Seelengrund

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Fragment von Ausführungen Meister Eckharts über den Seelengrund (Predigt 5b) in einer zeitgenössischen Handschrift; Göttingen, Georg-August-Universität, Diplomatischer Apparat 10 E IX Nr. 18

Seelengrund oder Seelenfunke (lat. Scintilla animae) ist ein Begriff der spätmittelalterlichen Philosophie und Spiritualität, der auch in frühneuzeitlicher geistlicher Literatur vorkommt. Der von Meister Eckhart († 1327/1328) geprägte Ausdruck bezeichnet in einem übertragenen Sinn einen „Ort“ in der menschlichen Seele, an dem nach spirituellen Lehren Gott oder die Gottheit anwesend ist und eine Vereinigung der Gottheit mit der Seele zustande kommen kann.

Übersicht

Schon in der Antike trugen Philosophen und Theologen Thesen vor, die später zu Voraussetzungen und Bestandteilen der mittelalterlichen Lehren vom Seelengrund wurden. Auch die einschlägige mittelalterliche Terminologie geht auf Begriffe dieser Denker zurück. Antike stoische und neuplatonische Philosophen waren der Überzeugung, es gebe in der menschlichen Seele eine steuernde Instanz, die der göttlichen, das Weltall lenkenden Macht analog oder wesensgleich sei. Damit wurde die Möglichkeit einer Verbundenheit sterblicher und irrtumsanfälliger Menschen mit dem Bereich des Ewigen, Göttlichen und absolut Wahren begründet. Kirchenschriftsteller griffen philosophische Konzepte vom Verhältnis zwischen Gott und der Seele auf und formten sie in christlichem Sinne um. Der Kirchenvater Augustinus nahm an, es gebe in der Tiefe des menschlichen Geistes einen Bereich, das abditum mentis, in dem ein verborgenes apriorisches Wissen liege.

Im 12. Jahrhundert wurden Konzepte entwickelt, nach denen im innersten Bereich der Seele eine Betrachtung Gottes möglich ist, doch erst im Spätmittelalter entstand eine ausgeformte Lehre von der Einheit der Seele mit der Gottheit im Seelengrund. Ihr Urheber war Meister Eckhart, der sich auf Augustinus berief, aber in erster Linie seine eigene unkonventionelle, für damalige Verhältnisse anstößige Lehre vom Göttlichen in der menschlichen Seele verkündete. Er behauptete, es gebe in der Seele ein Innerstes von göttlicher Qualität, das er „Grund“ nannte. Der Seelengrund gehöre nicht zur Schöpfung, sondern stehe über allem von Gott Geschaffenen. Er sei absolut einfach und frei von allen einschränkenden Bestimmungen und unterscheide sich nicht von der „Gottheit“, dem überpersönlichen Aspekt des Göttlichen. Alles Geschaffene sei nichtig und habe keinen Zugang zu Gott; im ungeschaffenen, überzeitlichen Seelengrund hingegen sei eine Gotteserfahrung möglich, denn dort sei die Gottheit immer präsent. Diese Erfahrung bezeichnete Eckhart als „Gottesgeburt“ im Seelengrund. Die Voraussetzung dafür sei „Abgeschiedenheit“: Die Seele müsse sich mit äußerster Konsequenz von allem lösen, was sie von der göttlichen Einfachheit und Undifferenziertheit in ihrem Innersten ablenke.

Eckharts Lehre vom Seelengrund wurde bald nach seinem Tod von der Kirche als häretisch verurteilt, doch fand ihr Gehalt teilweise in abgewandelter Form bei spätmittelalterlichen Gottessuchern Zustimmung. In der Moderne ist sie oft als Ausdruck eines mystischen Irrationalismus betrachtet worden. Neuere Philosophiehistoriker betonen jedoch, dass Eckhart keineswegs die Vernunft abwertete, sondern mit einer philosophischen Argumentation überzeugen wollte und den Seelengrund als Intellekt auffasste.

In der Frühen Neuzeit lebte das Konzept des Seelengrunds oder Seelenzentrums als Stätte der Gotteserfahrung in geistlicher Literatur fort. Es wurde sowohl von katholischen Autoren als auch im evangelischen Pietismus aufgegriffen. Eine andere Bedeutung gaben Denker der Aufklärung dem Ausdruck „Grund der Seele“. Sie bezeichneten damit den Ort einer „dunklen“ Erkenntnis, aus der die klare hervorgehe.

Literatur

Übersichtsdarstellungen

Allgemeine Untersuchungen

  • Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Band 4, Herder, Freiburg u. a. 2008, ISBN 978-3-451-23384-5, S. 148–166 (Allgemeines), 208–220, 265–267, 290–330 (Eckhart), 395–407 (Seuse), 427–452 (Tauler)
  • Peter Reiter: Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelenlehre. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-807-3
  • Saskia Wendel: Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung. Pustet, Regensburg 2002, ISBN 3-7917-1824-X, S. 132–228

Untersuchungen zum Seelengrund bei Meister Eckhart

  • Bernward Dietsche: Der Seelengrund nach den deutschen und lateinischen Predigten. In: Udo M. Nix, Raphael Öchslin (Hrsg.): Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr. Herder, Freiburg 1960, S. 200–258
  • Rodrigo Guerizoli: Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts. Brill, Leiden/Boston 2006, ISBN 978-90-04-15000-3
  • Shizuteru Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1965
  • Erwin Waldschütz: Denken und Erfahren des Grundes. Zur philosophischen Deutung Meister Eckharts. Herder, Wien u. a. 1989, ISBN 3-210-24927-X

Untersuchungen zum Seelengrund bei anderen Autoren

  • Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik. Kovač, Hamburg 2008, ISBN 978-3-8300-3636-4, S. 247–271 (zu Seuse)
  • Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. Almqvist & Wiksell, Uppsala 1974, ISBN 91-554-0238-0
  • Paul Wyser: Der Seelengrund in Taulers Predigten. In: Lebendiges Mittelalter. Festgabe für Wolfgang Stammler. Universitätsverlag, Freiburg (Schweiz) 1958, S. 204–311
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