Sensualismus

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Der Sensualismus (von lat. sensus „Gefühl, Empfindung, Sinn“), der von Rudolf Steiner zu den zwölf grundlegenden Weltanschauungen gezählt wird, ist eine hauptsächlich von England ausgegangene erkenntnistheoretische Richtung, die alle Erkenntnis ausschließlich aus der sinnlichen Wahrnehmung ableiten will. Im Tierkreis ordnet ihm Rudolf Steiner das Zeichen des Löwen zu. Der Sensualismus ist eine spezielle Form des ebenfalls auf Erfahrung beruhenden, aber weiter gefassten Empirismus, der auch Erkenntnisse aus nicht sinnlichen Quellen, etwa von Messinstrumenten, einbezieht. In diesem Sinn kann auch die auf systematischer hellsichtiger Erfahrung beruhende Geistesforschung wohl dem Empirismus, nicht aber dem Sensualismus zugerechnet werden.

„Man kann sagen: Gewiß, ich halte mich an die Welt, die mich ringsherum umgibt. Aber ich behaupte nicht, daß ich ein Recht habe zu sagen, diese Welt sei die wirkliche. Ich weiß nur von ihr zu sagen, daß sie mir erscheint. Und zu mehr habe ich überhaupt nicht Recht, als zu sagen: Diese Welt erscheint mir. Ich habe kein Recht, von ihr mehr zu sagen. - Das ist also ein Unterschied. Man kann von dieser Welt, die sich um uns herum ausbreitet, sagen, sie ist die reale Welt. Aber man kann auch sagen: Von einer anderen Welt kann ich nicht reden; aber ich bin mir klar, daß es die Welt ist, die mir erscheint. Ich rede nicht davon, daß diese Welt von Farben und Tönen, die doch nur dadurch entsteht, daß sich in meinem Auge gewisse Prozesse abspielen, die sich mir als Farben zeigen, daß sich in meinem Ohr Prozesse abspielen, die sich mir als Töne zeigen und so weiter, daß diese Welt die wahre ist. Sie ist die Welt der Phänomene. - Phänomenalismus ist die Weltanschauung, um die es sich hier handeln würde.

Man kann aber weiter gehen und kann sagen: Die Welt der Phänomene haben wir zwar um uns herum. Aber alles, was wir in diesen Phänomenen zu haben glauben so, daß wir es selber hinzugegeben haben, daß wir es selber hinzugedacht haben, das haben wir eben hinzu gedacht zu den Phänomenen. Berechtigt ist aber nur das, was uns die Sinne sagen. - Merken Sie wohl, ein solcher Mensch, der dieses sagt, ist nicht ein Anhänger des Phänomenalismus, sondern er schält von dem Phänomen das los, wovon er glaubt, daß es nur aus dem Verstande und aus der Vernunft kommt, und er läßt gelten, als irgendwie von der Realität angekündigt, was die Sinne als Eindrücke geben. Diese Weltanschauung kann man Sensualismus nennen.“ (Lit.:GA 151, S. 42f)

Steiner stellt in einer Datstellung der Entwicklung des intellekturellen Menschen den Sensualismus (der Vortrag wurde 1921 gehalten) sehr nahe an den Materialismus.

„Bei denen, die in der neueren Zeit vielfach über Geist und Geistesleben sprachen, wird in dilettantischer Weise abgefertigt, was in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Menschheitsentwickelung heraufgekommen ist als Materialismus. Gewiß, bei diesem Materialismus stehenzubleiben, ist eine Oberflächlichkeit; aber eine noch größere Oberflächlichkeit ist, sich zu diesem Materialismus dilettantisch zu verhalten. Es ist ja verhältnismäßig leicht, sich einige Begriffe von Geist und Geistesleben anzueignen und dann abzusprechen über dasjenige, was im Materialismus des 19. Jahrhunderts heraufgezogen ist; aber man muß die Sache von einem andern Gesichtspunkte aus betrachten. Wahr ist es, daß zum Beispiel ein solcher Denker - und er ist in der Reihe der materialistischen Denker vielleicht einer der allerhervorragendsten - wie Heinrich Czolbe 1855 in seinem Buch «Neue Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf» diesen Sensualismus geradezu dadurch definiert hat, daß er sagte: Dieser Sensualismus bedeutet ein Erkenntnisstreben, das von vorneherein das Übersinnliche ausschließt. - So daß man also in dem Czolbeschen System des Sensualismus etwas vor sich hat, was aus dem rein in der sinnlichen Beobachtung Gegebenen die Welt und auch die Menschen erklären will. Gerade dieses System des Sensualismus ist, man möchte sagen, auf der einen Seite oberflächlich, auf der andern Seite außerordentlich scharfsinnig. Es wird wirklich da der Versuch gemacht, von der Wahrnehmung angefangen bis herauf in die Politik, alles in das Zeichen des Sensualismus zu rücken, alles so darzustellen, als wenn man es eben erklären könnte aus dem, was Sinne beobachten können und was der Intellekt aus diesen Sinnesbeobachtungen sich erkombinieren kann. 1855 ist dieses Buch erschienen, also in der Zeit, in der es noch nicht einen ausgesprochenen Darwinismus gegeben hat, denn Darwins erstes epochemachendesWerk ist ja erst 1859 erschienen.

Dieses Jahr 1859 war überhaupt, wie ich schon öfter angedeutet habe, außerordentlich einschneidend in der neueren Geistesentwickelung. Wir haben um diese Zeit erscheinend Darwins «Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl». Wir haben in dieser Zeit herauf- kommend in der Menschheitsentwickelung die Spektralanalyse, von der ja die Anschauung ausgegangen ist, daß aus denselben Materialsubstanzen, aus denen das irdische Dasein besteht, das Weltenall auch besteht. Wir haben dann den Versuch, dasjenige zu erfassen, was früher immer auf geistig-intellektuelle Weise behandelt worden ist, das ästhetische Gebiet, durch äußerliche, sinnliche Empirie. Gustav Theodor Fechners «Vorschule der Asthetik» erschien 1876. Und endlich, wir haben den Versuch, diese Denkweise, die in all dem Angeführten liegt, zu übertragen auf das soziale Leben. Karl Marxens erstes größeres ökonomisches Werk erschien ebenfalls in diesem Jahre 1859. Diese vierte Erscheinung des neuzeitlichen materialistischen Geisteslebens, sie fällt bis auf das Jahr in dieselbe Zeit. Aber wie gesagt, vorangegangen ist schon so etwas, wie Czolbes System des Sensualismus war. Wenn dann versucht worden ist, alles dasjenige, was seit jener Zeit reichlich an Tatsachen des äußeren Sinneslebens erkundet worden ist, mit materialistischen Weltanschauungen zu durchdringen, so darf man sagen: Diese materialistische Weltanschauung ist nicht geschaffen worden etwa durch den Darwinismus oder durch die Spektralanalyse, sondern dasjenige, was Darwin so sorgfältig zusammengetragen hat, das, was durchschaut werden konnte bis zu einem gewissen Grade in der Spektralanalyse, das, was erforscht werden konnte von Dingen selbst, die man früher nur auf ganz anderem Wege erforschen wollte, wie es durch Fechners «Vorschule der Asthetik» geschehen ist, das ist getaucht worden in die schon vorhandene Anschauung des Sensualismus. “ (Lit.:GA 206, S. 70f)


Sigismund von Gleich über den Sensualismus

In seinem Werk zu den zwölf Weltanschauungen stellt Von Gleich den Sensualismus wie folgt dar:

"Aus der typischen Grunderfahrung, die zum Sensualismus führt, hat Wilhelm Wundt bemerkt: "Erst nachträglich trennt der Mensch mit Hilfe logischer Zergliederungen die Vorstellungen von den Gegenständen selbst ab, auf die sie sich beziehen. So wie die sogenannten Objekte der unmittelbaren Erfahrung gegeben sind, bilden sie eine unzertrennliche Einheit mit den Sinnesempfindungen, die wir von ihnen haben." Weil eine Empfindung als solche weder als etwas Gegenständlich-Dingliches, noch als etwas Geistiges erfahren wird, deutet der Sensualist dasjenige, was er mit den Sinneseindrücken zusammenlebend erfährt, weder als Erscheinung eines Übersinnlich-Geistigen noch als etwas Stoffliches. Zwischen dem Phänomenalisten und Materialisten nimmt er eine Mittelstellung ein." (S. 68)

Von Gleich weist dem Sensualismus gerne Ethikern, Aristokraten und Ästhetikern zu.

"[...] von diesen Gesichtspunkten aus versteht man voll das eigentlich leitende Prinzip der ganzen englischen Philosophie: den common sense. Man sollte dies Wort nicht mit "gesunder Menschenverstand" übersetzen. Es handelt sich um einen Sinn, um einen Denksinn, ja um einen allgemeinen Denkinstinkt. Mit dem common sense hängt aufs Engste zusammen der "moral sense", das ist ein sittlicher Instinkt, wovon Wohlwollen und Taktgefühl des Gentleman die wichtigesten Äusserungen sind. Hierauf beruhtdie gesamte englische Ethik." (S. 74)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

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