Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459: Unterschied zwischen den Versionen

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Als Christian Rosenkreutz am zweiten Tag seine Zelle verläßt und in den Wald kommt, bemerkt er an einem Baum ein Täfelchen, das ihm ''vier Wege'' zum Ziel zur Wahl stellt, von denen aber nur drei übrigbleiben, denn den vierten kann kein Sterblicher wandeln. Durch die [[Imagination]] einer schneeweißen [[Taube]], mit der er sein Brot teilt, und eines schwarzen [[Rabe]]n, der ihr das Brot wieder entreissen will, wird er, indem er unbedacht dem Raben nacheilt, auf den zweiten, den langsamen, Weg mehr "geschoben", als dass er ihn bewusst ergreift<ref name="Vier Wege">"Der Alchimist strebt nach einem Naturwissen, das für ihn Grundlage wahrhaftiger Menschenkenntnis werden soll. Den Weg zu einem solchen Wissen muß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» suchen. Doch nicht ein solcher Weg, sondern mehrere werden ihm gezeigt. Der erste führt in ein Gebiet, in welchem die in der Sinneswahrnehmung gewonnenen verstandesmäßigen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins in den Gang der übersinnlichen Erfahrung einwirken, so daß durch das Zusammenwirken der beiden Erfahrungskreise die Einsicht in die Wirklichkeit ertötet wird. Der zweite stellt in Aussicht, daß der Seele die Geduld verloren gehen kann, wenn sie nach geistigen Offenbarungen sich langen Wartezeiten unterwerfen muß, um stets ausreifen zu lassen, was zunächst nur als unverstandene Offenbarung hingenommen werden darf. Der dritte fordert Menschen, welche durch ihre bereits unbewußt erlangte Entwickelungsreife in kurzer Zeit schauen dürfen, was andere in langem Ringen erwerben müssen. Der vierte bringt den Menschen zur Begegnung mit all den Kräften, die aus der übersinnlichen Welt heraus sein Bewußtsein umnebeln und verängstigen, wenn dieses sich der Sinneserfahrung entreißen will. - Welcher Weg für die eine oder die andere Menschenseele zu nehmen ist, das hängt ab von der Verfassung, in welche sie durch die Erfahrungen des gewöhnlichen Bewußtseins gebracht ist, bevor sie die geistige Wanderung antritt. «Wählen» im gewöhnlichen Sinne kann sie nicht, denn ihre Wahl würde aus dem sinnlichen Bewußtsein hervorgehen, dem eine Entscheidung in übersinnlichen Dingen nicht zusteht. Die Unmöglichkeit einer solchen Wahl sieht der Wanderer nach der «Chymischen Hochzeit» ein. Er weiß aber auch, daß seine Seele für ein Verhalten in einer übersinnlichen Welt genügend erstarkt ist, um zum Rechten veranlaßt zu werden, wenn eine solche Veranlassung aus der geistigen Welt selbst kommt. Die Imagination seiner Befreiung «aus dem Turm» gibt ihm dieses Wissen. Die ''Imagination des «schwarzen Raben»'', welcher der «weißen Taube» die ihr geschenkte Speise entreißt, ruft in der Seele des Wanderers ein gewisses Gefühl hervor; und dieses aus übersinnlichem, imaginativem Wahrnehmen erzeugte Gefühl führt auf den Weg, auf den die Wahl des gewöhnlichen Bewußtseins nicht hätte leiten dürfen." {{Lit|GA 35 S 350f}}</ref>. Nach einiger Zeit, gerade noch bei Tageslicht, erreicht er eine Pforte, ein überaus schönes, königliches Portal, über der er die Worte lesen kann: "Weichet weit von hier, ihr Ungeweihten." Christian Rosenkreutz tritt ein und wird von dem Torhüter im himmelblauen Kleid freundlich empfangen. Nachdem ihm Christian Rosenkreutz sein Fläschchen Wasser als Gegenleistung übergeben hat, erhält er von ihm ein goldenes Zeichen, auf dem die zwei Buchstaben SC<ref name="SC">Sanctitate Constantia; Sponsus Carus; Spes Caritas; Signum Crucis = Beständigkeit in Heiligkeit; geliebter Bräutigam; Hoffnung, Liebe; Zeichen des Kreuzes.</ref> zu lesen sind und außerdem ein versiegeltes Brieflein für den zweiten Hüter. Lange belehrt in der Hüter und ist es mittlerweile schon tiefe Nacht, als Christian Rosenkreutz seinen Weg zum Schloss fortsetzt, der zu beiden Seiten mit Mauern eingeschlossen ist, wo auch beiderseits drei Bäume mit Laternen stehen, die von einer Jungfrau im blauen Kleid mit einer herrlichen Fackel entzündet werden. Schließlich gelangt er an die zweite Pforte, über der zu lesen ist: "Gebet und euch wird gegeben werden." Davor liegt, an eine Kette gebunden, ein grausamer Löwe<ref name="Löwe">"Die Begegnung mit dem «grausamen Löwen» bei der zweiten Pforte ist ein Glied in der Selbsterkenntnis des Geistsuchers. Der Bruder vom Rosenkreuz durchlebt sie so, daß sie als Imagination auf seine tieferen Gemütskräfte wirkt, daß ihm aber unbekannt bleibt, was sie für seine Stellung innerhalb der geistigen Welt bedeutet. Dieses ihm unbekannte Urteil fällt der «Hüter», der sich bei dem Löwen befindet, diesen beruhigt und zu dem Eintretenden gemäß dem Inhalt eines Briefes, der diesem Eintretenden auch unbekannt ist, die Worte spricht: «Nun sei mir Gott willkommen, der Mensch, den ich längst gern gesehen hätte.» Der geistige Anblick des «grausamen Löwen» ist das Ergebnis der Seelenverfassung des Bruders vom Rosenkreuz. Diese Seelenverfassung spiegelt sich in dem Bildekräfteteil der geistigen Welt und gibt die Imagination des Löwen. In dieser Spiegelung ist ein Bild des eigenen Selbstes des Beschauers gegeben. Dieser ist im Felde der geistigen Wirklichkeit ein anderes Wesen als im Gebiete des sinnenfälligen Daseins. Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Ergebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinneswelt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Geisteswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Menschwerdung. Dieses Schauen wird dem Bruder vom Rosenkreuz durch die Begegnung mit dem Löwen, dem Bilde seines eigenen Wesens vor der Menschwerdung, zuteil. - Nur um nicht Mißverständnisse hervorzurufen, mag hier angemerkt werden, daß die Daseinsform, in der sich die dem Menschen zugrunde liegende Wesenheit vor der Menschwerdung auf geistige Art erblickt, nichts zu tun hat mit der Tierheit, mit welcher der landläufige Darwinismus die Menschenart durch Abstammung verknüpft denkt. Denn die Tierform des geistigen Anblickes ist eine solche, die durch ihre Wesenheit nur der Bildekräftewelt angehören kann. Innerhalb der Sinneswelt kann sie nur als unterbewußtes Glied der Menschennatur ein Dasein haben. - Daß er mit dem Teil seiner Wesenheit, der durch den Sinnesleib in Fesseln gehalten ist, noch vor der Menschwerdung steht, das drückt sich in der Seelenstimmung aus, in der sich der Bruder vom Rosenkreuz beim Eintritte in das Schloß befindet. Was er zu erwarten hat, dem stellt er sich unbefangen gegenüber und trübt es sich nicht durch Urteile, die noch von dem an die Sinneswelt gebundenen Verstand herstammen. Solche Trübung muß er später an denjenigen bemerken, die nicht mit einer rechtmäßigen Seelenstimmung gekommen sind. Auch sie sind an dem «grausamen Löwen» vorbeigekommen und haben ihn gesehen, denn dies hängt nur davon ab, daß sie die entsprechenden Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen in ihre Seele aufgenommen haben. Aber die Wirkung dieses geistigen Anblickes konnte bei ihnen nicht stark genug sein, um sie zum Ablegen der Urteilsart zu bewegen, an die sie für die Sinneswelt gewohnt waren. Ihre Art zu urteilen erscheint dem Geistesauge des Bruders vom Rosenkreuz innerhalb der Geisteswelt als eitel Prahlerei. Sie wollen Platos Ideen sehen, Demokrits Atome zählen, geben vor, das Unsichtbare zu sehen, während sie in Wahrheit nichts sehen. An diesen Dingen zeigt sich, daß sie die inneren Seelenkräfte nicht verbinden können mit der Welt, die sie umfangen hat. Ihnen fehlt das Bewußtsein von den wahren Anforderungen, welche die Geistwelt an den Menschen stellt, der sie schauen will. Der Bruder vom Rosenkreuz kann in den folgenden Tagen seine Seelenkräfte mit der geistigen Welt deswegen verbinden, weil er sich am zweiten Tage der Wahrheit gemäß eingesteht, das alles nicht zu sehen und nicht zu können, was die andern Eindringlinge vor sich oder andern behaupten, zu sehen oder zu können. Das Erfühlen seiner Ohnmacht wird ihm später zur Macht des geistigen Erlebens. Er muß sich am Ende des zweiten Tages fesseln lassen, weil er die Fesseln der seelischen Ohnmacht gegenüber der Geisteswelt fühlen soll, bis diese Ohnmacht als solche so lange dem Lichte des Bewußtseins ausgesetzt war, als sie nötig hat, um sich selbst in Macht umzuwandeln." {{Lit|GA 35, S 355ff}}</ref>, der sich mit Gebrüll aufrichtet, aber von dem dadurch erwachten zweiten Hüter zurückgehalten wird. Christian Rosenkreutz übergibt ihm sein Brieflein und wird danach von dem zweiten Hüter mit großer Ehrfurcht behandelt. Für sein Salz als Gegengabe empfängt Christian Rosenkreutz wieder ein Zeichen, das die beiden Buchstaben SM<ref name="SM">Studio Merentis; Sponso Mittendus; Sal Mineralis; Sal Menstrualis = Zum Studium des Würdigen; dem Brätigam mitzubringen; Mineralsalz; Salz der Reinigung.</ref> trägt. Als es im Schloss zu läuten beginnt, mahnt ihn der Hüter zur Eile und schont beginnt die Jungfrau die Laternen zu löschen. Nur mit knapper Not kann Christian Rosebnkreutz die Pforte des Schlosses erreichen und sie wird so schnell zugeschlagen, dass einen Zipfel seines Rocks, der eingeklemmt worden war, zurücklassen muss. Neben dem prächtigen Portal sieht er nun zwei Säulen; auf der einen, die ein fröhliches Bild trägt, liest er: "Congratulor"<ref name="Congratulor">Ich beglückwünsche dich.</ref>. Auf der anderen stand: "Condoleo"<ref name="Condoleo">Ich leide mit dir.</ref>.
Als Christian Rosenkreutz am zweiten Tag seine Zelle verläßt und in den Wald kommt, bemerkt er an einem Baum ein Täfelchen, das ihm ''vier Wege'' zum Ziel zur Wahl stellt, von denen aber nur drei übrigbleiben, denn den vierten kann kein Sterblicher wandeln. Durch die [[Imagination]] einer schneeweißen [[Taube]], mit der er sein Brot teilt, und eines schwarzen [[Rabe]]n, der ihr das Brot wieder entreissen will, wird er, indem er unbedacht dem Raben nacheilt, auf den zweiten, den langsamen, Weg mehr "geschoben", als dass er ihn bewusst ergreift<ref name="Vier Wege">"Der Alchimist strebt nach einem Naturwissen, das für ihn Grundlage wahrhaftiger Menschenkenntnis werden soll. Den Weg zu einem solchen Wissen muß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» suchen. Doch nicht ein solcher Weg, sondern mehrere werden ihm gezeigt. Der erste führt in ein Gebiet, in welchem die in der Sinneswahrnehmung gewonnenen verstandesmäßigen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins in den Gang der übersinnlichen Erfahrung einwirken, so daß durch das Zusammenwirken der beiden Erfahrungskreise die Einsicht in die Wirklichkeit ertötet wird. Der zweite stellt in Aussicht, daß der Seele die Geduld verloren gehen kann, wenn sie nach geistigen Offenbarungen sich langen Wartezeiten unterwerfen muß, um stets ausreifen zu lassen, was zunächst nur als unverstandene Offenbarung hingenommen werden darf. Der dritte fordert Menschen, welche durch ihre bereits unbewußt erlangte Entwickelungsreife in kurzer Zeit schauen dürfen, was andere in langem Ringen erwerben müssen. Der vierte bringt den Menschen zur Begegnung mit all den Kräften, die aus der übersinnlichen Welt heraus sein Bewußtsein umnebeln und verängstigen, wenn dieses sich der Sinneserfahrung entreißen will. - Welcher Weg für die eine oder die andere Menschenseele zu nehmen ist, das hängt ab von der Verfassung, in welche sie durch die Erfahrungen des gewöhnlichen Bewußtseins gebracht ist, bevor sie die geistige Wanderung antritt. «Wählen» im gewöhnlichen Sinne kann sie nicht, denn ihre Wahl würde aus dem sinnlichen Bewußtsein hervorgehen, dem eine Entscheidung in übersinnlichen Dingen nicht zusteht. Die Unmöglichkeit einer solchen Wahl sieht der Wanderer nach der «Chymischen Hochzeit» ein. Er weiß aber auch, daß seine Seele für ein Verhalten in einer übersinnlichen Welt genügend erstarkt ist, um zum Rechten veranlaßt zu werden, wenn eine solche Veranlassung aus der geistigen Welt selbst kommt. Die Imagination seiner Befreiung «aus dem Turm» gibt ihm dieses Wissen. Die ''Imagination des «schwarzen Raben»'', welcher der «weißen Taube» die ihr geschenkte Speise entreißt, ruft in der Seele des Wanderers ein gewisses Gefühl hervor; und dieses aus übersinnlichem, imaginativem Wahrnehmen erzeugte Gefühl führt auf den Weg, auf den die Wahl des gewöhnlichen Bewußtseins nicht hätte leiten dürfen." {{Lit|GA 35 S 350f}}</ref>. Nach einiger Zeit, gerade noch bei Tageslicht, erreicht er eine Pforte, ein überaus schönes, königliches Portal, über der er die Worte lesen kann: "Weichet weit von hier, ihr Ungeweihten." Christian Rosenkreutz tritt ein und wird von dem Torhüter im himmelblauen Kleid freundlich empfangen. Nachdem ihm Christian Rosenkreutz sein Fläschchen Wasser als Gegenleistung übergeben hat, erhält er von ihm ein goldenes Zeichen, auf dem die zwei Buchstaben SC<ref name="SC">Sanctitate Constantia; Sponsus Carus; Spes Caritas; Signum Crucis = Beständigkeit in Heiligkeit; geliebter Bräutigam; Hoffnung, Liebe; Zeichen des Kreuzes.</ref> zu lesen sind und außerdem ein versiegeltes Brieflein für den zweiten Hüter. Lange belehrt in der Hüter und ist es mittlerweile schon tiefe Nacht, als Christian Rosenkreutz seinen Weg zum Schloss fortsetzt, der zu beiden Seiten mit Mauern eingeschlossen ist, wo auch beiderseits drei Bäume mit Laternen stehen, die von einer Jungfrau im blauen Kleid mit einer herrlichen Fackel entzündet werden. Schließlich gelangt er an die zweite Pforte, über der zu lesen ist: "Gebet und euch wird gegeben werden." Davor liegt, an eine Kette gebunden, ein grausamer Löwe<ref name="Löwe">"Die Begegnung mit dem «grausamen Löwen» bei der zweiten Pforte ist ein Glied in der Selbsterkenntnis des Geistsuchers. Der Bruder vom Rosenkreuz durchlebt sie so, daß sie als Imagination auf seine tieferen Gemütskräfte wirkt, daß ihm aber unbekannt bleibt, was sie für seine Stellung innerhalb der geistigen Welt bedeutet. Dieses ihm unbekannte Urteil fällt der «Hüter», der sich bei dem Löwen befindet, diesen beruhigt und zu dem Eintretenden gemäß dem Inhalt eines Briefes, der diesem Eintretenden auch unbekannt ist, die Worte spricht: «Nun sei mir Gott willkommen, der Mensch, den ich längst gern gesehen hätte.» Der geistige Anblick des «grausamen Löwen» ist das Ergebnis der Seelenverfassung des Bruders vom Rosenkreuz. Diese Seelenverfassung spiegelt sich in dem Bildekräfteteil der geistigen Welt und gibt die Imagination des Löwen. In dieser Spiegelung ist ein Bild des eigenen Selbstes des Beschauers gegeben. Dieser ist im Felde der geistigen Wirklichkeit ein anderes Wesen als im Gebiete des sinnenfälligen Daseins. Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Ergebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinneswelt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Geisteswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Menschwerdung. Dieses Schauen wird dem Bruder vom Rosenkreuz durch die Begegnung mit dem Löwen, dem Bilde seines eigenen Wesens vor der Menschwerdung, zuteil. - Nur um nicht Mißverständnisse hervorzurufen, mag hier angemerkt werden, daß die Daseinsform, in der sich die dem Menschen zugrunde liegende Wesenheit vor der Menschwerdung auf geistige Art erblickt, nichts zu tun hat mit der Tierheit, mit welcher der landläufige Darwinismus die Menschenart durch Abstammung verknüpft denkt. Denn die Tierform des geistigen Anblickes ist eine solche, die durch ihre Wesenheit nur der Bildekräftewelt angehören kann. Innerhalb der Sinneswelt kann sie nur als unterbewußtes Glied der Menschennatur ein Dasein haben. - Daß er mit dem Teil seiner Wesenheit, der durch den Sinnesleib in Fesseln gehalten ist, noch vor der Menschwerdung steht, das drückt sich in der Seelenstimmung aus, in der sich der Bruder vom Rosenkreuz beim Eintritte in das Schloß befindet. Was er zu erwarten hat, dem stellt er sich unbefangen gegenüber und trübt es sich nicht durch Urteile, die noch von dem an die Sinneswelt gebundenen Verstand herstammen. Solche Trübung muß er später an denjenigen bemerken, die nicht mit einer rechtmäßigen Seelenstimmung gekommen sind. Auch sie sind an dem «grausamen Löwen» vorbeigekommen und haben ihn gesehen, denn dies hängt nur davon ab, daß sie die entsprechenden Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen in ihre Seele aufgenommen haben. Aber die Wirkung dieses geistigen Anblickes konnte bei ihnen nicht stark genug sein, um sie zum Ablegen der Urteilsart zu bewegen, an die sie für die Sinneswelt gewohnt waren. Ihre Art zu urteilen erscheint dem Geistesauge des Bruders vom Rosenkreuz innerhalb der Geisteswelt als eitel Prahlerei. Sie wollen Platos Ideen sehen, Demokrits Atome zählen, geben vor, das Unsichtbare zu sehen, während sie in Wahrheit nichts sehen. An diesen Dingen zeigt sich, daß sie die inneren Seelenkräfte nicht verbinden können mit der Welt, die sie umfangen hat. Ihnen fehlt das Bewußtsein von den wahren Anforderungen, welche die Geistwelt an den Menschen stellt, der sie schauen will. Der Bruder vom Rosenkreuz kann in den folgenden Tagen seine Seelenkräfte mit der geistigen Welt deswegen verbinden, weil er sich am zweiten Tage der Wahrheit gemäß eingesteht, das alles nicht zu sehen und nicht zu können, was die andern Eindringlinge vor sich oder andern behaupten, zu sehen oder zu können. Das Erfühlen seiner Ohnmacht wird ihm später zur Macht des geistigen Erlebens. Er muß sich am Ende des zweiten Tages fesseln lassen, weil er die Fesseln der seelischen Ohnmacht gegenüber der Geisteswelt fühlen soll, bis diese Ohnmacht als solche so lange dem Lichte des Bewußtseins ausgesetzt war, als sie nötig hat, um sich selbst in Macht umzuwandeln." {{Lit|GA 35, S 355ff}}</ref>, der sich mit Gebrüll aufrichtet, aber von dem dadurch erwachten zweiten Hüter zurückgehalten wird. Christian Rosenkreutz übergibt ihm sein Brieflein und wird danach von dem zweiten Hüter mit großer Ehrfurcht behandelt. Für sein Salz als Gegengabe empfängt Christian Rosenkreutz wieder ein Zeichen, das die beiden Buchstaben SM<ref name="SM">Studio Merentis; Sponso Mittendus; Sal Mineralis; Sal Menstrualis = Zum Studium des Würdigen; dem Brätigam mitzubringen; Mineralsalz; Salz der Reinigung.</ref> trägt. Als es im Schloss zu läuten beginnt, mahnt ihn der Hüter zur Eile und schont beginnt die Jungfrau die Laternen zu löschen. Nur mit knapper Not kann Christian Rosebnkreutz die Pforte des Schlosses erreichen und sie wird so schnell zugeschlagen, dass einen Zipfel seines Rocks, der eingeklemmt worden war, zurücklassen muss. Neben dem prächtigen Portal sieht er nun zwei Säulen; auf der einen, die ein fröhliches Bild trägt, liest er: "Congratulor"<ref name="Congratulor">Ich beglückwünsche dich.</ref>. Auf der anderen stand: "Condoleo"<ref name="Condoleo">Ich leide mit dir.</ref>.


Am dritten Tag erreicht Christian Rosenkreutz auf seiner Wanderung einen Berggipfel, wo er wie auch die Gäste durch eine Waage geprüft werden, deren Gewichte vielfach als die 7 [[Tugend]]en gedeutet werden. [[Rudolf Steiner]] sieht in ihnen die [[Sieben Freie Künste|Sieben Freien Künste]]. Diejenigen, die für tugendhaft befunden werden, dürfen der Hochzeit beiwohnen. Sie erhalten ein Goldenes Vlies und werden der königlichen Familie vorgestellt. Voller Erwartungen einer Hochzeit beizuwohnen, wird aber die königliche Familie geköpft und ihre Teile in sieben Schiffe verladen und auf einer weit abgelegenen Insel in den Olympischen Turm gebracht, der sieben Stockwerke hat. Innerhalb dieses Turmes erleben die Gäste einen Aufstieg und jeder von ihnen nimmt an alchemistischen Operationen teil, die durch einen Greis und eine Frau geführt werden. Aus den königlichen Überresten gewinnt man dabei eine Art flüssiges Destillat, welches ein weißes Ei gebiert. Aus diesem schlüpft wiederum ein Vogel, der gemästet und geköpft wird. Die Gäste werden aufgefordert aus den Überresten zwei winzige Statuen zu formen. Diese werden solang gefüttert, bis sie die Größe eines erwachsenen Menschen erreicht haben und es stellt sich heraus, dass diese der auferstandene König und die Königin sind. Nachdem das Werk vollbracht ist, werden die Gäste durch das Königspaar in den Orden vom Goldenen Stein eingeführt und kehren zum Schloss zurück. Christian Rosenkreutz spielt dabei noch eine weitere besondere Rolle. Da er im Schloss in das Mausoleum eingedrungen war, wurde er von der dort lebenden Venus als Schlosswächter verurteilt. Die Geschichte endet schließlich wieder in der Eremitage des Christian Rosenkreutz, womit nochmals verdeutlicht wird, dass es sich bei den Schilderungen um keine äußeren Erlebnisse, sondern um innere geistige Erfahrungen handelt.
Am dritten Tag erreicht Christian Rosenkreutz auf seiner Wanderung einen Berggipfel, wo er wie auch die Gäste durch eine Waage geprüft werden, deren Gewichte vielfach als die 7 [[Tugend]]en gedeutet werden. [[Rudolf Steiner]] sieht in ihnen die [[Sieben Freie Künste|Sieben Freien Künste]]<ref name="Sieben Freie Künste">"Andreae will zeigen, wie die sieben «Wissenschaften und freien Künste», in die man im Mittelalter die innerhalb der Sinneswelt zu gewinnenden Erkenntnisse gliederte, als Vorbereitung zur Geist-Erkenntnis wirken sollen. Als diese sieben Erkenntnisglieder waren gewöhnlich angesehen: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aus der Schilderung in der «Chymischen Hochzeit» erkennt man, daß Andreae sowohl den Bruder vom Rosenkreuz und seine rechtmäßigen Genossen wie auch die unrechtmäßigen Eindringlinge ausgerüstet denkt mit dem Wissen, das aus diesen Erkenntnisgliedern zu gewinnen ist. Allein der Besitz dieses Wissens ist bei den Ankömmlingen ein verschiedenartiger. Die rechtmäßigen, vor allen der Bruder vom Rosenkreuz, dessen Erlebnisse geschildert werden, haben sich dieses Wissen so angeeignet, daß sie durch dessen Besitz in der Seele die Kraft entwik-kelt haben, das Unbekannte, das für diese «freien Künste» noch verborgen bleiben muß, aus der Geisteswelt zu empfangen. Ihre Seele ist durch diese Künste so vorbereitet, daß sie nicht nur weiß, was durch sie gewußt werden kann, sondem daß dieses Wissen ihr das Gewicht gibt, durch das sie Erfahrungen in der Geistwelt machen kann. Den unrechtmäßigen Ankömmlingen ist das Gewicht dieser Künste nicht zum Seelengewicht geworden. Sie haben in ihrer Seele nicht dasjenige, was an wahrem Weltgehalt diese «sieben freien Künste» enthalten. Am dritten Tage nimmt der Bruder vom Rosenkreuz an der Wägung der Seelen teil. Diese wird durch die Imagination einer Waage geschildert, durch welche die Seelen gewogen werden, um zu finden, ob sie sich zu ihrem eigenen Menschengewicht auch noch dasjenige hinzuerworben haben, das sieben anderen Gewichten gleichkommt. Diese sieben Gewichte sind die imaginativen Repräsentanten der «sieben freien Künste».
 
Der Bruder vom Rosenkreuz hat in seiner Seele nicht nur den Gehalt, der den sieben Gewichten gewachsen ist, sondern auch noch einen Überschuß. Dieser kommt einer andern Persönlichkeit zugute, die für sich selbst nicht genügend befunden wird, die aber durch den wahren Geistsucher vor der Ausstoßung aus der Geistwelt bewahrt wird. Durch die Anführung dieses Vorganges zeigt Andreae, wie gut er mit den Geheimnissen der geistigen Welt vertraut ist. Von all den Kräften der Seele, die sich schon in der Sinneswelt entwickeln, ist die Liebe die einzige, die unverwandelt bleiben kann beim Übergange der Seele in die Geistwelt. Den schwächeren Menschen helfen nach der Kraft, die man selbst besitzt, das kann geschehen innerhalb der Sinneswelt, und es kann sich auch in gleicher Art vollziehen mit dem Besitze, der dem Menschen im Bereich des Geistigen wird.
 
Durch die Art, wie Andreae die Vertreibung der unrechtmäßigen Eindringlinge aus der Geistwelt schildert, ist ersichtlich, daß er durch seine Schrift seinen Zeitgenossen zum Bewußtsein bringen will, wie weit entfernt von dieser Geistwelt und somit von der wahren Wirklichkeit ein Mensch sein kann, der sich zwar bekannt gemacht hat mit allerlei Schilderungen des Weges nach dieser Welt, dem aber das Bewußtsein von einer wirklichen inneren Seelen-Umwandlung fremd geblieben ist. Ein unbefangenes Lesen der «Chymischen Hochzeit» verrät als eines der Ziele ihres Verfassers, seinen Zeitgenossen zu sagen, wie verderblich für die wahre Menschheitsentwickelung diejenigen sind, welche in das Leben eingreifen mit Impulsen, die auf unrechtmäßige Art sich zu der Geistwelt in Beziehung setzen. Andreae erwartet gerade für seine Zeit rechte soziale, sittliche und andere menschliche Gemeinschaftsziele von einem rechtmäßigen Erkennen der geistigen Untergründe des Daseins. Deshalb läßt er in seiner Schilderung auf alles dasjenige ein deutliches Licht fallen, das dem Menschheitsfort-schritt dadurch schädlich wird, daß es solche Ziele aus einer unrechtmäßigen Beziehung zur Geistwelt holt." {{Lit|GA 35, S 358ff}}</ref>. Diejenigen, die für tugendhaft befunden werden, dürfen der Hochzeit beiwohnen. Sie erhalten ein Goldenes Vlies und werden der königlichen Familie vorgestellt. Voller Erwartungen einer Hochzeit beizuwohnen, wird aber die königliche Familie geköpft und ihre Teile in sieben Schiffe verladen und auf einer weit abgelegenen Insel in den Olympischen Turm gebracht, der sieben Stockwerke hat. Innerhalb dieses Turmes erleben die Gäste einen Aufstieg und jeder von ihnen nimmt an alchemistischen Operationen teil, die durch einen Greis und eine Frau geführt werden. Aus den königlichen Überresten gewinnt man dabei eine Art flüssiges Destillat, welches ein weißes Ei gebiert. Aus diesem schlüpft wiederum ein Vogel, der gemästet und geköpft wird. Die Gäste werden aufgefordert aus den Überresten zwei winzige Statuen zu formen. Diese werden solang gefüttert, bis sie die Größe eines erwachsenen Menschen erreicht haben und es stellt sich heraus, dass diese der auferstandene König und die Königin sind. Nachdem das Werk vollbracht ist, werden die Gäste durch das Königspaar in den Orden vom Goldenen Stein eingeführt und kehren zum Schloss zurück. Christian Rosenkreutz spielt dabei noch eine weitere besondere Rolle. Da er im Schloss in das Mausoleum eingedrungen war, wurde er von der dort lebenden Venus als Schlosswächter verurteilt. Die Geschichte endet schließlich wieder in der Eremitage des Christian Rosenkreutz, womit nochmals verdeutlicht wird, dass es sich bei den Schilderungen um keine äußeren Erlebnisse, sondern um innere geistige Erfahrungen handelt.


=== Geisteswissenschaftliche Erläuterungen ===
=== Geisteswissenschaftliche Erläuterungen ===

Version vom 1. Mai 2007, 21:30 Uhr

Chymische Hochzeit des Christiani Rosencreutz Anno 1459, Ausgabe 1616

Die Chymische Hochzeit des Christiani Rosencreutz Anno 1459[1] erschien 1616 in Straßburg bei Lazare Zetzner erstmals im Druck, nachdem sie zuvor schon einige Zeit als Handschrift im Umlauf war. Entstanden ist sie zwischen 1603 und 1605. Geschildert werden darin die Einweihungserlebnisse des Christian Rosenkreutz, die schließlich zur Begründung des Rosenkreuzer-Schulungswegs geführt haben, in der Form eines alchemistischen Romans.

Johann Valentin Andreae

Johann Valentin Andreae (1586-1654)

Die Chymische Hochzeit erschien zunächst anonym, doch gilt als ihr Autor Johann Valentin Andreae. Im äußeren Sinn ist das wohl richtig, doch war er nicht mehr als ein Werkzeug der geistigen Welt, denn wie Rudolf Steiner deutlichlich gemacht hat, war ihr geistiger Urheber gar keine physische Persönlichkeit:

"Aber kein Mensch, der die Biographie des Valentin Andrea kennt, wird im Zweifel darüber sein, daß der Valentin Andrea, der später ein philiströser Pastor geworden ist und salbungsvolle andere Bücher schrieb, nicht die «ChymischeHochzeit» geschrieben hat. Es ist ein bloßer Unsinn, zu glauben, daß der Valentin Andrea die «Chymische Hochzeit» geschrieben hat. Denn vergleichen Sie nur einmal die «Chymische Hochzeit» oder die «Reformation der ganzen Welt» oder die anderen Schriften von Valentinus Andrea - physisch war es schon dieselbe Persönlichkeit - mit dem schmalzig Salbungsvollen, Fettig-Öligen, was der Pastor Valentin Andrea, der nur denselben Namen trägt, in seinem späteren Leben dann geschrieben hat. Das ist doch ein höchst merkwürdiges Phänomen! Wir haben einen jungen Menschen, der überhaupt noch kaum erst die Schulzeit vollendet hat, der schreibt solche Dinge nieder wie die «Reformation der ganzen Welt», wie die «Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz», und wir müssen uns anstrengen, den inneren Sinn dieser Schriften zu ergründen. Er selber versteht gar nichts davon, denn das zeigt er später: er wird ein salbungsvoller öliger Pastor. Das ist derselbe Mensch! Und man braucht nur dieses Faktum zu nehmen, so muß man plausibel finden, was ich dazumal dargestellt habe: daß eben die «Chymische Hochzeit» nicht von einem Menschen geschrieben ist, oder nur insofern von einem Menschen geschrieben ist, nun ja - wie der stets angsterfüllte geheime Sekretär von Napoleon seine Briefe geschrieben hat. Aber Napoleon war immerhin ein Mensch, der stark mit seinen Füßen, mit seinen Beinen auf dem Boden stand, war eben eine physische Persönlichkeit. Derjenige, der die «Chymische Hochzeit» geschrieben hat, war nicht eine physische Persönlichkeit, und er hat sich dieses «Sekretärs» bedient, der eben dann später der ölige Pastor Valentin Andrea geworden ist." (Lit.: GA 232, S 143)

Inhalt

Die romanhafte Schilderung der Chymischen Hochzeit beginnt am ersten Tag damit, dass der achtzigjähriger Christian Rosenkreutz, der um 1459 in einer Eremitage am Abhang eines Berges lebte, über ein selbsterlebtes Abenteuer zu berichten beginnt, das er am Vorabend des Ostertages erlebt hat. Die ganze Erzählung erstreckt sich über sieben seelische Tagewerke und beginnt damit, dass Christian Rosenkreutz, tief in die Meditation versenkt, plötzlich einen grausamen Wind an seine Hütte heranwehen spürt, ein Zeichen dafür, dass er mit seinem Bewusstsein in die rastlos bewegte Ätherwelt eingetreten ist[2]. Da titt plötzlich ein herrliches Weib mit Flügeln voller Augen in blauem Kleid und güldenen Sternen[3] und einer Posaune in der Hand an ihn heran und überrreicht ihm einen Brief, der ihn zu einer königlichen Hochzeit lädt. Der Brief ist versiegelt und das Siegel trägt das Zeichen des Kreuzes und die Worte: "In hoc signo vinces"[4]. Auf der Posaune steht ein Name, den Christian Rosenkreutz wohl erkennt, aber nicht preisgeben darf. Die Hochzeit, so erinnert er sich plötzlich, war ihm schon sieben Jahre zuvor angekündigt worden und nach eifriger Berechnung der Planetenbahnen als richtig erschienen[1]. Das im Brief gleich zu Beginn erwähnte Bild der drei Tempel auf dem Berg bleibt ihm vorerst rätselhaft[5]. Im Traum sieht er sich noch in der selben Nacht in einen Turm versetzt, wo er und unzählige andere in Ketten gelegt der Befreiung harren. Da erscheint oben in der Öffnung des Turms ein alter eisgrauer Mann zusammen mit seiner Mutter. Auf ihr Geheiß wird sieben Mal ein Seil herabgelassen, an dem manche der Gefangenen - und schließlich beim sechsten Mal auch Christian Rosenkreutz - hochgezogen werden[6].

Als Christian Rosenkreutz am zweiten Tag seine Zelle verläßt und in den Wald kommt, bemerkt er an einem Baum ein Täfelchen, das ihm vier Wege zum Ziel zur Wahl stellt, von denen aber nur drei übrigbleiben, denn den vierten kann kein Sterblicher wandeln. Durch die Imagination einer schneeweißen Taube, mit der er sein Brot teilt, und eines schwarzen Raben, der ihr das Brot wieder entreissen will, wird er, indem er unbedacht dem Raben nacheilt, auf den zweiten, den langsamen, Weg mehr "geschoben", als dass er ihn bewusst ergreift[7]. Nach einiger Zeit, gerade noch bei Tageslicht, erreicht er eine Pforte, ein überaus schönes, königliches Portal, über der er die Worte lesen kann: "Weichet weit von hier, ihr Ungeweihten." Christian Rosenkreutz tritt ein und wird von dem Torhüter im himmelblauen Kleid freundlich empfangen. Nachdem ihm Christian Rosenkreutz sein Fläschchen Wasser als Gegenleistung übergeben hat, erhält er von ihm ein goldenes Zeichen, auf dem die zwei Buchstaben SC[8] zu lesen sind und außerdem ein versiegeltes Brieflein für den zweiten Hüter. Lange belehrt in der Hüter und ist es mittlerweile schon tiefe Nacht, als Christian Rosenkreutz seinen Weg zum Schloss fortsetzt, der zu beiden Seiten mit Mauern eingeschlossen ist, wo auch beiderseits drei Bäume mit Laternen stehen, die von einer Jungfrau im blauen Kleid mit einer herrlichen Fackel entzündet werden. Schließlich gelangt er an die zweite Pforte, über der zu lesen ist: "Gebet und euch wird gegeben werden." Davor liegt, an eine Kette gebunden, ein grausamer Löwe[9], der sich mit Gebrüll aufrichtet, aber von dem dadurch erwachten zweiten Hüter zurückgehalten wird. Christian Rosenkreutz übergibt ihm sein Brieflein und wird danach von dem zweiten Hüter mit großer Ehrfurcht behandelt. Für sein Salz als Gegengabe empfängt Christian Rosenkreutz wieder ein Zeichen, das die beiden Buchstaben SM[10] trägt. Als es im Schloss zu läuten beginnt, mahnt ihn der Hüter zur Eile und schont beginnt die Jungfrau die Laternen zu löschen. Nur mit knapper Not kann Christian Rosebnkreutz die Pforte des Schlosses erreichen und sie wird so schnell zugeschlagen, dass einen Zipfel seines Rocks, der eingeklemmt worden war, zurücklassen muss. Neben dem prächtigen Portal sieht er nun zwei Säulen; auf der einen, die ein fröhliches Bild trägt, liest er: "Congratulor"[11]. Auf der anderen stand: "Condoleo"[12].

Am dritten Tag erreicht Christian Rosenkreutz auf seiner Wanderung einen Berggipfel, wo er wie auch die Gäste durch eine Waage geprüft werden, deren Gewichte vielfach als die 7 Tugenden gedeutet werden. Rudolf Steiner sieht in ihnen die Sieben Freien Künste[13]. Diejenigen, die für tugendhaft befunden werden, dürfen der Hochzeit beiwohnen. Sie erhalten ein Goldenes Vlies und werden der königlichen Familie vorgestellt. Voller Erwartungen einer Hochzeit beizuwohnen, wird aber die königliche Familie geköpft und ihre Teile in sieben Schiffe verladen und auf einer weit abgelegenen Insel in den Olympischen Turm gebracht, der sieben Stockwerke hat. Innerhalb dieses Turmes erleben die Gäste einen Aufstieg und jeder von ihnen nimmt an alchemistischen Operationen teil, die durch einen Greis und eine Frau geführt werden. Aus den königlichen Überresten gewinnt man dabei eine Art flüssiges Destillat, welches ein weißes Ei gebiert. Aus diesem schlüpft wiederum ein Vogel, der gemästet und geköpft wird. Die Gäste werden aufgefordert aus den Überresten zwei winzige Statuen zu formen. Diese werden solang gefüttert, bis sie die Größe eines erwachsenen Menschen erreicht haben und es stellt sich heraus, dass diese der auferstandene König und die Königin sind. Nachdem das Werk vollbracht ist, werden die Gäste durch das Königspaar in den Orden vom Goldenen Stein eingeführt und kehren zum Schloss zurück. Christian Rosenkreutz spielt dabei noch eine weitere besondere Rolle. Da er im Schloss in das Mausoleum eingedrungen war, wurde er von der dort lebenden Venus als Schlosswächter verurteilt. Die Geschichte endet schließlich wieder in der Eremitage des Christian Rosenkreutz, womit nochmals verdeutlicht wird, dass es sich bei den Schilderungen um keine äußeren Erlebnisse, sondern um innere geistige Erfahrungen handelt.

Geisteswissenschaftliche Erläuterungen

  1. 1,0 1,1 "Bedeutungsvoll für ihn ist, daß er sich sagen darf, diese Verfassung in seiner Menschen-Wesenheit stehe im Einklang mit den Verhältnissen im Weltall. Er hat in «fleißiger Nachrechnung und Kalkulation» seiner «annotierten Planeten» gefunden, daß diese Verfassung bei ihm in dem Zeitpunkte eintreten darf, in dem sie nunmehr stattfindet. Wer das hier in Betracht Kommende im Sinne der Torheiten mancher «Astrologen» ansieht, der wird es mißverstehen, gleichgültig ob er sich als Gläubiger zustimmend oder als «Aufgeklärter» hohnlächelnd dazu verhält. Der Darsteller der «Chymischen Hochzeit» hat aus guten Gründen dem Titel seines Buches die Jahreszahl 1459 hinzugefügt. Er war sich bewußt, daß die Seelenverfassung des Trägers der Erlebnisse zusammenstimmen muß mit der Verfassung, bei der in einem bestimmten Zeitpunkte das Weltwerden angelangt ist, wenn innere Seelenverfassung und äußerer Weltinhalt nicht eine Disharmonie ergeben sollen. Der von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung unabhängigen Seele muß der äußere übersinnliche Weltinhalt in Harmonie begegnen, wenn durch den Zusammenklang der beiden derjenige Bewußtseinszustand entstehen soll, welcher die «Chymische Hochzeit» ausmacht. Wer glaubt, daß die Konstellation der «annotierten Planeten» eine geheimnisvolle Kraft enthält, welche den Erlebniszustand des Menschen bestimmt, der gliche demjenigen, welcher der Meinung wäre, die Zeigerstellungen seiner Uhr hätten die Kraft, ihn zu einem Ausgang zu veranlassen, den er aus seinen Lebensverhältnissen heraus zu einer bestimmten Stunde hat unternehmen müssen." (Lit.: GA 35, S 345)
  2. "In einer Zeit gehobener Seelenstimmung, am Vorabend des Osterfestes, tritt dieses erneute Erleben ein. Der Träger der Erlebnisse fühlt sich wie von Sturm umbraust. So kündigt sich ihm an, daß er eine Wirklichkeit erlebt, deren Wahrnehmung nicht durch den physischen Leib vermittelt ist. Er ist aus dem Gleichgewichtszustande gegenüber den Weltenkräften herausgehoben, in den der Mensch durch seinen physischen Leib versetzt ist. Seine Seele lebt nicht das Leben dieses physischen Leibes mit; sie fühlt sich nur verbunden mit dem (ätherischen) Bildekräfteleib, der den physischen durchsetzt. Dieser Bildekräfteleib ist aber nicht in das Gleichgewicht der Weltenkräfte eingeschaltet, sondern in die Beweglichkeit derjenigen übersinnlichen Welt, welche der physischen zunächst steht, und die von dem Menschen zuerst wahrgenommen wird, wenn er sich die Pforten des geistigen Schauens eröffnet hat. Nur in der physischen Welt erstarren die Kräfte zu festen, in Gleichgewichtszuständen sich auslebenden Formen; in der geistigen Welt herrscht fortdauernde Beweglichkeit. Das Hingenommen-Werden von dieser Beweglichkeit kommt dem Träger der Erlebnisse als die Wahrnehmung des brausenden Sturmes zum Bewußtsein." (Lit.: GA 35, S 334)
  3. "Aus dem Unbestimmten dieser Wahrnehmung löst sich heraus die Offenbarung eines Geistwesens. Diese Offenbarung geschieht durch eine bestimmt gestaltete Imagination. Das Geistwesen erscheint in blauem, sternbesetztem Kleide. Man muß von der Schilderung dieses Wesens alles fernhalten, was an symbolischen Ausdeutungen dilettantische Esoteriker gerne zur «Erklärung» herbeitragen. Man hat es zu tun mit einem nicht-sinnlichen Erlebnis, das der Erlebende durch ein Bild für sich und andere zum Ausdrucke bringt. Das blaue, sternbesetzte Kleid ist so wenig Sinnbild etwa für den blauen Nachthimmel oder ähnliches, wie die Vorstellung des Rosenstockes im gewöhnlichen Bewußtsein Sinnbild für die Abendröte ist. Beim übersinnlichen Wahrnehmen ist eine viel regere, bewußtere Betätigung der Seele vorhanden als beim sinnlichen. — In dem Falle des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» wird diese Betätigung durch den Bildekräfteleib ausgeübt, wie im Falle des physischen Sehens durch den sinnlichen Leib vermittels der Augen. Diese Tätigkeit des Bildekräfteleibes läßt sich vergleichen mit der Erregung von ausstrahlendem Licht. Solches Licht trifft auf das sich offenbarende Geistwesen. Es wird von diesem zurückgestrahlt. Der Schauende sieht also sein eigenes ausgestrahltes Licht, und hinter dessen Grenze wird er das begrenzende Wesen gewahr. Durch dieses Verhältnis des Geistwesens zu dem Geisteslicht des Bildekräfteleibes tritt das «Blau» auf; die Sterne sind die nicht rückstrahlenden, sondern von dem Wesen aufgenommenen Teile des Geisteslichtes. Das Geistwesen hat objektive Wirklichkeit; das Bild, durch das es sich offenbart, ist eine durch das Wesen bewirkte Modifikation in der Ausstrahlung des Bildekräfteleibes. " (Lit.: GA 35, S 335)
  4. In diesem Zeichen wirst du siegen. "Der Träger der Erlebnisse, die in der «Chymischen Hochzeit» geschildert sind, ist als Alchimist sich bewußt, daß er auf seinem Wege ein erstarktes Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Täuschung braucht. Nach den Lebensverhältnissen, aus denen heraus er seinen alchymistischen Pfad antritt, sucht er seine Stütze aus der christlichen Wahrheit zu gewinnen. Er weiß: was ihn mit Christus verbindet, hat schon innerhalb seines Lebens in der Sinnen weit eine zur Wahrheit führende Kraft in seiner Seele zur Entfaltung gebracht, welche der Sinnesgrundlage nicht bedarf, die sich also auch bewähren kann, wenn diese Sinnesgrundlage nicht da ist. Mit dieser Gesinnung steht seine Seele vor dem Wesen im blauen Kleide, das ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist. Dieses Wesen könnte zunächst ebensogut der Welt der Täuschung und des Irrtums wie derjenigen der Wahrheit angehören. Der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» muß unterscheiden. Aber sein Unterscheidungsvermögen wäre verloren, der Irrtum müßte ihn überwältigen, könnte er nicht im übersinnlichen Erleben erinnern, was ihn in der sinnlichen mit einer inneren Kraft an die Wahrheit bindet. Aus der eigenen Seele steigt auf, was in dieser durch Christus geworden ist. Und so wie sein übriges Licht, so strahlt der Bildekräfteleib dieses Christuslicht nach dem sich offenbarenden Wesen hin. Es bildet sich die rechte Imagination. Der Brief, der ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist, enthält das Christuszeichen und die Worte: in hoc signo vinces. — Der Wanderer weiß: er ist durch eine Kraft, die nach der Wahrheit weist, mit dem erscheinenden Wesen verbunden. Wäre die Kraft, die ihn in die übersinnliche Welt geführt hat, eine zur Täuschung neigende gewesen, so stünde er vor einer Wesenheit, die sein Erinnerungsvermögen für den in ihm lebenden Christusimpuls gelähmt hätte. Er würde dann nur der verführerischen Macht gefolgt sein, welche den Menschen auch dann anzieht, wenn die übersinnliche Welt ihm Kräfte entgegenführt, die seinem Wesen und Wollen verderblich sind. " (Lit.: GA 35, S 344f)
  5. "In dem Briefe wird auf drei Tempel verwiesen. Was mit diesen gemeint ist, wird von dem Träger der Erlebnisse in dem Zeitpunkte noch nicht verstanden, in dem er den Hinweis erhält. Wer in der geistigen Welt wahrnimmt, muß wissen, daß ihm zuweilen Imaginationen zuteil werden, auf deren Verständnis er zunächst verzichten muß. Er muß sie als Imaginationen hinnehmen und als solche in der Seele ausreifen lassen. Während dieser Reifung bringen sie im Menschen-Innern die Kraft hervor, welche das Verständnis bewirken kann. Wollte sie der Beobachter in dem Augenblicke sich erklären, in dem sie sich ihm offenbaren, so würde er dieses mit einer dazu noch ungeeigneten Verstandeskraft tun und Ungereimtes denken. In der geistigen Erfahrung hängt vieles davon ab, daß man die Geduld hat, Beobachtungen zu machen, sie zunächst einfach hinzunehmen und mit dem Verstehen bis zu dem geeigneten Zeitpunkte zu warten. Was der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» am ersten Tage seiner Geist-Erlebnisse erfährt, bezeichnet er als ihm vor «sieben Jahren» angekündigt. Er durfte in dieser Zeit nicht über sein damaliges «Gesicht» eine verstandesmäßige Meinung sich bilden, sondern mußte warten, bis das «Gesicht» in seiner Seele so lange nachgewirkt habe, daß er weiteres mit Verständnis erfahren konnte. " (Lit.: GA 35, S 346f)
  6. "Die Erscheinung des Geistwesens im blauen, sternbesetzten Kleide und die Überreichung des Briefes sind Erlebnisse, welche der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» macht, ohne daß ein eigener freier Entschluß seiner Seele dazu führt. Er geht im weiteren dazu über, durch einen solchen freien Entschluß Erlebnisse herbeizuführen. Er tritt in einen schlafähnlichen Zustand ein; in einen solchen, der ihm Traumerfahrungen bringt, deren Inhalt Wirklichkeitswert besitzt. Er kann dieses, weil er nach den Erlebnissen, die er hinter sich hat, durch den Schlaf zustand in ein anderes Verhältnis zur geistigen Welt tritt, als das gewöhnliche ist. Die Seele des Menschen ist im gewöhnlichen Erleben während des Schlafzustandes nicht durch Bande an die geistige Welt geknüpft, die ihr Vorstellungen mit Wirklichkeitswert geben können. Die Seele des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» ist aber verwandelt. Sie ist innerlich so erkräftigt, daß sie in die Traumerfahrung aufnehmen kann, was in ihrem Erleben Zusammenhang hat mit der geistigen Welt, in der sie sich befindet. Und sie erlebt durch eine solche Erfahrung zunächst ihr eigenes, neu gewonnenes Verhältnis zu dem Sinnenleibe. Sie erlebt dieses Verhältnis durch die Imagination des Turmes, in dem der Träumende eingeschlossen ist, und aus dem er befreit wird. Sie erlebt bewußt, was unbewußt im gewöhnlichen Dasein erlebt wird, wenn die Seele einschlafend aus dem Gebiet der Sinneserfahrung in dasjenige übersinnlicher Daseinsform übergeht. Die Beengungen und Nöte in dem Turm sind der Ausdruck für die Sinneserlebnisse nach dem Seelen-Inneren zu, wenn dieses sich dem Gebiet solcher Erlebnisse entwindet. Was die Seele in der Art an den Leib bindet, daß das Ergebnis dieser Bindung die Sinneserfahrung ist, dies sind die wachstumfördernden Lebenskräfte. Unter dem alleinigen Einfluß dieser Kräfte könnte nie Bewußtsein entstehen. Das bloß Lebendige bleibt unbewußt. Zur Entstehung des Bewußtseins führen im Verein mit der Täuschung diejenigen Kräfte, welche das Leben vernichten. Trüge der Mensch nicht in sich, was ihn dem physischen Tode entgegenführt: er könnte zwar im physischen Leibe leben, aber in demselben nicht Bewußtsein entwickeln. Für das gewöhnliche Bewußtsein bleibt der Zusammenhang zwischen den tod-bringenden Kräften und diesem Bewußtsein verborgen. Wer wie der Träger der Erlebnisse in der «Chymischen Hochzeit» ein Bewußtsein für die geistige Welt entwickeln soll, dem muß dieser Zusammenhang vor das «Geistesauge» treten. Er muß erfahren, daß mit seinem Dasein der «eisgraue Mann» verbunden ist, das Wesen, das seiner Natur nach die Kraft des Alterns in sich trägt. Das Schauen im Geistgebiet kann nur derjenigen Seele zuteil werden, welche, während sie in diesem Gebiete weilt, die Kraft auf sich wirken sieht, die im gewöhnlichen Leben hinter dem Altern steht. Diese Kraft ist imstande, die Seele dem Gebiet der Sinneserfahrung zu entreißen. — Der Wirklichkeitswert des Traumerlebnisses liegt darin, daß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» durch dasselbe sich bewußt ist, er kann nunmehr der Natur und der Menschen weit mit einer Seelenverfassung entgegentreten, die ihn schauen läßt, was in beiden dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen ist. Dadurch ist er gereift für die Erfahrungen der nächsten Tage." (Lit.: GA 35, S 347ff)
  7. "Der Alchimist strebt nach einem Naturwissen, das für ihn Grundlage wahrhaftiger Menschenkenntnis werden soll. Den Weg zu einem solchen Wissen muß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» suchen. Doch nicht ein solcher Weg, sondern mehrere werden ihm gezeigt. Der erste führt in ein Gebiet, in welchem die in der Sinneswahrnehmung gewonnenen verstandesmäßigen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins in den Gang der übersinnlichen Erfahrung einwirken, so daß durch das Zusammenwirken der beiden Erfahrungskreise die Einsicht in die Wirklichkeit ertötet wird. Der zweite stellt in Aussicht, daß der Seele die Geduld verloren gehen kann, wenn sie nach geistigen Offenbarungen sich langen Wartezeiten unterwerfen muß, um stets ausreifen zu lassen, was zunächst nur als unverstandene Offenbarung hingenommen werden darf. Der dritte fordert Menschen, welche durch ihre bereits unbewußt erlangte Entwickelungsreife in kurzer Zeit schauen dürfen, was andere in langem Ringen erwerben müssen. Der vierte bringt den Menschen zur Begegnung mit all den Kräften, die aus der übersinnlichen Welt heraus sein Bewußtsein umnebeln und verängstigen, wenn dieses sich der Sinneserfahrung entreißen will. - Welcher Weg für die eine oder die andere Menschenseele zu nehmen ist, das hängt ab von der Verfassung, in welche sie durch die Erfahrungen des gewöhnlichen Bewußtseins gebracht ist, bevor sie die geistige Wanderung antritt. «Wählen» im gewöhnlichen Sinne kann sie nicht, denn ihre Wahl würde aus dem sinnlichen Bewußtsein hervorgehen, dem eine Entscheidung in übersinnlichen Dingen nicht zusteht. Die Unmöglichkeit einer solchen Wahl sieht der Wanderer nach der «Chymischen Hochzeit» ein. Er weiß aber auch, daß seine Seele für ein Verhalten in einer übersinnlichen Welt genügend erstarkt ist, um zum Rechten veranlaßt zu werden, wenn eine solche Veranlassung aus der geistigen Welt selbst kommt. Die Imagination seiner Befreiung «aus dem Turm» gibt ihm dieses Wissen. Die Imagination des «schwarzen Raben», welcher der «weißen Taube» die ihr geschenkte Speise entreißt, ruft in der Seele des Wanderers ein gewisses Gefühl hervor; und dieses aus übersinnlichem, imaginativem Wahrnehmen erzeugte Gefühl führt auf den Weg, auf den die Wahl des gewöhnlichen Bewußtseins nicht hätte leiten dürfen." (Lit.: GA 35 S 350f)
  8. Sanctitate Constantia; Sponsus Carus; Spes Caritas; Signum Crucis = Beständigkeit in Heiligkeit; geliebter Bräutigam; Hoffnung, Liebe; Zeichen des Kreuzes.
  9. "Die Begegnung mit dem «grausamen Löwen» bei der zweiten Pforte ist ein Glied in der Selbsterkenntnis des Geistsuchers. Der Bruder vom Rosenkreuz durchlebt sie so, daß sie als Imagination auf seine tieferen Gemütskräfte wirkt, daß ihm aber unbekannt bleibt, was sie für seine Stellung innerhalb der geistigen Welt bedeutet. Dieses ihm unbekannte Urteil fällt der «Hüter», der sich bei dem Löwen befindet, diesen beruhigt und zu dem Eintretenden gemäß dem Inhalt eines Briefes, der diesem Eintretenden auch unbekannt ist, die Worte spricht: «Nun sei mir Gott willkommen, der Mensch, den ich längst gern gesehen hätte.» Der geistige Anblick des «grausamen Löwen» ist das Ergebnis der Seelenverfassung des Bruders vom Rosenkreuz. Diese Seelenverfassung spiegelt sich in dem Bildekräfteteil der geistigen Welt und gibt die Imagination des Löwen. In dieser Spiegelung ist ein Bild des eigenen Selbstes des Beschauers gegeben. Dieser ist im Felde der geistigen Wirklichkeit ein anderes Wesen als im Gebiete des sinnenfälligen Daseins. Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Ergebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinneswelt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Geisteswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Menschwerdung. Dieses Schauen wird dem Bruder vom Rosenkreuz durch die Begegnung mit dem Löwen, dem Bilde seines eigenen Wesens vor der Menschwerdung, zuteil. - Nur um nicht Mißverständnisse hervorzurufen, mag hier angemerkt werden, daß die Daseinsform, in der sich die dem Menschen zugrunde liegende Wesenheit vor der Menschwerdung auf geistige Art erblickt, nichts zu tun hat mit der Tierheit, mit welcher der landläufige Darwinismus die Menschenart durch Abstammung verknüpft denkt. Denn die Tierform des geistigen Anblickes ist eine solche, die durch ihre Wesenheit nur der Bildekräftewelt angehören kann. Innerhalb der Sinneswelt kann sie nur als unterbewußtes Glied der Menschennatur ein Dasein haben. - Daß er mit dem Teil seiner Wesenheit, der durch den Sinnesleib in Fesseln gehalten ist, noch vor der Menschwerdung steht, das drückt sich in der Seelenstimmung aus, in der sich der Bruder vom Rosenkreuz beim Eintritte in das Schloß befindet. Was er zu erwarten hat, dem stellt er sich unbefangen gegenüber und trübt es sich nicht durch Urteile, die noch von dem an die Sinneswelt gebundenen Verstand herstammen. Solche Trübung muß er später an denjenigen bemerken, die nicht mit einer rechtmäßigen Seelenstimmung gekommen sind. Auch sie sind an dem «grausamen Löwen» vorbeigekommen und haben ihn gesehen, denn dies hängt nur davon ab, daß sie die entsprechenden Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen in ihre Seele aufgenommen haben. Aber die Wirkung dieses geistigen Anblickes konnte bei ihnen nicht stark genug sein, um sie zum Ablegen der Urteilsart zu bewegen, an die sie für die Sinneswelt gewohnt waren. Ihre Art zu urteilen erscheint dem Geistesauge des Bruders vom Rosenkreuz innerhalb der Geisteswelt als eitel Prahlerei. Sie wollen Platos Ideen sehen, Demokrits Atome zählen, geben vor, das Unsichtbare zu sehen, während sie in Wahrheit nichts sehen. An diesen Dingen zeigt sich, daß sie die inneren Seelenkräfte nicht verbinden können mit der Welt, die sie umfangen hat. Ihnen fehlt das Bewußtsein von den wahren Anforderungen, welche die Geistwelt an den Menschen stellt, der sie schauen will. Der Bruder vom Rosenkreuz kann in den folgenden Tagen seine Seelenkräfte mit der geistigen Welt deswegen verbinden, weil er sich am zweiten Tage der Wahrheit gemäß eingesteht, das alles nicht zu sehen und nicht zu können, was die andern Eindringlinge vor sich oder andern behaupten, zu sehen oder zu können. Das Erfühlen seiner Ohnmacht wird ihm später zur Macht des geistigen Erlebens. Er muß sich am Ende des zweiten Tages fesseln lassen, weil er die Fesseln der seelischen Ohnmacht gegenüber der Geisteswelt fühlen soll, bis diese Ohnmacht als solche so lange dem Lichte des Bewußtseins ausgesetzt war, als sie nötig hat, um sich selbst in Macht umzuwandeln." (Lit.: GA 35, S 355ff)
  10. Studio Merentis; Sponso Mittendus; Sal Mineralis; Sal Menstrualis = Zum Studium des Würdigen; dem Brätigam mitzubringen; Mineralsalz; Salz der Reinigung.
  11. Ich beglückwünsche dich.
  12. Ich leide mit dir.
  13. "Andreae will zeigen, wie die sieben «Wissenschaften und freien Künste», in die man im Mittelalter die innerhalb der Sinneswelt zu gewinnenden Erkenntnisse gliederte, als Vorbereitung zur Geist-Erkenntnis wirken sollen. Als diese sieben Erkenntnisglieder waren gewöhnlich angesehen: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aus der Schilderung in der «Chymischen Hochzeit» erkennt man, daß Andreae sowohl den Bruder vom Rosenkreuz und seine rechtmäßigen Genossen wie auch die unrechtmäßigen Eindringlinge ausgerüstet denkt mit dem Wissen, das aus diesen Erkenntnisgliedern zu gewinnen ist. Allein der Besitz dieses Wissens ist bei den Ankömmlingen ein verschiedenartiger. Die rechtmäßigen, vor allen der Bruder vom Rosenkreuz, dessen Erlebnisse geschildert werden, haben sich dieses Wissen so angeeignet, daß sie durch dessen Besitz in der Seele die Kraft entwik-kelt haben, das Unbekannte, das für diese «freien Künste» noch verborgen bleiben muß, aus der Geisteswelt zu empfangen. Ihre Seele ist durch diese Künste so vorbereitet, daß sie nicht nur weiß, was durch sie gewußt werden kann, sondem daß dieses Wissen ihr das Gewicht gibt, durch das sie Erfahrungen in der Geistwelt machen kann. Den unrechtmäßigen Ankömmlingen ist das Gewicht dieser Künste nicht zum Seelengewicht geworden. Sie haben in ihrer Seele nicht dasjenige, was an wahrem Weltgehalt diese «sieben freien Künste» enthalten. Am dritten Tage nimmt der Bruder vom Rosenkreuz an der Wägung der Seelen teil. Diese wird durch die Imagination einer Waage geschildert, durch welche die Seelen gewogen werden, um zu finden, ob sie sich zu ihrem eigenen Menschengewicht auch noch dasjenige hinzuerworben haben, das sieben anderen Gewichten gleichkommt. Diese sieben Gewichte sind die imaginativen Repräsentanten der «sieben freien Künste». Der Bruder vom Rosenkreuz hat in seiner Seele nicht nur den Gehalt, der den sieben Gewichten gewachsen ist, sondern auch noch einen Überschuß. Dieser kommt einer andern Persönlichkeit zugute, die für sich selbst nicht genügend befunden wird, die aber durch den wahren Geistsucher vor der Ausstoßung aus der Geistwelt bewahrt wird. Durch die Anführung dieses Vorganges zeigt Andreae, wie gut er mit den Geheimnissen der geistigen Welt vertraut ist. Von all den Kräften der Seele, die sich schon in der Sinneswelt entwickeln, ist die Liebe die einzige, die unverwandelt bleiben kann beim Übergange der Seele in die Geistwelt. Den schwächeren Menschen helfen nach der Kraft, die man selbst besitzt, das kann geschehen innerhalb der Sinneswelt, und es kann sich auch in gleicher Art vollziehen mit dem Besitze, der dem Menschen im Bereich des Geistigen wird. Durch die Art, wie Andreae die Vertreibung der unrechtmäßigen Eindringlinge aus der Geistwelt schildert, ist ersichtlich, daß er durch seine Schrift seinen Zeitgenossen zum Bewußtsein bringen will, wie weit entfernt von dieser Geistwelt und somit von der wahren Wirklichkeit ein Mensch sein kann, der sich zwar bekannt gemacht hat mit allerlei Schilderungen des Weges nach dieser Welt, dem aber das Bewußtsein von einer wirklichen inneren Seelen-Umwandlung fremd geblieben ist. Ein unbefangenes Lesen der «Chymischen Hochzeit» verrät als eines der Ziele ihres Verfassers, seinen Zeitgenossen zu sagen, wie verderblich für die wahre Menschheitsentwickelung diejenigen sind, welche in das Leben eingreifen mit Impulsen, die auf unrechtmäßige Art sich zu der Geistwelt in Beziehung setzen. Andreae erwartet gerade für seine Zeit rechte soziale, sittliche und andere menschliche Gemeinschaftsziele von einem rechtmäßigen Erkennen der geistigen Untergründe des Daseins. Deshalb läßt er in seiner Schilderung auf alles dasjenige ein deutliches Licht fallen, das dem Menschheitsfort-schritt dadurch schädlich wird, daß es solche Ziele aus einer unrechtmäßigen Beziehung zur Geistwelt holt." (Lit.: GA 35, S 358ff)

Die Initiation durch Manes

Die Initiation des Christian Rosenkreutz im Jahre 1459 erfolgte durch Manes und war mit einer tieferen Einsicht in das Wesen und die Aufgabe des Bösen in der Welt verbunden:

"Als ein «höherer Grad» wird innerhalb dieser ganzen Strömung die Initiation des Manes angesehen, der 1459 auch Christian Rosenkreutz initiierte: sie besteht in der wahren Erkenntnis von der Funktion des Bösen. Diese Initiation muss mit ihren Hintergründen noch für lange vor der Menge ganz verborgen bleiben. Denn wo von ihr auch nur ein ganz kleiner Lichtstrahl in die Literatur eingeflossen ist, da hat er Unheil angerichtet, wie durch den edlen Guyau, dessen Schüler Friedrich Nietzsche geworden ist." (Lit.: GA 262, S 24)

Der Unterschied zwischen chymischer und mystischer Hochzeit

Christian Rosenkreutz bricht auf zu einem Einweihungsweg, der aber nicht, wie der Weg des Mystikers, nach innen geht und zur Mystischen Hochzeit mit dem eigenen geistigen Wesen führt, sondern er wandelt den Pfad des Alchemisten, der primär nach der Vereinigung mit dem Geistigen der Außenwelt strebt, das sich hinter der Sinneswelt verbirgt, und erst dadurch sekundär die eigenen Geistigkeit erkennen will. Er geht gleichsam einen objektiveren - und damit sichereren - Weg als der Mystiker.

"Die Forschungswege des Mystikers und des Alchimisten liegen nach entgegengesetzten Richtungen. Der Mystiker geht unmittelbar in das eigene Geistwesen des Menschen hinein. Sein Ziel ist, was die Mystische Hochzeit genannt werden kann, die Vereinigung der bewußten Seele mit der eigenen geistigen Wesenheit. Der Alchimist will das Geistgebiet der Natur durchwandeln, um nach der erfolgten Wanderung mit den in diesem Gebiet erworbenen Erkenntniskräften das Geistwesen des Menschen zu schauen. Sein Ziel ist die «Chymische Hochzeit», die Vereinigung mit dem Geistgebiet der Natur. Nach dieser Vereinigung erst will er die Anschauung der Menschenwesenheit erleben." (Lit.: GA 35, S 341)

Die mystische Versenkung in das eigene Innere, die in der mystischen Hochzeit kulminiert, gibt zunächst nur etwas für das subjektive Erleben des Menschen. Sie gibt im besten Sinn etwas für die moralische, für die geistige Entwicklung des einzelnen Menschen. Der Weg des Alchemisten führt weiter, indem die chymische Hochzeit zugleich ein objektives Ereignis in der geistigen Außenwelt ist. Sie arbeitet unmittelbar mit an der geistigen Erneuerung der Welt.

"Was ist denn der ganze Sinn der menschlichen Erdenentwickelung? Das ist der ganze Sinn der menschlichen Erdenentwickelung, daß sich der Mensch an die Erde anpaßt, daß er die Bedingungen der Erdenentwickelung in sich aufnimmt; daß er hineinträgt in die Zukunft seiner Entwickelung dasjenige, was die Erde ihm geben kann - ich meine jetzt nicht bloß in einer Inkarnation, sondern durch alle Inkarnationen hindurch -, für die spätere Entwickelung ihm geben kann. Das ist der Sinn der Erdenentwickelung. Dieser Sinn der Erdenentwickelung, er kann nur verwirklicht werden dadurch, daß der Mensch gewissermaßen auf der Erde nach und nach vergessen lernte seinen Zusammenhang mit den kosmischen, mit den himmlischen Mächten. Der Mensch lernte vergessen seinen Zusammenhang mit den himmlischen Mächten. Wir wissen ja, daß in alten Zeiten die Menschen ein atavistisches Hellsehen hatten, aber gerade innerhalb dieses atavistischen Hellsehens wirkten ja die himmlischen Mächte in die Menschen hinein. Da hatte der Mensch noch seinen Zusammenhang mit den himmlischen Mächten; da ragte gewissermaßen das Himmelreich in das menschliche Gemüt hinein. Das mußte anders werden, damit der Mensch seine Freiheit entwickeln kann. Der Mensch mußte in seiner Anschauung, in seiner unmittelbaren Wahrnehmung nichts mehr haben von dem himmlischen Reich, damit er der Erde verwandt werde. Aus diesem Grunde aber ist auch die Möglichkeit allein gegeben gewesen, daß der Mensch in der extremsten Zeit der Erdenverwandtschaft eben materialistisch wurde, im fünften Zeitraum, in dem wir selber drinnenstehen. Der Materialismus ist nur der radikalste, extremste Ausdruck der Verwandtschaft des Menschen mit der Erde. Das aber würde bedingen, daß der Mensch wirklich der Erde verfiele, wenn nichts anderes eintreten würde. Der Mensch mußte der Erde verwandt werden, nach und nach ganz das Schicksal der Erde teilen. Er mußte die Wege nehmen, die die Erde selber nimmt, er mußte sich ganz einfügen der Erdenentwickelung, wenn nichts anderes eintreten würde. Er mußte gleichsam mit der Erde sich losreißen vom ganzen Kosmos und sein Schicksal ganz mit dem Schicksal der Erde verbinden.

Das war aber nicht so gemeint für die Menschheit, sondern es war für die Menschheit anders gemeint. Der Mensch sollte auf der einen Seite sich richtig mit der Erde verbinden, aber es sollte Botschaft aus der himmlischen, geistigen Welt herunterkommen, die ihn, trotzdem er durch seine Natur erdenverwandt wird, wiederum hinwegträgt über diese Erdenverwandtschaft. Und dieses Herunterbringen der Himmelsbotschaft, das geschah durch das Mysterium von Golgatha. Daher mußte auf der einen Seite das Wesen, das durch das Mysterium von Golgatha ging, Menschenwesenheit annehmen, aber auf der anderen Seite in sich Himmelswesenheit tragen. Das heißt aber: Wir dürfen uns den Christus Jesus nicht bloß so vorstellen, daß er innerhalb der Menschheitsentwickelung nicht als auch einer sich entwickelt, und sei er auch der Höchste, sondern daß er sich als einer entwickelt, der aufnimmt himmlische Wesenheit, der nicht bloß eine Lehre verbreitet, sondern der in die Erde hereinträgt dasjenige, was aus dem Himmel kommt. Daher ist es wichtig, zu verstehen, was eigentlich die Johannes-Taufe im Jordan ist: daß das nicht bloß eine moralische Handlung ist - ich sage nicht «nicht» eine moralische Handlung ist, sondern «nicht bloß» eine moralische Handlung ist -, sondern eine reale Handlung ist; daß da etwas geschieht, das so wirklich ist, wie die Naturereignisse wirklich sind, das so wirklich ist, wie wenn ich mit irgendeinem Wärmequell etwas erwärme und die Wärme übergeht in das Erwärmte, daß die Christus-Wesenheit übergeht in den Menschen Jesus von Nazareth bei der Johannes-Taufe. Das ist gewiß im höchsten Grade ein Moralisches, aber auch im Naturlaufe ein Wirkliches, wie die Naturerscheinungen wirklich sind. Und darauf kommt es an, daß das verstanden wird, daß man es nicht nur mit irgend etwas zu tun hat, was aus rationalistischen menschlichen Begriffen heraus stammt, die immer nur übereinstimmen mit dem mechanischen, dem physischen oder chemischen Naturlaufe, sondern daß es etwas ist, was als Idee zu gleicher Zeit so in der realen Wirklichkeit drinnensteht, wie die Naturgesetze in der realen Wirklichkeit oder eigentlich die Naturkräfte in der realen Wirklichkeit drinnenstehen.

Von da aus, wenn man das erfaßt, werden dann auch andere Begriffe viel realer werden, als sie in der Gegenwart sind. Sehen Sie, der alte Alchimist - wir wollen uns jetzt nicht über Alchimie unterhalten, aber wir wollen auf das, was der Alchimist im Auge hatte, blicken; ob das berechtigt oder unberechtigt ist, darüber wollen wir uns nicht unterhalten, das kann vielleicht Gegenstand einer anderen Betrachtung sein -, er hatte im Auge, daß durch seine Vorstellungen nicht bloß etwas vorgestellt wird, sondern etwas geschieht. Sagen wir: Er räucherte. Und hatte er dann die Vorstellung oder sprach sie aus, so versuchte er, in diese Vorstellung eine solche Kraft hineinzubringen, daß die Räuchersubstanz wirklich Formen annahm. Er suchte solche Begriffe, die die Macht haben, in die äußere Naturrealität einzugreifen, nicht bloß innerhalb des Egoistischen des Menschen zu bleiben, sondern in die Naturrealität einzugreifen. Warum? Weil er auch noch von dem Mysterium von Golgatha die Vorstellung hatte, daß da etwas geschah, was in den Naturlauf der Erde eingreift, das ebenso eine Tatsache ist, wie ein Naturvorgang eine Naturtatsache ist.

Sehen Sie, auf diesem beruht ein bedeutungsvoller Unterschied, der in der zweiten Hälfte des Mittelalters und gegen die neuere Zeit, gegen unsere fünfte, auf die griechisch-lateinische folgende Weltenperiode eintrat. In der Kreuzzugszeit, der Zeit des 12., 13., 14., 15., ja 16. Jahrhunderts gab es insbesondere Frauennaturen, welche ihr Gemüt in eine solche Mystik brachten, daß sie dieses innere Erlebnis, das ihnen die Mystik brachte, wie eine Hochzeit empfanden mit dem Geistigen, sei es mit dem Christus, oder sonst etwas. Mystische Hochzeiten feierten zahlreiche asketische Nonnen und so weiter. Ich will mich heute nicht über das Wesen dieser innerlichen mystischen Vereinigungen ergehen; aber es war eben ein innerhalb des Gemüts Verlaufendes, das dann nur mit Worten ausgesprochen werden konnte, das gewissermaßen innerhalb der Vorstellungen, der Empfindungen und noch des Wortes, in das die Empfindungen gekleidet werden können, verlief. Dem setzte dann aus gewissen Vorstellungen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen heraus Valentin Andreae seine «Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz» entgegen. Diese chymische Hochzeit, wir würden heute sagen chemische Hochzeit, sie ist auch ein menschliches Erlebnis. Aber wenn Sie sie durchlesen, diese Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz, so werden Sie sehen, daß es sich da nicht bloß um ein Gemütserlebnis handelt, sondern um etwas, was den ganzen Menschen ergreift, nicht bloß sich in Worten ausspricht; was nicht bloß hereingestellt ist wie ein Gemütserlebnis in die Welt, sondern wie ein realer Vorgang, ein Naturvorgang, wo der Mensch mit sich etwas macht, das wie ein Naturvorgang wird. Also etwas, was mehr von Wirklichkeit durchtränkt ist, meint Valentin Andreae mit seiner «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz», als eine bloß mystische Hochzeit etwa der Mechthild von Magdeburg, die eine Mystikerin war. Durch die mystische Hochzeit der Nonnen wurde nur etwas getan für die Subjektivität des Menschen; durch die chymische Hochzeit gab sich der Mensch der Welt hin, durch ihn sollte etwas für die ganze Welt geleistet werden, so wie durch die Naturvorgänge etwas für die ganze Welt geleistet wird. Dies ist nun wiederum im eminent christlichen Sinne gedacht. Begriffe wollten die Menschen, die realer dachten - sei es nun selbst in dem einseitigen Sinne der alten Alchimisten -, Begriffe wollten sie, durch die sie die Wirklichkeit in richtiger Art meistern könnten, durch die sie in die Wirklichkeit richtiger eingreifen könnten, solche Begriffe, die nun wirklich etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Die materialistische Zeit hat zunächst über solche Begriffe einen Schleier geworfen. Und die Menschen, während sie heute meinen, gerade recht über die Wirklichkeit zu denken, leben viel mehr in Illusionen als die von ihnen verachteten Menschen zum Beispiel der Alchimistenzeit, welche Begriffe anstrebten, durch die die Wirklichkeit gemeistert werden kann." (Lit.: GA 175, S 80ff)

Literatur

  1. Johann Valentin Andreä: Die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz, gedeutet und kommentiert von Bastiaan Baan, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2001
  2. Rudolf Steiner: Philosophie und Anthroposophie, GA 35 (1984)
  3. Rudolf Steiner: Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha, GA 175 (1996)
  4. Rudolf Steiner: Mysteriengestaltungen, GA 232 (1998)
  5. Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901–1925, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, GA 262 (2002)
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

  1. Johann Valentin Andreae: Chymische Hochzeit des Christiani Rosencreutz Anno 1459
  2. Rudolf Steiner: Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz