Lernpsychologie und Konstrukt: Unterschied zwischen den Seiten

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Die '''Lernpsychologie''' beschäftigt sich mit den [[Psychologie|psychologischen]] Vorgängen des [[Lernen]]s und ähnlichen [[Kognition| kognitiven]] Prozessen, also damit, wie Menschen oder Tiere Informationen erwerben, verarbeiten und speichern. Produkte dieser Wissenschaft sind [[Lerntheorie]]n.
Ein '''Konstrukt''' ist ein nicht direkt empirisch verifizierbarer Sachverhalt, dessen Existenz im Rahmen einer [[wissenschaft]]lichen [[Theorie]] nut indirekt aus anderen empirisch zugänglichen Faktoren erschlossen wird. Dieser Vorgang wird als '''Operationalisierung''' oder '''Messbarmachung''' bezeichnet wird. So ist etwa die menschliche [[Intelligenz]] empirisch nicht unmittelbar zugänglich, weshalb versucht wird, sie indirekt durch entsprechende [[Wikipedia:Intelligenztest|Intelligenztest]]s zu bestimmen.
 
Nachbardisziplinen sind auf der Grundlagenseite die [[Verhaltensbiologie|Verhaltensforschung]], die [[Neurobiologie]] und [[Hirnforschung]], sowie auf der Anwendungsseite die [[Wikipedia:Pädagogische Psychologie|Pädagogische Psychologie]] und die [[Didaktik]].
 
Während die [[Philosophie|philosophische]] Theorie Lernen lange rein spekulativ erklärte, z. B. [[Platon]] als Wiedererinnerung an Wissen vor der Geburt, entstand etwa mit Beginn des 20. Jahrhunderts eine experimentell-naturwissenschaftlich orientierte Lerntheorie.
 
== Geschichtliche Übersicht ==
=== Anfänge (um 1900) ===
Am Anfang stand der Versuch, seelische Vorgänge durch experimentelle [[Selbstbeobachtung]] (Introspektion) zu erforschen. Dies leisteten in Deutschland zuerst [[Wilhelm Wundt]] (1879) und [[Hermann Ebbinghaus]], dessen Buch über die Experimente mit seinen eigenen Gedächtnisleistungen (mit sinnfreiem Lernmaterial) 1885 erschien. Sie bildeten die Grundlage für die ''Experimentelle Gedächtnispsychologie'', die einige Regeln und Gesetze formulierte:
* das Ebbinghaus-Gesetz,
* die [[Lernkurve]] (geringfügig vermehrter Lernstoff erfordert beträchtlich mehr Wiederholungen),
* die [[Vergessenskurve]] (Verlust anfänglich am stärksten),
* die [[Adolf Jost|Jostsche]] Gesetze (im Zweifel behält man das zuerst Gelernte),
* den [[Primäreffekt|Primär-]] und [[Rezenzeffekt]] (sogenannter [[Primacy-Recency-Effekt]]: die Elemente in der Mitte lernt man am schwersten).
 
Wegen der Unsicherheit der Selbstbeobachtungsmethode begannen andere Psychologen, Experimente zum Lernen an Tieren durchzuführen. In den USA entstand aus der Kritik an der Selbstbeobachtung der [[Behaviorismus]]. Aus einer Verbindung von [[Assoziation (Psychologie)|Assoziationspsychologie]], [[Reflexologie]] und Behaviorismus im ''[[Konnektionismus]]'' entwickelte [[Edward Lee Thorndike]] 1898 eine Lerntheorie, die das [[Reiz-Reaktions-Modell|Reiz-Reaktions-Schema]] um den Aspekt „[[Verstärkung (Psychologie)|Verstärkung]]“ erweiterte: Aus zufallsverteiltem Verhalten wird dasjenige ''gelernt'', das kontingent (unmittelbar und spezifisch) und ausreichend häufig ''verstärkt'' wird. Thorndikes Regeln für „[[Instrumentelle und operante Konditionierung|Instrumentelles Konditionieren]]“ und für erfolgreiches Lernen sind:
* Gesetz der [[Bereitschaft]] (''law of readiness'')
* Gesetz der [[Wirkung]] (''law of effect'')
* Gesetz der [[Übung]] (''law of exercise'')
 
=== Theorien im frühen 20. Jahrhundert ===
Aus seiner Forschung über die Verdauungssekrete von [[Pawlowscher Hund|Hunden]] entstand die klassische Reflexologie des russischen Physiologen [[Iwan Petrowitsch Pawlow|Iwan Pawlow]], der ab 1905 die Regeln für die [[klassische Konditionierung]] fand.
 
In Fortsetzung von Thorndikes Arbeit schuf [[Burrhus Frederic Skinner|Skinner]] die Regeln für „[[Wikipedia:Instrumentelle und operante Konditionierung|Operantes Konditionieren]]“. Einige konkrete pädagogische Anwendungen bestehen bis in die Gegenwart; die ''[[Wikipedia:Programmierte Unterweisung|Programmierte Unterweisung]]'' (1960er bis 1980er Jahre) und die ''(Pädagogische) Verhaltensmodifikation''.
 
Eine Gegenauffassung vertrat die [[Gestaltpsychologie]] bzw. [[Gestalttheorie]]: ''Lernen als [[Einsicht]]'' und produktives Denken (Karl Duncker, Max Wertheimer). Gelernt wird nicht durch Gewöhnung an die richtige (effektivste) Verfahrensweise in vielen Versuchen mit rein zufälligen Variationen (Behaviorismus), sondern durch Erkennen der effektivsten Verfahrensweise für ein [[Problem]]. Die Struktur der Ausgangssituation sowie Erfahrung (Problemraum), [[Intelligenz]] und die Ziele des lernenden Wesens beeinflussen diese Einsicht in die richtige [[Problemlösen|Problemlösung]], bei der bestimmte Teillösungen dann so ineinandergreifen, dass der Lösungsweg eine einsichtige ''[[Gestalt]]-Form'' annimmt. Eine Lösung kann somit in nur einem Versuch gefunden und für immer gelernt werden. Auch kann der Mensch Fehlendes selbstständig zur „Gestalt“ ergänzen, Lernen ist nicht bloßes Abbilden.<ref>siehe Max Wertheimer 1957, ''Produktives Denken'' (Deutsche Übersetzung von ''Productive Thinking'' durch Wolfgang Metzger), Frankfurt: Waldemar Kramer; Karl Duncker 1935, ''Zur Psychologie des produktiven Denkens'', Berlin: Springer; Ferdinand Herget 2001, ''Einsichtiges Lernen'', Berlin: Lit-Verlag.</ref>
 
=== „Kognitive Wende“ um ca. 1960 ===
{{Hauptartikel|Kognitive Wende}}
Einen neuen Einschnitt bildete die Entwicklungstheorie von [[Jean Piaget]] (1896–1980, Epistemologischer Funktionalismus), der die im Lernenden entwickelten kognitiven Strukturen und Stufen als Voraussetzung des Lernaktes betont und auf das Alter aufmerksam macht. Der Mensch lernt nicht durch Abbildung der Außenwelt, sondern nimmt die Außenwelt je nach erreichtem Stadium in der kognitiven Entwicklung anders wahr. Die Entwicklung selbst vollzieht sich nicht einfach als Reifung, sondern im Wechselspiel von Lerner und Umwelt. Damit war ein breites Feld geschaffen für die [[Kognitionspsychologie]] (z.&nbsp;B. ''Cognitive Psychology'' von [[Ulrich Neisser]], 1967) und Bedeutung erzeugendes, generatives, [[entdeckendes Lernen]] (in den USA [[David Paul Ausubel]], [[Jerome Bruner]], in der Schweiz [[Hans Aebli]], und Deutschland [[Manfred Wittrock]])
 
In Abkehr vom Black-Box-Modell der [[behavioristisch]]en Verhaltenspsychologie will man die im Lernenden ablaufenden Prozesse der Informationsverarbeitung ''erklären''. Es ist also ein [[Paradigmenwechsel]] und eine Entwicklung von der behavioristischen zu einer kognitiven Denkweise, die zwar die Black-Box immer noch nicht durchleuchten kann, sich dessen aber ''bewusst'' ist.
 
Sozial-kognitives [[Modell-Lernen]]: Ältere Theorien, die Lernen nur auf äußerliche [[Nachahmung (Soziologie)|Imitation]] oder innere [[Identifikation (Psychologie)|Identifikation]] zurückführten, wurden durch das kognitiv orientierte Modell-Lernen erweitert, das, ausgehend vom aggressiven Verhalten Jugendlicher, ab 1963 der Kanadier [[Albert Bandura]] wesentlich prägte.
 
Von großer Bedeutung für die Lernpsychologie war ferner die Unterscheidung verschiedener Speicherformen im [[Gedächtnis]]: das Sensorische Gedächtnis, das [[Kurzzeitgedächtnis|Kurzzeit-]] oder [[Arbeitsgedächtnis]] und das [[Langzeitgedächtnis]] (R.&nbsp;C. Atkinson und R.&nbsp;M. Shiffrin, 1968). Die Forschung weist bis in die Gegenwart zahlreiche Weiterentwicklungen dieser Theorie auf, die den komplizierten Weg der kognitiven Verarbeitung zum nachhaltigen Wissen und Können aufzeigen.
 
=== Konstruktivismus ===
Daraus entstanden konstruktivistische Lerntheorien, die ein Fundament im erkenntnistheoretischen ''[[Konstruktivismus (Philosophie)|Konstruktivismus]]'' hatten: [[konstruktivistische Didaktik|Didaktischer Konstruktivismus]] und ''Lernen als Wissenskonstruktion''.
 
Der Begriff ''[[Lernen]]'' wird gegenwärtig wesentlich weiter gefasst als beim [[Auswendiglernen]] der frühen [[Gedächtnis]]&shy;forschung, ablesbar an der Vielzahl der denkbaren Ziele des Lernens:
* Lernen mit dem Ziel ''Können'', das Automatisieren von Fähigkeiten zu geistigen und motorischen Fertigkeiten;
* Lernen mit dem Ziel ''[[Problemlösen]]'';
* Lernen mit dem Ziel ''Behalten und Präsenthalten von Wissen'';
* Lernen von ''Verfahren'' ([[Lernen lernen]], Arbeiten lernen, Nachschlagen lernen, kritisch [[Schriftspracherwerb|Lesen lernen]]);
* Lernen zur Steigerung der Fähigkeiten und Kräfte mit dem Ziel späterer ''Übertragung'' (formale Bildung: die klassische Begründung, [[Latein]] lernen zu lassen);
* Lernen mit dem Ziel des Aufbaus einer ''[[Gesinnung]]'', ''Werthaltung'', ''Einstellung'';
* Lernen mit dem Ziel, vertieftes ''Interesse'' an einem Gegenstand zu gewinnen;
* Lernen mit dem Ziel einer ''Verhaltensänderung'' (Roth 1963 nach Seel 2003).
 
Lernen ist etwas anderes als ''Gewöhnung''. Lernen ist ein Merkmal intelligenten Verhaltens. Lernen und [[Denken]] geschehen unter Zuhilfenahme von (gestischen, bildhaften, sprachlichen, symbolischen) ''Zeichen''. Denken schafft neues Wissen auf der Basis des bereits vorhandenen. „Der bedeutendste Einzelfaktor, der Lernen beeinflusst, ist, was der Lernende bereits weiß.“ (Ausubel 1968 nach Seel 2003).
 
Neueste Ansätze erweitern das kognitiv-konstruktivistische Modell, indem sie auch [[motivation]]ale, [[affekt]]ive und [[Soziokultureller Konstruktivismus|sozio-kulturelle]] Variablen berücksichtigen.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Lernpsychologie}}
* {{WikipediaDE|Lerngeschichte}}
* {{WikipediaDE|Affektiver Filter}}
== Literatur ==
* Ulrich Neisser: ''Kognitive Psychologie.'' Stuttgart 1974.
* George Mandler: ''A history of modern experimental psychology: From James and Wundt to cognitive science.'' Cambridge, MA: MIT Press 2007.
* Hans Aebli: ''Denken: Das Ordnen des Tuns.'' 2 Bände, Stuttgart 1980–81.
* Robert M. Gagné: ''Die Bedingungen menschlichen Lernens.'' Hannover 1980 (in USA 1965).
* Geoffrey Caine, Renate N. Caine: ''Making Connections: Teaching and the Human Brain.'' 1991; ''revised paperback edition: Dale Seymour Publications'' 1994.
* Walter Edelmann: ''Lernpsychologie.'' 6. Auflage. Psychologie Verlags Union, Weinheim 2000.
* Norbert M. Seel: ''Psychologie des Lernens.'' 2. Auflage. Ernst Reinardt (UTB), München 2003.
* Guy Lefrançois: ''Psychologie des Lernens.'' 4. erweiterte Auflage. Springer, Berlin 2008.
== Weblinks ==
* http://www.lern-psychologie.de Interaktive Lernumgebung der Universität Duisburg-Essen (Plassmann / Schmitt)
* [http://www.ag-lernen.de Arbeitsgruppe Lernen]
== Einzelnachweise ==
<references />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4074166-7}}


[[Kategorie:Psychologie nach Fachgebiet]]
* {{WikipediaDE|Konstrukt}}
[[Kategorie:Psychologisches Fachgebiet]]
[[Kategorie:Lernpsychologie|!]]
[[Kategorie:Lernen]]


{{Wikipedia}}
[[Wissenschaftstheorie]]

Version vom 23. September 2018, 22:17 Uhr

Ein Konstrukt ist ein nicht direkt empirisch verifizierbarer Sachverhalt, dessen Existenz im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie nut indirekt aus anderen empirisch zugänglichen Faktoren erschlossen wird. Dieser Vorgang wird als Operationalisierung oder Messbarmachung bezeichnet wird. So ist etwa die menschliche Intelligenz empirisch nicht unmittelbar zugänglich, weshalb versucht wird, sie indirekt durch entsprechende Intelligenztests zu bestimmen.

Siehe auch

Wissenschaftstheorie