Wahrheit

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Nikolai Nikolajewitsch Ge: Was ist Wahrheit (1890); Pontius Pilatus zu Jesus (Joh 18,38 EU).

Wahrheit (gr. ἀλήθεια Aletheia, aus α privativum und λῆθος, P.P.P. von λανθάνω, verbergen, bedeutet also wörtlich: das Unverborgene, lateinisch veritas) ist ein philosophischer Grundbegriff, der aber von verschiedenen Denkern sehr unterschiedlich gefasst wurde → Wahrheit. Tatsächlich lässt sich der Begriff der Wahrheit nur im Subjekt und Objekt übergreifenden, individuellen Bezug auf die Wirklichkeit sinnvoll formulieren, womit aber keineswegs ein willkürlicher Relativismus begründet wird:

"In monumentaler Weise hat Goethe den Gesichtspunkt der höchsten Erkenntnis in den Worten angedeutet:

«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige." (Lit.: GA 007, S. 33f)

Die Subjekt-Objekt-Spaltung, ohne die unser Ich-Bewusstsein nicht möglich wäre, durch die sich aber die Wahrheit zunächst unter dem Schleier der Objekte verhüllt, wird durch das Ich auf jeweils individuelle Weise hervorgerufen und kann auch nur durch das individuelle Ich wieder enthüllt werden. Indem im Erkenntnisakt die Wahrheit aufleuchtet, wird die durch unser Ich-Bewusstsein aufgerissene Kluft zwischen Ich und Welt wieder überwunden.

Was ist Wahrheit?

„33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir's andere über mich gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. 37 Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. 38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.“

Johannes-Evangelium: 18,33-38 LUT

Die Wahrheit als freies schöpferisches Erzeugnis des Menschen

Wahrheit ist nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas individuell durch das Ich zu Schaffendes - diesen Standpunkt hat Rudolf Steiner in seinem philosophischen Grundlagenwerk «Wahrheit und Wissenschaft» vertreten:

"Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums." (Lit.: GA 003, S. 11f)

"Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt, das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren. Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen. Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen, sondern nur in dem Begriff selber leben." (Lit.: GA 163, S. 88)

Die lebendige Wahrheit lebt im Ätherleib

Mit dem an das Werkzeug des physischen Gehirns gebundenen Verstandesdenken lassen sich nur tote Wahrheiten erfassen, die sich auf das bereits Gewordene beziehen, das bereits mehr oder weniger fertig in der Welt vorhanden ist. Zwar lassen sich auf diese Weise mannigfaltigste gesetzmäßige Beziehungen zwischen den einzelnen Erscheinungen der gewordenen Welt erhellen und in logisch zusammenhängender Weise darstellen, was durchaus zur Erkenntnis der physischen Welt notwendig ist, doch bleibt die Erkenntnis dennoch unvollständig, solange das heute fertig Gewordene nicht in seinem ursprünglichen Werden, aus dem es einst hervorgegangen ist, erfasst wird. Zwar lassen sich mit dem Verstandesdenken auch Veränderungen des bereits Gewordenen, das durchaus nicht starr und unveränderlich gedacht werden muss, beschreiben, in dem sie auf das gesetzmäßige Zusammenwirken einzelner Teilelemente des Gewordenen bezogen werden, doch ist damit das eigentliche lebendige Werden noch nicht erfasst. Man bleibt immer noch bei der bloßen Kombination fertiger toter Elemente stehen. Wahres Werden ist erst dort gegeben, wo etwas völlig Neues, zuvor noch nicht Vorhandenes und auch nicht aus bereits Vorhandenem Ableitbares gleichsam aus dem Nichts entsteht. Solange das lebendige Werden nicht begriffen wird, bleibt auch das Gewordene seinem eigentlichen Ursprung nach unverständlich, so wie der Leichnam unverständlich bleibt, solange er nicht als das Ergebnis eines ehemals Lebendigen erkannt wird. Die volle Wahrheit, die das lebendige Werden mit umfasst, kann erst durch die lebendige Tätigkeit des Ätherleibs ergriffen werden:

"Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes." (Lit.: GA 170, S. 72)

"Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke kann nur im Ätherleibe gefaßt werden." (Lit.: GA 176, S. 116)

"Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der Initiation, daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben, verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen." (Lit.: GA 170, S. 72f)

Der Ursprung der Wahrheit auf der alten Sonne

Wahrheit, Schönheit und Güte sind die drei großen Tugenden des Eingeweihten, der in dieser Beziehung nur den anderen Menschen beispielgebend voranschreitet, damit sie sich diese Tugenden auch einmal im vollen Umfang erwerben. Die Anlage zu diesen Tugenden haben wir bereits in der Vergangenheit zu suchen, allerdings sind sie sehr unterschiedlichen Alters. Da die Wahrheit im Ätherleib lebt, müssen wir ihren Ursprung dort suchen, wo der Ätherleib des Menschen entstanden ist. Die erste Anlage des menschlichen Ätherleibs wurde auf der alten Sonne als Gabe der Geister der Weisheit gebildet. Damals wurde auch die Wahrheit veranlagt und sie ist damit die älteste der drei genannten Tugenden; die Schönheit geht auf das alte Mondendasein zurück, wo sich zugleich die Wahrheit weiter bis zur Weisheit geläutert hat, und der Sinn für das Gute wird erst auf der Erde entwickelt:

"So steht der Mensch zum Wahren, Schönen, Guten. Im Wahren öffnet er seinen Ätherleib, zunächst den Ätherteil des Kopfes, unmittelbar dem Kosmos. Im Schönen öffnet er seinen astralischen Leib unmittelbar dem Kosmos. In der Moralität öffnet er unmittelbar sein Ich dem Kosmos. Im Wahren - wir werden diese Dinge morgen weiter ausführen und dann auch die Gesetze des Lebens zwischen Geburt und Tod und auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt anführen -, im Wahren haben wir etwas, was am längsten schon vorbereitet ist für den Menschen. Im Schönen haben wir etwas, was verhältnismäßig kürzer vorbereitet ist; und im Moralischen haben wir etwas, was erst jetzt auf der Erde seinen Anfang nimmt. Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdenentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als die Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. Schönheit - was eine sehr innerliche Sache für den Menschen ist - nimmt ihren Anfang während der Mondenentwickelung, setzt sich während der Erdenentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung, was wir die Venusentwickelung nennen." (Lit.: GA 170, S. 74)

Auf der alten Sonne konnte die Wahrheit vom Menschen noch nicht individuell erfasst werden, ebensowenig auf dem alten Mond die Weisheit, die sich dort entwickelt hat. Das konnte erst auf der Erde beginnen, seit der Mensch hier sein Ich entwickelt. Seit dem tritt zur göttlichen Weisheit die individuelle menschliche hinzu.

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Wahrheit und Wissenschaft, GA 3 (1980), ISBN 3-7274-0030-7
  2. Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, GA 7 (1990)
  3. Rudolf Steiner: Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung , GA 163 (1986), ISBN 3-7274-1630-0
  4. Rudolf Steiner: Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte, GA 170 (1992)
  5. Rudolf Steiner: Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten, GA 176 (1982)
  6. Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke, GA 151, (1980)
  7. Sigismund von Gleich: Die Wahrheit als Gesamtumfang aller Weltansichten, J. Ch. Mellinger Vlg., Stuttgart 1989
  8. Herbert Witzenmann: Das Wahrheitsproblem im Lichte der Urteilslehre Rudolf Steiners, Aufsatz in: Verstandesblindheit und Ideenschau, S.16-31, Gideon Spicker Verlag, Dornach, 1. Aufl. 1985
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Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
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