Shakespeares Sonette

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Shakespeare’s Sonnets (dt. Shakespeares Sonette) ist ein Gedichtband mit 154 Sonetten des Dichters William Shakespeare. Es handelt sich um den spätesten Groß-Zyklus von Sonetten in der Nachfolge Francesco Petrarcas, d. h. die Sonette widmen sich (wenn auch nicht ausschließlich) dem Thema Liebe. Gemeint sind in diesem Artikel nicht die zahlreichen auch in den Dramen Shakespeares vorkommenden Sonette. Im Anschluss an die Sonette enthält das Buch das lange Gedicht A Lover's Complaint (dt. Einer Liebenden Klage). (Das englische Sonett – und damit auch dasjenige Shakespeares – weicht von der italienischen Form ab, siehe Shakespeare-Sonett.)

Die Erstausgabe von 1609

Titelblatt der Erstausgabe

Die Druckausgabe der Sonetten Shakespeares erschien in gesammelter Form erstmals 1609 im Verlag von Thomas Thorpe in London. Der Titel lautet SHAKE-SPEARES SONNETS. Neuer before Imprinted (das „u“ in „Neuer“ ist als konsonantisches „v“ zu lesen). Im englischen Sprachraum wird diese Ausgabe häufig die „Quarto edition“ genannt, eine Konvention, die sich nach dem Buchformat richtet.

Einige der Sonette waren zuvor schon publiziert worden, so die Nummern 138 und 144 in dem Gedichtband The Passionate Pilgrim (gegen 1599). Zudem weist schon Fancis Meres in seiner Literaturübersicht Palladis Tamia von 1598 auf die Existenz weiterer Sonette Shakespeares hin. Auch sind literarische Anspielungen auf die Sonette bereits aus den 1590er Jahren belegt. Die meisten Kommentatoren gehen deshalb davon aus, dass zumindest ein Teil der Sonette bereits vor 1600 verfasst wurde. Der exakte Entstehungszeitraum der Shakespeareschen Sonettensammlung lässt sich jedoch nicht mehr zweifelsfrei feststellen; die diversen Vermutungen über die Entstehungszeit der gesamten Sonette unterscheiden sich in der Datierung um eine Zeitspanne von mindesten 27 Jahren, nicht allein aufgrund der unterschiedlichen mutmaßlichen textexternen oder internen Indizien, die für die Datierungsversuche herangezogen werden, sondern vor allem aufgrund der unterschiedlichen zugrundeliegenden Deutungen: dem Versuch eines biografischen Verständnisses einerseits sowie der Bewertung der Thorpeschen Quartausgabe andererseits.[1]

So enthält der Text der Druckausgabe von 1609 zahlreiche Satzfehler, Missverständnisse und Unachtsamkeiten. Auch wenn über die tatsächliche Fehlerhaftigkeit sämtlicher in Verdacht genommenen Stellen in der Gelehrtenschaft keineswegs Einigkeit herrscht, so wird doch die unübersehbare Nachlässigkeit der Edition nirgends wirklich bestritten. Weitgehend unkontrovers ist ebenso die naheliegende Schlussfolgerung, dass für den Druck weder ein Autormanuskript noch eine verlässliche Abschrift vorlag. Man hat bisweilen vermutet, dass es sich um einen in Eile hergestellten Raubdruck handelt, der vom Verleger nicht die nötige Sorgfalt erhielt und auf keinen Fall eine Druckfahnenkorrektur vom Autor selbst. Doch herrscht auch darüber letztlich keine Gewissheit.

Die Authentizität der Sonette wird in der Fachwelt demgegenüber nicht bestritten: Sie sind Werke desjenigen, der die Shakespeare-Dramen geschrieben hat. Auch wenn von Sonett 2 aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts rund ein Dutzend nichtidentischer Manuskriptfassungen vorliegen, widerlegt dies nicht die Autorschaft Shakespeares, sondern deutet eher darauf hin, dass Shakespeare ebenso wie andere Dichter seiner Zeit den Sonettzyklus vermutlich mehrfach überarbeitet und revidiert hat.[2]

Widmungstext

Das Buch enthält nach dem Titel eine rätselhafte Widmung an einen „Mr. W. H.“, der „the only begetter“ der Gedichte genannt wird. (Mr. ist Master zu lesen.) Diese Bezeichnung „begetter“ – Shakespeare verwendet das Wort nie, auch hier ist es nicht sein Wort, sondern das des Verlegers – ließe sich als „Erzeuger“, „Verursacher“, „Beschaffer“, „Kolporteur“ usw. deuten. Diese „Widmung“ blieb jedoch wie die mit den Initialen gemeinte Person bis heute rätselhaft. Eben darum hat beides zu einer Unzahl von Spekulationen und Kontroversen geführt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass eine Entdeckung des „wahren“ Mr. W. H. die erhoffte wichtige Information über das Zustandekommen der Sonette höchstens dann erbrächte, wenn damit ein prominenter Zeitgenosse gemeint wäre, was keinesfalls sicher ist. Die Ansicht gewinnt zunehmend an Plausibilität, dass diese „Widmung“ eine Verleger-Notiz vielleicht zu Werbezwecken sein könnte. Dass die „Widmung“ auf Sonett 18 anspielt, legt nahe, in „Mr. W. H.“ den in den Sonetten angesprochenen Fair Youth (schönen Jüngling) zu vermuten. Diese Person, die in einer homoerotischen Beziehung zum Verfasser gestanden haben soll, wird zugleich genannt und verborgen, wodurch der Neugier der Leserschaft Vorschub geleistet wird. Dass sich hinter dem Namenskürzel eine Person des mäzenatischen Adels der Zeit verbirgt, etwa – was öfters vermutet wurde – William Herbert, 3. Earl of Pembroke, ist unwahrscheinlich, vor allem durch nichts belegt. Eine Adelsperson hätte sich auch kaum in eine solche Namenskomödie verwickeln oder sich als „Master“ ansprechen lassen.[3] In der von Shakespeare selbst unterzeichneten formgerechten Widmung zu seiner Verserzählung Venus and Adonis besitzen wir das Modell einer korrekten Widmung an einen Adeligen, nämlich an Henry Wriothesley (gesprochen: raitsli oder, nach anderer Auffassung: rotsli), den 3. Grafen von Southampton. Der bei den Sonetten stehende scheinbare Widmungstext des Verlegers Thomas Thorpe (er ist mit „T. T.“ unterzeichnet) unterscheidet sich von jener anderen Widmung in sämtlichen Details. Wir erfahren nichts über den angeblichen Widmungsadressaten oder darüber, welche Rolle er spielte. Schon ältere Herausgeber der Sonette – als Beispiel sei Edward Dowden 1881 genannt – übergehen in ihren kommentierten Ausgaben das Widmungsproblem nicht selten. Auch moderne Herausgeber verweilen selten bei der Mr.-W.-H.-Frage. (Siehe zu diesem Problem auch weiter unten unter „Wirkungs- und Deutungsgeschichte“.)

Etwas anderes verwundert ebenso: Der Name des Autors „Shakespeare“ wird in „Shake-speare“ zerteilt. Solches geschah mit Namen in der elisabethanischen Zeit zwar nicht selten, vor allem dann, wenn man aus den nun getrennten Wörtern neuen Sinn lesen konnte. Es ist jedoch unklar, was aus „Shake-speare“ gelesen werden soll. Wieder könnte man annehmen, dass – wie bei der sogenannten Widmung – mit dem nahegelegten „Schüttel-Speer“ eine Mystifikation geplant war, unabhängig von der Frage, ob damit die Herkunft des Namens sprachgeschichtlich richtig oder falsch beschrieben ist.

Inhalt

Sonett 30 (Mauergedicht in Leiden)

Inhaltlich wenden sich die Sonette 1 bis 126 offensichtlich an einen jungen Mann, auch wenn nicht in allen 126 dies grammatisch völlig klar ist, ein völlig neuer Einfall in der Geschichte der lyrischen Tradition seit Petrarca. War in dieser Art des Dichtens immer eine engelschöne unerreichbare Frau Gegenstand sowohl der liebenden Verehrung wie der daraus entstehenden Gedichte, so beendete Shakespeare diese Konvention durch eine Provokation, deren Sprengkraft bis heute wirkt, d. h. einen Teil der fortgesetzten Wirkung dieses Zyklus bis heute erklärt. Shakespeares „fair boy“ ist zugleich scheinbarer homoerotischer Geliebter als auch, wie die „madonna angelicata“ Petrarcas, ein Liebesziel, das sexuell gar nicht erreicht werden soll.

In den Sonetten 1 bis 17 gehen die Appelle an den jungen Mann dahin, einen Nachkommen zu zeugen, um so seine „Schönheit“ weiterzugeben und gleichsam „unsterblich“ zu werden; sie werden deshalb auch die „Prokreations“-Sonette genannt. Diese Unsterblichkeitsidee wird im Sonett 18, dem bekanntesten von allen, auch programmatisch an die Tätigkeit des Dichters geknüpft: „So long as men can breathe or eyes can see, / So long lives this, and this gives life to thee“; diese Idee ist einer der Hauptgedanken der Sonette, der immer wieder auftaucht.

In Sonett 20 wird förmlich eine androgyne Version der angeredeten Person entworfen: “A woman’s face, with Nature’s own hand painted / Hast thou, the master-mistress of my passion.” In diesem Akt geistreicher Parodie gibt Shakespeare seine klare Absicht zu erkennen, die petrarkistische Tradition in der Tat zu sprengen, indem er sie mit ihren eigenen Mitteln gleichsam ad absurdum führt und eben dadurch Raum für eine wirkliche Beziehungsdebatte schafft, die dem Petrarkismus fehlt, – eine Innovation, die durchaus mit den Neuerungen in seinen Dramen vergleichbar ist.

Andere Themen sind das Altern, die Furcht vor Liebesverlust, die Eifersucht u.v.m., im Ganzen wird eine Liebeskasuistik ausgebreitet, die bis dahin ohne jedes Beispiel ist; auch der deutsche Minnesang und die englischen Zeitgenossen haben derlei noch nicht formuliert. Zusätzlich mischen sich immer wieder Aussagen ein, die mit der Liebe wenig zu tun haben, sondern persönliche Schicksalsklage (Sonett 29) oder allgemeine Weltklage (Sonett 66) sind und jeweils erst im Schluss-Couplet zum Liebesdialog zurückfinden. Auch werden sehr oft deutliche poetologische Erörterungen vorgenommen, etwas, das allerdings schon bei Petrarca in dessen Canzoniere vorgezeichnet ist, dort z. B. in den Sonetten 27 und 32 sowie im Canzone 53.

Dem Zweck der Hinwendung zu einer „modernen“ Liebeslyrik dient auch die Erschaffung einer provozierenden „dark lady“, die ab der Sonett-Nummer 127 im Mittelpunkt steht. Der „fair lady“, die bereits durch einen „fair boy“ ersetzt ist, stellt der Dichter nun eine „dark lady“ als seine irdische Geliebte gegenüber. Es ist wiederholt von schierer Sexualität die Rede, – eine Unmöglichkeit im bisherigen Sonetten-Diskurs auch noch bei Shakespeares Vorläufern und Zeitgenossen, etwa bei Sir Philip Sidney, Samuel Daniel oder Michael Drayton. Erst bei Shakespeares nur wenige Jahre jüngerem Zeitgenossen John Donne – allerdings besteht überhaupt keine erkennbare realhistorische Verbindung zwischen beiden Dichtern – wird solches möglich, nun außerhalb des petrarkistischen Diskurses. Auch die krasse Deutlichkeit, mit der Sexualität zuerst benannt und dann abgelehnt wird, verwundert – wie in Sonett 129: „The expense of spirit in a waste of shame / Is lust in action; and till action, lust / Is perjured, murderous, bloody, full of blame, / Savage, extreme, rude, cruel, not to trust“.

Als programmatisch kann man in diesem Teil des Werks Sonett 130 ansehen, in dem das Gegenbild zur unerreichbaren Schönen durch eine scheinbar „hässliche“ Person, die aber eben deshalb die erotische Geliebte des Dichters ist, entworfen wird: „My mistress’ eyes are nothing like the sun / Coral is far more red, than her lips red [...] I love to hear her speak, yet well I know, / That music hath a far more pleasing sound [...] I grant I never saw a goddess go – / My mistress when she walks treads on the ground“. Shakespeares Lyrik steht plötzlich auf einem realen Boden, der im Petrarkismus nie betreten wurde; in Sonett 151 geht der Dichter gar bis zu pornographischen Anspielungen.[4]

Man sollte dennoch die Sonette Shakespeares nicht als Liebesgedichte im einfachen, modernen Sinn betrachten. Der Grund dafür ist, dass sie sich noch innerhalb eines spezifischen lyrischen Diskurses befinden, dem Petrarkismus. Dies ist ein lyrisches Sprechen, das sich, dem mittelalterlichen Minnesang vergleichbar, im gesellschaftlichen Raum, nicht in der Intimität zweier Liebender abspielt. Der angeredete junge Mann ist Projektion eines Liebesideals, nicht eines historisch Einzelnen.[5] Es kommt hinzu, was Stephen Greenblatt „self-fashioning“ genannt hat.[6] Der petrarkistische Sonett-Dichter stilisiert nicht nur sein Gegenüber, sondern auch sich selbst, und dies in Konkurrenz zu seinen dichtenden Mit-Sonettisten.

Vergleichbar Walther von der Vogelweide, einem anderen „Vollender“ und „Überwinder“ eines poetischen Diskurses, dem des deutschen Minnesangs, in dessen Zeichen er ursprünglich angetreten war, – vollendet und überwindet auch Shakespeare den Petrarkismus, 400 Jahre nach Walther. Es fällt dabei auf, wie sich die Mittel dieses Überwindens bei beiden Dichtern gleichen: Abwendung vom standardisierten und Hinwendung zum persönlichen Reden, dessen wesentliche Mittel Parodie, Humor und poetologische Nachdenklichkeit sind. Auch wird das wichtigste Mittel der abendländischen Liebes-Lyrik, das Vergleichen, in allen seinen Formen (s. a. Metapher) von Shakespeare in Frage gestellt und durch völlig neue rhetorische Mittel ergänzt.[7]

Wirkungs- und Deutungsgeschichte

Anfang des Aufsatzes von Ludwig Tieck 1826

W. H. Auden bezieht 1946 entschieden Stellung gegen die Identifikationsversuche der Personen in den Sonetten,[8] also gegen die unendliche Debatte darüber, ob die Sonette einen lebensweltlichen Hintergrund hatten oder fiktional zu lesen sind. Von dieser Frage zunächst unbelastet waren Shakespeares Sonette zu seinen Lebzeiten und noch einige Zeit danach beim literarischen Publikum der Zeit noch leidlich bekannt und erlebten deshalb 1640 eine zweite, allerdings vom Herausgeber John Benson wegen der scheinbaren homoerotischen Tatbestände verfälschte Auflage; Benson fügte sogar Gedichte ein, die nicht von Shakespeare stammen. Danach aber gerieten sie immer mehr in Vergessenheit und wurden erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge der philologischen Wiederentdeckung Shakespeares ihrer offenkundigen Bekenntnisse wegen teils nur mit großem Befremden gelesen, ja einzelne Gedichte, etwa Sonett Nr. 20 (“A woman’s face, with nature’s own hand painted, / Hast thou, the master mistress of my passion…”), geradezu mit moralischem Abscheu, – vor allem von Edmund Malone, einem der verdienstvollen ersten philologischen Herausgeber des Shakespeare-Werks[9]. In Deutschland setzte die Entdeckung gleichfalls im 18. Jahrhundert ein. Zuerst wurden die Sonette durch den Gelehrten Johann Joachim Eschenburg 1787 ausführlicher betrachtet,[10] auch wenn Eschenburg persönlich mit den Texten nicht viel anzufangen wusste. August Wilhelm von Schlegel schlug in seinen Wiener Vorlesungen 1809 eine biographische Lektüre der Sonette vor,[11] ohne sich freilich auf konkrete Personen festzulegen. 1826 äußerte sich Ludwig Tieck zu den Sonetten und stellte Übertragungen seiner Tochter Dorothea vor,[12] deren Identität er jedoch verschwieg.

Wir wissen nicht, ob sich hinter Shakespeares Sonetten konkrete lebensweltliche Ereignisse und Personen verbergen. Alle „Personen“, die in den Gedichten auftreten, der lyrische Sprecher selbst, der junge Freund, der Dichterrivale, die dunkle Geliebte, mögen Personen aus Shakespeares Lebenswelt zum Vorbild haben – oder reine Fiktion sein. Die Literaturwissenschaft hat je nach ihrem Selbstverständnis einmal das eine, einmal das andere angenommen, auch öfter sich nicht entscheiden wollen. Dass um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts sowohl in England als auch in Deutschland der von Goethe gewonnene Begriff der Erlebnislyrik auch auf die Shakespeare-Sonette angewendet wurde (der englische Romantiker William Wordsworth meinte: „[...] with this key Shakespeare unlocked his heart“[13]) und auch gegenwärtig immer noch wird, ist verständlich, wenn auch, wie oben schon erläutert, recht problematisch.

Man kann in der biographiebezogenen Auffassung der Sonette soweit gehen, sie als eine Art Tagebuch-Protokoll[14] des Sprechers über die Entwicklung seiner Beziehung zu einem „Patron“ zu lesen, d. h. zu einem mäzenatischen Adligen, muss sich aber der Implikationen eines solchen Verständnisses bewusst sein. Zunächst ist die nicht vom Autor, sondern von Thomas Thorpe, dem Verleger, eingefügte „Widmung“ in allen ihren Aspekten vollkommen untypisch. Zudem aber wäre die Provokation, die von den Sonetten ausgeht, eine doppelte: Nicht nur ist ein Mann und nicht die „madonna angelicata“ hauptsächliches Ziel der Sonette, sondern dieser Mann wäre auch noch einer, der sich dem Autor gegenüber in einer standardisiert äußerlichen, lebensweltlichen Rolle befindet. Patrons hatten alle elisabethanischen Dichter, Shakespeare sicher die beiden Grafen Pembroke und Wriothesley, es ist aber kein Werk aus dieser Zeit bekannt, das den Patron auch zugleich zur Hauptfigur einer Dichtung oder zum ‚lyrischen Du‘ von Sonetten macht. Zur tatsächlichen historischen Person, die hier auftreten mag, sind Dutzende von Vorschlägen gemacht worden, aber keiner dieser Vorschläge ist angesichts der kargen Quellenlage überzeugend.

Die Erforschung der Sonette stand im 19. Jahrhundert zunächst im Zeichen rein biographischer Spekulation, die umso mehr um sich griff, als über das äußere Leben William Shakespeares aus Stratford nur wenig und über seine ‚innere Biographie‘ geradezu nichts in Erfahrung zu bringen war. Dieser Art des Zugangs folgte schon im Laufe des 19. Jahrhunderts eine verstärkt auf die Form sehende Rezeption, die die dichterischen Qualitäten der Sonette betonte. Zu diesen Deutungen traten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt gerade auch in den äußerst zahlreichen deutschen Gesamtübersetzungen literaturhistorische Betrachtungen, die Shakespeares Gedichte in der Poetik seiner Zeit zu verankern suchten und auch mit den historischen Ereignissen und Werten der elisabethanischen Epoche verbinden wollten.[15] In der frühen Moderne wurden die Sonette zum Teil auch als Identifikationslyrik für eigene dichterisch-weltanschauliche Programme gelesen und übersetzt (so etwa im George-Kreis[16]) oder im Dienst der Emanzipation homosexueller Lebensformen verwendet.[17] Gegenwärtig werden die Sonette mit über zwei Dutzend aktuellen historisch-kritischen und kommentierten Textausgaben in der Anglistik mehr beachtet als je zuvor. Auch die biographische Auslegung oder Deutung wird in letzter Zeit wiederbelebt, z. B. von den Vertretern der alternativen (antistratfordianischen) Urheberschaftstheorien als Beweismittel.[18]

Schließlich sind seit über hundert Jahren jeweils neu begründete Entstehungsgeschichten der Sonette auch Gegenstand von Erzählungen, Romanen und Theaterstücken. Das heißt, es intensiviert sich nicht nur ständig die Forschung zu Shakespeares Sonetten, sondern sie wirken auch unmittelbar auf die Belletristik ein. Einige Beispiele dazu: Oscar Wilde, The Portrait of Mr. W H, 1889; Erna Grautoff, Herrscher über Traum und Leben, 1940; Anne Cuneo, Objets de Splendeur, 1996; Hildegard Hammerschmidt-Hummel, Shakespeares Geliebte, ein Dokudrama, 2003.

Übersetzungen ins Deutsche und weiteres mediales Fortwirken

Stefan Georges Vorrede zu seiner Übersetzung 1909
Karl Kraus’ Reaktion auf Stefan George 1933

Übersetzungen von Shakespeare-Sonetten stellen einen Forschungsgegenstand der Anglistik und der Germanistik dar; eine für die letzten 10 Jahre allerdings lückenhafte Gesamtbibliographie ist bei der Herzog-August-Bibliothek erschienen.[19] Die Sonette hatten schon allein durch Übersetzungen in der deutschen Literatur eine deutliche Wirkungsgeschichte – und sie hält an. Kein Werk der Weltliteratur – außer Bibel-Texten – wurde häufiger ins Deutsche übersetzt. Etwa 300 Übersetzer haben sich seit dem 18. Jahrhundert, als Shakespeare in Deutschland wie in England wiederentdeckt wurde, bis heute mit den Sonetten beschäftigt. In den Jahren zwischen 1836 und 1894 erschienen allein zwölf kommentierte deutsche Gesamtübersetzungen.[20] Derzeit (August 2018) sind 78 deutsche Gesamtübersetzungen und mehr als 80 Teilübersetzungen des Werkes publiziert.[21] Von den Sonetten Nr. 18 und Nr. 66 gibt es jeweils über 200 deutsche Übersetzungen. Gerade in Deutschland, aber auch in der Sowjetunion und im jiddischen Kulturraum, dienten die Shakespeare-Sonette bzw. eine neue Übersetzung nach Ausweis der Übersetzer des Öfteren als Identifikationsmittel und heimliche Begleiter bei Bedrängnis und Not in Diktaturen, im Exil, in der „inneren Emigration“ oder während politischer und Kriegsgefangenschaft (Beispiele: Boris Pasternak, Lion Feuchtwanger, Eta Harich-Schneider, Sophie Heiden, Ilse Krämer u. a.). Auch in die meisten anderen lebenden Schriftsprachen der Welt, unter den nicht mehr gesprochenen Sprachen auch ins Lateinische,[22] wurden diese Sonette, zum Teil mehrmals, übersetzt, – auch in Kunstsprachen wie Esperanto oder sogar ins „außerirdische“ Klingon. Die Sonette wurden vor allem in Deutschland zudem vertont, zu Theaterszenen und Balletts umgeformt, in Mundarten übertragen, in Prosa übersetzt, in Kontrafakturen verarbeitet, illustriert, parodiert und paraphrasiert – und waren in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher multimedialer Bühnendarstellungen, so zuletzt (2009) in Robert Wilsons und Rufus Wainwrights „Shakespeares Sonette“ im Berliner Ensemble. Auch in mehr als 60 Spielfilmen meist angelsächsischen Ursprungs werden die Sonette in einzelnen Szenen mit der Handlung verknüpft. Außerdem existiert ein US-amerikanisches Projekt, jedes einzelne Sonett in je einem Kurzfilm mit unterschiedlichen Regisseuren und Darstellern zu verfilmen.[23] Mehrere Hörbuch-Verlage haben vollständige oder partielle Lesungen der Sonette, auch in Deutsch, produziert, unter anderem mit den Stimmen von Jürgen Hentsch, Michael Rotschopf, Jacques Breuer (nur die 52 Vanitas-Sonette), Daniel Friedrich und Peter Matić.

Siehe auch

Literatur (nur kommentierte Textausgaben in Auswahl)

Englische und deutsche Gesamtausgaben

  • Stephen Booth: Shakespeare's Sonnets, Yale University Press, New Haven und London 1977 (mit einem Faksimile der Erstausgabe von 1609)
  • Katherine Duncan-Jones: Shakespeare's Sonnets, The Arden Shakespeare, London 1997
  • John Kerrigan: William Shakespeare, The Sonnets and A Lover’s Complaint, Penguin Books, London 1999
  • Michael Mertes: Du, meine Rose, bist das All für mich. Die Sonette von William Shakespeare, Bonn 2014 (die zweite überarbeitete Fassung einer vollständigen Versübersetzung)
  • Klaus Reichert: William Shakespeare, Die Sonette – The Sonnets, zweisprachig, Frankfurt a. M. 2007 (eine vollständige Übersetzung in rhythmisierter Prosa)
  • Christa Schuenke: William Shakespeare: The Sonnets / Die Sonette, zweisprachig, Straelen am Niederrhein 1994 (Hardcover) und München 1999 (Taschenbuch) (eine vollständige Versübersetzung)
  • Helen Vendler: The Art of Shakespeare's Sonnets, Harvard University Press, Cambridge/Mass. und London 1999

Sammlungen unterschiedlicher Übersetzungen

  • THE SONNETS – Die Sonette – englisch und in ausgewählten deutschen Versübersetzungen mit Anmerkungen und Nachwort herausgegeben von Raimund Borgmeier – Reclam Stuttgart 1974 (und öfter), RUB 9729(3), ISBN 3-15-009729-0
  • Ulrich Erckenbrecht (Hrsg.): Shakespeare sechsundsechzig: Variationen über ein Sonett, dritte erweiterte Auflage, Muri Verlag, Kassel 2015 (212 deutsche Übersetzungen von Sonett 66)
  • Jürgen Gutsch (Hrsg.): „...lesen, wie krass schön du bist konkret“, William Shakespeare, Sonett 18, vermittelt durch deutsche Übersetzer, EDITION SIGNAThUR, Dozwil/TG/Schweiz 2. Auflage 2017 (223 deutsche Übersetzungen von Sonett 18)
  • Manfred Pfister, Jürgen Gutsch (Hrsg.): William Shakespeare’s Sonnets – For the First Time Globally Reprinted – A Quatercentenary Anthology 1609–2009 (with a DVD), 2 Bde., EDITION SIGNAThUR, Dozwil/TG/Schweiz 2009 und 2014 (Übersetzungen in mehr als 80 Sprachen der Welt mit sämtlichen über 700 vorgestellten Sonetten in originalsprachlicher Rezitation und einer Sammlung der medialen Transpositionen in Bilder, Vertonungen und Spielfilmszenen auf einer beiliegenden DVD)

Weblinks

Commons: Shakespeares Sonette - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema

Einzelnachweise

  1. Zu den Merkwürdigkeiten des von Thorpe herausgegebenen Zyklus gehört u. a. nicht nur die genreuntypische Nennung des Autornamens im Titel, sondern gleichermaßen das Fehlen einer Autorwidmung, die den finanziell ansonsten durchaus geschäftstüchtigen Shakespeare um eine wichtige Einnahmequelle brachte. Ebenso seltsam mutet die Widmung Thorpes an, die durchgängig unterschiedlich gedeutet werden kann. Vgl. zur Datierung der Entstehungszeit die zusammenfassenden Darstellung in Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-38605-2, S. 568–570.
  2. Siehe Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-38605-2, S. 568–570.
  3. Unter anderem mit genau diesem Argument schlug der Shakespeare-Forscher Geoffrey Caveney zu Anfang des Jahres 2015 (in Notes & Queries der Oxford University Press) vor, den Mr W. H. als einen mit Thomas Thorpe befreundeten Verleger namens William Holme zu identifizieren. Er wäre dann der Beschaffer des Sonett-Manuskripts. Stanley Wells, der Doyen unter den Shakespeare-Philologen, meinte dazu, dieser Vorschlag sei jedenfalls wahrscheinlicher als alle anderen. Nachgewiesen ist er gleichwohl nicht.
  4. Der amerikanische Forscher Joel Fineman (in Shakespeare's Perjured Eye: The Invention of Poetic Subjectivity in the Sonnets, UC Press, 1986, passim) sieht in Shakespeares Sonetten, so erläutert es Harold Bloom, „das Paradigma für alle Bisexualitäten, die Shakespeare (oder sonst ein Autor) geschaffen hat“. Für Bloom ist der Shakespeare der Sonette ein „skeptischer Ironiker“. (Harold Bloom, Shakespeare, die Erfindung des Menschlichen, deutsche Übersetzung Berlin 2000, S. 1017/1018.)
  5. Vgl. Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung (= Kröners Taschenausgabe. Band 397). Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-39701-3, S. 146–147: „Shakespeares Sonette an den jungen Mann stellen […] das homoerotische Potential des idealtypischen Dichterlobs mit besonderer Klarheit heraus. Dem jungen Mann eignet die männlich imaginierte >weibliche< Schönheit und Tugend, “a woman’s face” und “a woman’s gentle heart”, in vollkommenerer Weise als irgendeiner Frau (Sonett 20).“ Und weiter: „Mit allen Kunstmitteln, die ihm [dem Dichter] das epideiktische Genre zur Verfügung stellt, schreibt er Sonett um Sonett dem Freund die Trinität des Schönen, Guten und Wahren zu: „Fair, kind and true‚ is all my argument“ (Sonett 105)“. (Ebd., S. 147)
  6. : Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare. Chicago 1980
  7. Seit einmal die mehr oder weniger negative Bewertung der Sonette durch die frühen kritischen Herausgeber des 18. Jahrhunderts (z. B. durch Malone oder Eschenburg) überwunden ist, sind sich alle Shakespeare-Fachleute in der allgemeinen Wertschätzung der Sonette vollkommen einig, auch wenn es natürlich unterschiedliche Betrachtungsschwerpunkte gibt.
  8. “Most of these sonnets were addressed to a man. That can lead to a variety of nonsensical attitudes from exercises in special pleading to discreet whitewashing. It is also nonsensical, no matter how accurate your results may be, to waste time trying to identify characters. It is an idiot’s job, pointless and uninteresting. It is just gossip, and gossip, though it can be exceedingly interesting when the parties are alive, is not at all interesting when they’re dead.” (W. A. Auden, Lectures on Shakespeare, Princeton 2000, Vorlesung am 2. Dezember 1946.) – John Dover Wilson, einer der zahlreichen historisch-kritischen Herausgeber der Sonette Shakespeares kennzeichnet die einstmals ausufernde Enthüllungsliteratur in Bezug auf den fair friend so: „there they [the various theories about the identity of the Friend] lie, the whole wilderness of them, for the inspection of curious eyes, a strange chapter in this history of human folly.“ (John Dover Wilson, The Sonnets, Cambridge 1966, Introduction, S. 89)
  9. 1780 und erneut 1790 erschien Malones textkritische Ausgabe der Sonette zusammen mit anderen Werken Shakespeares.
  10. Johann Joachim Eschenburg, Ueber W. Shakspeare, Zürich 1787, darin ab S. 571 die erste deutsche Würdigung der Sonette.
  11. „Es verräth einen außerordentlichen Mangel an kritischem Scharfsinn, daß unter den Auslegern Shakespeare’s, die wir kennen, noch keiner darauf gefallen ist, seine Sonette für seine Lebensbeschreibung zu benutzen. Sie schildern ganz augenscheinlich wirkliche Lagen und Stimmungen des Dichters, sie machen uns mit den Leidenschaften des Menschen bekannt, ja sie enthalten auch sehr merkwürdige Geständnisse über seine jugendlichen Verirrungen.“ (A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, hrsg. von Giovanni Vittorio Amoretti, Bonn und Leipzig 1923, Band 2. S. 123/124.)
  12. Ludwig Tieck, „Über Shakspears Sonette einige Worte, nebst Proben einer Übersetzung derselben“, in: Penelope, Taschenbuch für das Jahr 1826, Leipzig 1826, S. 314–339. Dorothea Tiecks Gesamtübersetzung erschien erst 1992.
  13. In seinem Sonett Scorn not the Sonnet… von 1827.
  14. Die Sonett-Herausgeberin Katherine Duncan-Jones (Shakespeare’s Sonnets, London 1997 und öfter) nennt dies mit anderen „a narrative“.
  15. Letzteres wird seit den Publikationen von Stephen Greenblatt und anderen aus der Schule des „new historicism“ verstärkt wieder aufgegriffen.
  16. Zur Bedeutung der Sonette im Georgekreis vgl. Friedrich Gundolfs Übersetzungstorso, William Shakespeare, Friedrich Gundolf, 49 Sonette, hrsg. von Jürgen Gutsch, Dozwil 2011.
  17. Etwa in Hans Detlef Sierck, Sonette an den geliebten Knaben, Hamburg 1922.
  18. Etwa von Joseph Sobran, Alias Shakespeare. Solving the Greatest Literary Mystery of All Time, New York 1997.
  19. Shakespeares Sonette in Deutschland. Christa Jansohn unter Mitarbeit von Eymar Fertig (1931–2011), Bamberg/Wolfenbüttel, 2016, abgerufen am 24. Mai 2020.
  20. Gottlob Regis 1836, Emil Wagner 1840, Friedrich Bodenstedt 1856, Wilhelm Jordan 1861, Alexander Neidhardt 1865, Ferdinand Gelbcke 1867, Karl Simrock 1867, Hermann von Friesen 1869, Benno Tschischwitz 1870, Otto Gildemeister 1871, Fritz Krauss 1872, Alfred von Mauntz 1894.
  21. Annette Leithner-Brauns, „Shakespeares Sonette in deutschen Übersetzungen 1787-1994: eine bibliographische Übersicht“, ASSL 232 (1995), 285–316. – Eymar Fertig, „Nachtrag zur Bibliographie ‚Shakespeares Sonette in deutschen Übersetzungen 1787-1994‘, erweitert durch szenische und musikalische Gestaltungen. Berichtszeit 1784-1998“, ASSL 236 (1999), 265–324.
  22. GVLIELMI SHAKESPEARE CARMINA QVAE SONNETS NVNCVPANTVR LATINE REDDITA AB ALFREDO THOMA BARTON EDENDA CVRAVIT JOANNES HARROWER, London 1933. Eine kommentierte Neuausgabe dieser lateinischen Übersetzung, hrsg. von Ludwig Bernays erschien in der EDITION SIGNAThUR, Dozwil 2006.
  23. sonnetprojectnyc.com


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