischt sein der Wahrheit, denn der Irrtum muß es sein, der den Christus ans Kreuz gebracht hat; das heißt, die einstige Götter Wahrheit muß in den Menschen zum Irrtum geworden sein.

Selbstverständlich konnte der Saulus sich nur überzeugen durch die Tatsache, daß das so ist. Nur der Christus selbst konnte ihn überzeugen, wenn er ihm erschien, wie das durch das Ereignis von Damaskus geschehen ist. Was bedeutete das aber für den Saulus? Das bedeutete, daß eben nicht mehr die alte Götterweisheit war, sondern daß in diese das Ahrimanische hereingeströmt war.

So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des Irrtums auf der Erde ist." (Lit.: GA 211, S. 117ff)

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben

Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt,
ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.

Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin.

Ich breite die Arme aus, wie ER getan,
ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn.

Christian Morgenstern[1]

Die Antwort auf die Frage des Pilatus nimmt der Christus schon während des Letzten Abendmahls in seinen Abschiedsreden voraus, wie sie im Johannesevangelium überliefert sind, wenn er sagt: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben». Christus selbst ist die lebendige Wahrheit, zu der er auch den Weg bereitet - und dieser Weg führt durch den Christus zum Vater, d.h. in das innerste Zentrum und die eigentliche Quelle des höchsten Göttlichen. Indem sich der Mensch aus freiem Entschluss auf ganz individuelle Weise mit der Christuskraft durchdringt, im Sinne des Paulinischen Wortes «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20 LUT), lebt in ihm die Wahrheit.

Hans Holbein der Jüngere: Christus im Elend, 1519

„1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! 2 In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? 3 Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin. 4 Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr. 5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? 6 Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. 7 Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. 8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns. 9 Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? 10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke. 11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen. 12 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater. 13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn. 14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.“

Johannesevangelium: 14,1-14 LUT

Ecce homo

In dem Christus Jesus ist die Wahrheit erstmals und in vollem Umfang leibhaftig Mensch geworden. Mit vollem Recht spricht Pilatus daher, als er den gegeißelten, blutüberströmten, in den purpurnen Königsmantel gehüllten und mit der Dornenkrone gekrönten Jesus Christus dem Volk präsentiert, sein Ecce homo (griech. Ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος idoù ho ánthropos „Siehe, der Mensch“) (Joh 19,5 ELB).

Die Wahrheit erkennen heißt deshalb: Christus erkennen! Jenen Christus, dessen Wesen die reine Liebe ist, die sich frei verschenkt und darum auch Freiheit schenkt. Und wo immer ein Stück der Wahrheit erkannt wird, wird auch der Christus erkannt.

„Wenn wir von »Wahrheit« reden, meinen wir damit einen allgemeinen Sinnverhalt, nämlich die Tatsache, daß wir irgend etwas im Lichte der ewigen Wesenheit erkennen. Johannes aber sagt im Prolog: Das ist ein bloßer Zwischengedanke, der nur bedingt gilt. Im Letzten ist die Wahrheit Er, der Logos; und Erkennen bedeutet im Letzen, den Logos, Christus zu erkennen und alle Dinge in Ihm.“ (Lit.: Guardini, S. 103f)

Und weil der Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist, ist auch die Wahrheit göttlich und menschlich zugleich.

Wahrheitstheorien

Hauptartikel: Wahrheitstheorie

Im Lauf der Philosophiegeschichte wurden verschiedene Wahrheitstheorien entwickelt. Nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die wichtigsten Ansätze:

Position Wahrheitsdefinition Wahrheitsträger Wahrheitskriterium
Ontologisch-metaphysische Korrespondenztheorie „Veritas est adaequatio intellectus et rei“
Wahrheit ist die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache
Denken Sachen in der Welt
Dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und objektiver Realität Bewusstsein (orthodoxer Marxismus)
oder Aussage (moderner Marxismus)
Praxis[2]
Logisch-empiristische Bildtheorie Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts Satzstruktur Struktur der Sachverhalte
Semantische Theorie der Wahrheit „x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p“ (Für „p“ ist eine beliebige Aussage, für „x“ ein beliebiger Eigennahmen dieser Aussage einzusetzen.) Satz (der Objektsprache) Diskursuniversum (der Objektsprache)
Redundanztheorie Der Begriff der Wahrheit wird nur aus stilistischen Gründen verwendet, oder um der eigenen Behauptung Nachdruck zu verleihen. Sätze
Performative Theorie das, was man tut, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr Handlung / Sprechakt / Selbstverpflichtung eigenes Verhalten
Kohärenztheorie Widerspruchsfreiheit / Ableitungsbeziehungen einer Aussage zum System akzeptierter Aussagen Aussage Kein Widerspruch von Aussage und bereits akzeptiertem Aussage-System
Konsensustheorie diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch, der mit einem konstativen Sprechakt verbunden ist Aussage/Proposition[3] begründeter Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation[3]

Die Wahrheit ist ein freies schöpferisches Erzeugnis des Menschen

„Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Johannes-Evangelium: 8,31-32 LUT

Rudolf Steiners Wahrheitsbegriff deckt sich in ihrem wesentlichen Kern mit keiner der genannten Wahrheitstheorien, sondern ist auf die schöpferische Freiheit des individuellen Menschen gegründet.

Für Fichte, an den Rudolf Steiner in seiner Dissertation anknüpft, muss die Wahrheit „thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigne Kraftanwendung“[4] und besteht letztlich darin, mit sich selbst übereinstimmend zu denken.

„Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit andern, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das leztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bey allen denen gewiß seyn, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins, und eben dasselbe. Wie andre denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muß von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andre denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andre. – Mit denen übereinzustimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?“

Johann Gottlieb Fichte: Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit[5]

Wahrheit ist nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas frei und individuell durch das Ich zu Schaffendes - diesen Standpunkt hat auch Rudolf Steiner in seinem philosophischen Grundlagenwerk «Wahrheit und Wissenschaft» (1892) vertreten:

„Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.“ (Lit.:GA 3, S. 11f)

Rudolf Steiner sieht sich damit im Einklang mit Goethe:

„Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr, dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was dem einen so, dem andern anders erscheint. Für denjenigen, der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, dass die Natur ihren reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann. Dem einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem individuellen Kleide. Sie passt sich der Eigenart seiner Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten, dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigen, intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste seiner Persönlichkeit. Es gibt auch allgemeingültige Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu geben. Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goethes Meinung.“ (Lit.:GA 6, S. 65f)

Die „eine einzige Wahrheit“ kann sich nur auf das Vergangene, Gewordene, Tote beziehen - und versagt gegenüber dem Lebendigen.

„Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt, das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren. Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen. Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen, sondern nur in dem Begriff selber leben.“ (Lit.:GA 163, S. 88)

Ganz deutlich betonte Rudolf Steiner diesen schöpferischen Charakter des Erkennens auch in dem Ausblick, mit dem seine 1900 veröffentlichen „Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert“ ausklingen, die später zu „Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt“ (GA 18) erweitert wurden:

„Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.“ (Lit.: Rudolf Steiner: Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1900, S. 188)

Schon in den «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften» hatte Rudolf Steiner geschrieben, dass der Mensch zwangsläufig einen offenbaren oder verhüllten Anthropomorphismus in seine Erkenntnistätigkeit hineinträgt, ja, dass dadurch, wenn es in richtiger Weise geschieht, überhaupt erst Erkenntnis möglich wird. Er entfernt sich dadurch keineswegs von der Wirklichkeit, die grundsätzlich nur in einem Subjekt und Objekt übergreifenden Prozess zu erreichen ist:

„Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne, weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie machen kann.[6] Von einer andern als einer subjektiven menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen, was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern, der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äußeren Erscheinungen deutet.

Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält, oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab, und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht.“ (Lit.:GA 335ff, S. 335)

Hier macht Steiner auch deutlich, dass die verschiedenen Perspektiven, durch die sich die Wahrheit jeweils in ganz individueller Form zeigt, durch die Verschiedenheit der Verstandeswelten bedingt ist. Der Verstand zerschneidet gleichsam die Wiklichkeit auf ganz individuelle Weise in Begriffe. Die Vernunft fügt sie (im Idealfall) wieder zu den der Sache angemessenen Ideen zusammen:

„Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinander zu halten; und die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, dass der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist ersichtlich, dass die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern, dass ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, dass meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen sind.

Zeichnung aus GA 1, S. 173
Zeichnung aus GA 1, S. 173

Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt (Figur 1). Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3.

Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen haben.“ (Lit.:GA 1, S. 172f)

In seinen «Goethe-Studien» schreibt Steiner:

„Was aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich beobachtend und denkend der Außenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind uns nur so lange fremd, solange wir sie bloß beobachten. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt gehört als ein Glied zum Weltprozeß wie jeder andere Vorgang.

Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge. Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der tiefste Gehalt der Welt.“ (Lit.:GA 30, S. 203f)

Weiter heißt es:

„Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluß von Beobachtung und Denken zustande. Weder durch einseitiges Beobachten noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Wer ausschließlich die Erfahrung anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist». «Alles Faktische ist schon Theorie» (Sprüche in Prosa), das heißt, es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Gesetzliches, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen laßt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt enthält, oder Verstandes-Hypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker wie auch der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges wie auch die Hypothesen über ein solches ab und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht.“ (Lit.:GA 30, S. 204f)

Wahrheitssinn

Jeder Mensch verfügt über einen Wahrheitssinn, mit dem er die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse auffassen und mit unbefangener Logik auch folgerichtig verstehen und prüfen kann.

„Jede Seele ist in sich selber veranlagt, wenn sie sich auch noch nicht dem gekennzeichneten einsamen Ringen hingegeben hat, durch eine unbefangene Logik und durch einen gesunden Wahrheitssinn in sich aufzunehmen, was von der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird. Wenn auch ganz gewiß zugegeben werden muß, daß im weitesten Umkreis, in dem heute dieses oder jenes von der Geisteswissenschaft getrieben wird, bei der Aufnahme der Mitteilungen der Geistesforschung nicht überall dieser gesunde Wahrheitssinn und diese gesunde Logik herrschen, so ist das ein Mangel einer jeden Geistesbewegung. Im Prinzip ist es aber durchaus richtig, was gesagt ist. Ja, im Prinzip sollte sogar beachtet werden, daß es zu Irrtümern über Irrtümern führen muß, wenn leichten Herzens und mit einem blinden Glauben das entgegengenommen wird, was so oft heute als Geisteswissenschaft an die Menschheit herangebracht wird. Wer wirklich auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, fühlt sich in strenger Art verpflichtet, logisch und vernunftgemäß das mitzuteilen, was er zu sagen hat, so daß es wirklich von einem gesunden Wahrheitssinn und von aller Logik geprüft werden kann.“ (Lit.:GA 60, S. 18f)

Subjekt und Objekt

Johann Wolfgang Goethe
Vermächtnis

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn,

Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendige
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von alters her, im stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf. [7]

Tatsächlich lässt sich der Begriff der Wahrheit nur im Subjekt und Objekt übergreifenden, individuellen Bezug auf die Wirklichkeit sinnvoll formulieren, womit aber nicht notwendigerweise ein willkürlicher Relativismus begründet wird. Vielmehr geht es darum, den subjektiven Standpunkt, von dem aus man die objektive Welt betrachtet, ganz bewusst in die Wahrheitsfindung miteinzubeziehen. Das betonte auch der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel in seinem Buch «Der Blick von nirgendwo»:

„Wie ist die subjektive Perspektive einer einzelnen und besonderen Person in der Welt mit einer objektiven Auffassung von ebendieser Welt zu vermitteln, welche die Person und ihren Srnndpunkt einschließt? Vor dieses Problem sieht jedes Wesen sich gestellt, das den Impetus und das Vermögen besitzt, seine je eigene Perspektive zu transzendieren und das Weltgeschehen als ein Ganzes zu begreifen...

Die Schwierigkeit einer Vermittlung der beiden Standpunkte stellt sich im konkreten Leben wie im Denken. Sie erweist sich als die Schlüsselfrage für die Moral, die Erkenntnis, die Freiheit, die Subjektivität und die Beziehung des Psychischen zur materiellen Welt.“ (Lit.: Nagel, S. 11)

Die Problematik, dass sich das beobachtete Objekt nicht von den subjektiven Voraussetzungen der Beobachtung trennen lässt, drängte sich insbesondere in der modernen Quantenphysik auf. Der Quantenchemiker Hans Primas schreibt dazu:

„In der von René Descartes (1596 - 1650) begründeten Philosophie zerlegt das Subjekt die Welt in einfache Sachverhalte und betrachtet die objektive Welt einfach als Summe dieser elementaren Sachverhalte. Dagegen steht in der Quantenmechanik so etwas wie ein «Ding an sich» nicht mehr zur Diskussion. Ein Subjekt ist ein Subjekt, weil es in Relation zu einem Objekt steht. Ein Objekt ist ein Objekt, weil es in Relation zu einem Subjekt steht. Das bisher übliche Kompartimentalisierungsdenken muß aufgegeben werden. Die Quantenmechanik beschreibt die materielle Welt primär als ein unteilbares Ganzes; das Heraustrennen einzelner Objekte bedarf einer Rechtfertigung, welche prinzipiell außerhalb der Prinzipien der Quantenmechanik liegt.

In jeder ganzheitlichen Theorie kann man über ein Phänomen in Klarheit und Deutlichkeit nur sprechen, wenn man zugleich den Kontext angibt, von dem aus es bestimmt ist. Isolierte «Fakten» beweisen wenig, sie erlangen ihren Beweiswert erst durch die Angabe des Kontexts, in dem sie beobachtet wurden. Jeder Kontext hat seine implizierten Vorgaben, die wir als Bezugspunkte zur Beschreibung der Natur auswahlen. Entscheidet man sich für andere Vorgaben, so wählt man einen anderen Kontext mit anderer Perspektive, so daß die Natur anders gesehen wird.“ (Lit.: Primas, S. 114f.)

Ähnlich dachte schon Johann Wolfgang von Goethe:

"In monumentaler Weise hat Goethe den Gesichtspunkt der höchsten Erkenntnis in den Worten angedeutet:

«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»[8]

Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige.

Das Verständnis für die Aufhebung des Individuellen, des einzelnen Ich zum All-Ich in der Persönlichkeit betrachten tiefere Naturen als das im Innern des Menschen sich offenbarende Geheimnis, als das Ur-Mysterium des Lebens. Auch dafür hat Goethe einen treffenden Ausspruch gefunden: «Und so lang du das nicht hast,dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.»

Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern ein reeller Teil des Weltprozesses ist das, was sich im menschlichen Innenleben abspielt. Die Welt wäre nicht, was sie ist, wenn sich das zu ihr gehörige Glied in der menschlichen Seele nicht abspielte. Und nennt man das höchste, das dem Menschen erreichbar ist, das Göttliche, dann muß man sagen, daß dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist, um bildlich im Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern daß dieses Göttliche im Menschen erweckt wird. Dafür hat Angelus Silesius die rechten Worte gefunden: «Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.» «Gott mag nicht ohne mich ein einzig's Würmlein machen: erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks zerkrachen.» Eine solche Behauptung kann nur der machen, welcher voraussetzt, daß im Menschen etwas zum Vorschein kommt, ohne welches ein äußeres Wesen nicht existieren kann. Wäre alles, was zum «Würmlein» gehört, auch ohne den Menschen da, dann könnte man unmöglich davon sprechen, daß es «zerkrachen» müßte, wenn der Mensch es nicht erhielte.

Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes." (Lit.: GA 7, S. 33f)

Oder wie es Johannes Scottus Eriugena mit dem Hinweis auf Dionysius Areopagita ausdrückt:

„Denn die Gedanken der Dinge sind wahrhaft die Dinge selbst, wie der heilige Dionysius sagt: „die Erkenntnis des Seienden ist das Seiende selbst;“ aber ihre uranfänglichen Ursachen und Gründe werden durch Denktätigkeit, nicht durch die Dinge selbst zur Vereinigung geführt.“

Johannes Scottus Eriugena: Über die Einteilung der Natur[9]

Die Subjekt-Objekt-Spaltung, ohne die unser Ich-Bewusstsein nicht möglich wäre, durch die sich aber die Wahrheit zunächst unter dem Schleier der Objekte verhüllt, wird durch das Ich auf jeweils individuelle Weise hervorgerufen und kann auch nur durch das individuelle Ich wieder enthüllt werden. Indem im Erkenntnisakt die Wahrheit aufleuchtet, wird die durch unser Ich-Bewusstsein aufgerissene Kluft zwischen Ich und Welt wieder überwunden.

Mit dem an Sinne gebundenen Verstand stehen wir den Dingen gegenüber, wir sind von ihnen getrennt. Wir sehen sie nur von außen und sie bleiben uns dadurch letztlich fremd. So ist es nicht in der wahren Erkenntnis, wie auch die Gnostiker betonen. Hier ist die Trennung aufgehoben. Wir werden selbst, was wir erkennen - und darum ist diese Subjekt und Objekt übergreifende Erkenntnis zugleich immer auch wahre Selbsterkenntnis. Im apokryphen valentinianischen Philippusevangelium heißt es entsprechend:

„Niemand kann etwas Unvergängliches wahrnehmen, außer er wird selbst unvergänglich.

Es ist mit der Wahrheit nicht so wie auf der Welt, wo der Mensch die Sonne sieht, ohne selbst Sonne zu sein, wo er den Himmel sieht und die Erde und alles Übrige, ohne selbst Himmel, Erde und dergleichen zu sein. Sondern im Reich der Wahrheit siehst du etwas von ihr und wirst selbst zu ihr. Du siehst den Geist und wirst selbst zu Geist. Du siehst Christus: du wirst Christus. Du siehst den Vater: du wirst zum Vater. Hier auf dieser Welt also siehst du alle Dinge, siehst aber dich selbst nicht. In der anderen Welt jedoch siehst du dich selbst. Denn was du dort siehst, das wirst du selbst.“

Philippusevangelium: Spruch 44 [10]

Oder wie es der österreichische Arbeiterdichter Alfons Petzold poetisch ausdrückte:

ICH BIN DIE WELT

Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.

Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.

Alfons Petzold: Pfad aus der Dämmerung, Wien 1947

Die lebendige Wahrheit lebt im Ätherleib

Mit dem an das Werkzeug des physischen Gehirns gebundenen Verstandesdenken lassen sich nur tote Wahrheiten erfassen, die sich auf das bereits Gewordene beziehen, das bereits mehr oder weniger fertig in der Welt vorhanden ist. Zwar lassen sich auf diese Weise mannigfaltigste gesetzmäßige Beziehungen zwischen den einzelnen Erscheinungen der gewordenen Welt erhellen und in logisch zusammenhängender Weise darstellen, was durchaus zur Erkenntnis der physischen Welt notwendig ist, doch bleibt die Erkenntnis dennoch unvollständig, solange das heute fertig Gewordene nicht in seinem ursprünglichen Werden, aus dem es einst hervorgegangen ist, erfasst wird. Zwar lassen sich mit dem Verstandesdenken auch Veränderungen des bereits Gewordenen, das durchaus nicht starr und unveränderlich gedacht werden muss, beschreiben, in dem sie auf das gesetzmäßige Zusammenwirken einzelner Teilelemente des Gewordenen bezogen werden, doch ist damit das eigentliche lebendige Werden noch nicht erfasst. Man bleibt immer noch bei der bloßen Kombination fertiger toter Elemente stehen. Wahres Werden ist erst dort gegeben, wo etwas völlig Neues, zuvor noch nicht Vorhandenes und auch nicht aus bereits Vorhandenem Ableitbares gleichsam aus dem Nichts entsteht. Solange das lebendige Werden nicht begriffen wird, bleibt auch das Gewordene seinem eigentlichen Ursprung nach unverständlich, so wie der Leichnam unverständlich bleibt, solange er nicht als das Ergebnis eines ehemals Lebendigen erkannt wird. Die volle Wahrheit, die das lebendige Werden mit umfasst, kann erst durch die lebendige Tätigkeit des Ätherleibs ergriffen werden:

"Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes." (Lit.: GA 170, S. 72)

"Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke kann nur im Ätherleibe gefaßt werden." (Lit.: GA 176, S. 116)

"Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der Initiation, daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben, verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen." (Lit.: GA 170, S. 72f)

Der Ursprung der Wahrheit auf der alten Sonne

Wahrheit, Schönheit und Güte sind die drei großen Tugenden des Eingeweihten, der in dieser Beziehung nur den anderen Menschen beispielgebend voranschreitet, damit sie sich diese Tugenden auch einmal im vollen Umfang erwerben. Die Anlage zu diesen Tugenden haben wir bereits in der Vergangenheit zu suchen, allerdings sind sie sehr unterschiedlichen Alters. Da die Wahrheit im Ätherleib lebt, müssen wir ihren Ursprung dort suchen, wo der Ätherleib des Menschen entstanden ist. Die erste Anlage des menschlichen Ätherleibs wurde auf der alten Sonne als Gabe der Geister der Weisheit gebildet. Damals wurde auch die Wahrheit veranlagt und sie ist damit die älteste der drei genannten Tugenden; die Schönheit geht auf das alte Mondendasein zurück, wo sich zugleich die Wahrheit weiter bis zur Weisheit geläutert hat, und der Sinn für das Gute wird erst auf der Erde entwickelt:

"So steht der Mensch zum Wahren, Schönen, Guten. Im Wahren öffnet er seinen Ätherleib, zunächst den Ätherteil des Kopfes, unmittelbar dem Kosmos. Im Schönen öffnet er seinen astralischen Leib unmittelbar dem Kosmos. In der Moralität öffnet er unmittelbar sein Ich dem Kosmos. Im Wahren - wir werden diese Dinge morgen weiter ausführen und dann auch die Gesetze des Lebens zwischen Geburt und Tod und auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt anführen -, im Wahren haben wir etwas, was am längsten schon vorbereitet ist für den Menschen. Im Schönen haben wir etwas, was verhältnismäßig kürzer vorbereitet ist; und im Moralischen haben wir etwas, was erst jetzt auf der Erde seinen Anfang nimmt. Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdenentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als die Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. Schönheit - was eine sehr innerliche Sache für den Menschen ist - nimmt ihren Anfang während der Mondenentwickelung, setzt sich während der Erdenentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung, was wir die Venusentwickelung nennen." (Lit.: GA 170, S. 74)

Auf der alten Sonne konnte die Wahrheit vom Menschen noch nicht individuell erfasst werden, ebensowenig auf dem alten Mond die Weisheit, die sich dort entwickelt hat. Das konnte erst auf der Erde beginnen, seit der Mensch hier sein Ich entwickelt. Seit dem tritt zur göttlichen Weisheit die individuelle menschliche hinzu.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweis

  1. Christian Morgenstern: Wir fanden einen Pfad, Piper, München 1914, S. 52
  2. Artikel „Wahrheit“. In: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 11. Aufl., Leipzig 1975.
  3. 3,0 3,1 Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Helmut Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Neske, Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 249: „Nur Aussagen können wahr oder falsch sein.“
  4. Johann Gottlieb Fichte: Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit. In: Johann Gottlieb Fichte: Werke. Bd. 8, S. 351
  5. Johann Gottlieb Fichte: Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit
  6. Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne. Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten. Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser «das subjektive Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht, und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum einigen Wesen der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit. Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff. Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. Vorländer im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung «mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite erkläre. Vorländer hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist . . . Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie sie in bezug auf uns erscheinen. Diese Ansicht läßt Goethe nur als ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen.» Dazu sagt Vorländer: «Diese (Worte Goethes) wollen weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll suchen, <was ist und nicht was behagt>. Wer, wie Steiner, die letztere allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B. den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind. Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht, in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen Weise mißverstehen kann wie Vorländer, der mag es sich ersparen, andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz richtig lesen zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen Weltanschauung deuten, kann jedenfalls Vorländer nicht.
  7. Goethe: Gedichte - Ausgabe letzter Hand 1827, Goethe-BA Bd. 1, 541 [1]
  8. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, 4. Band, 2. Heft (1823). In: Zeno.org.
  9. Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 133f [2]
  10. Dietzfelbringer, S. 107