Reines Denken

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Mit dem reinen Denken, das zugleich ein aktives, bildhaftes und lebendiges Denken ist, beginnt die unmittelbare geistige Erfahrung. Es unterscheidet sich dadurch von der gewöhnlichen Verstandestätigkeit, durch die wir die sinnlichen Erfahrungen denkend zu durchdringen versuchen. Wir bedienen uns dabei des physischen Gehirns als Werkzeug. Zwar ist es nicht das Gehirn, das denkt, aber das Gehirn spiegelt uns unsere eigene geistige Tätigkeit in Form der Verstandesgedanken zurück und bringt sie uns erst dadurch zu Bewusstsein. Durch den vorurteilslosen Verstand können wir zwar, wie Rudolf Steiner immer wieder sehr nachdrücklich betont hat, grundsäzlich geistige Inhalte begreifen, aber doch nicht unmittelbar erleben. Das wird erst durch das reine, sinnlichkeitsfreie Denken möglich.

Die Vernunft als keimhafter Anfang eines neuen Hellsehens

"Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann.

Nun könnten Sie ja die Alternative aufstellen und sagen: Also glaubst du, daß wir schon alle hellsichtig sind, wenn auch nur ein Winziges, oder daß diejenigen unter uns, die nicht hellsichtig sind, es auch nie werden können? - Sehen Sie, darauf kommt es an, daß man versteht, daß der erste Fall der Alternative richtig ist: Es gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt wird.

Verzeihen Sie einen etwas groben Vergleich: Wenn eine Perle am Wege liegt und ein Huhn findet sie, so schätzt das Huhn die Perle nicht besonders. Solche Hühner sind die modernen Menschen zumeist. Sie schätzen die Perle, die ganz offen daliegt, gar nicht, sie schätzen etwas ganz anderes, sie schätzen nämlich ihre Vorstellungen. Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfange an. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz Alltägliches eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt.

Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im achtzehnten Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch, erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit», wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigem Erkennen kommen...

Für den heutigen Menschen ist eines notwendig, wenn er zu einer innerlich erlebten Wahrheit kommen will. Wenn er wirklich einmal innerlich Wahrheit erleben will, dann muß der Mensch einmal durchgemacht haben das Gefühl der Vergänglichkeit aller äußeren Verwandlungen, dann muß der Mensch die Stimmung der unendlichen Trauer, der unendlichen Tragik und das Frohlocken der Seligkeit zugleich erlebt haben, erlebt haben den Hauch, den Vergänglichkeit aus den Dingen ausströmt. Er muß sein Interesse haben fesseln können an diesen Hauch des Werdens, des Entstehens und der Vergänglichkeit der Sinnenwelt. Dann muß der Mensch, wenn er höchsten Schmerz und höchste Seligkeit an der Außenwelt hat empfinden können, einmal so recht allein gewesen sein, allein gewesen sein nur mit seinen Begriffen und Ideen; dann muß er einmal empfunden haben: Ja, in diesen Begriffen und Ideen, da fassest du doch das Weltengeheimnis, das Weltgeschehen an einem Zipfel - derselbe Ausdruck, den ich einstmals gebraucht habe in meiner «Philosophie der Freiheit» -. Aber erleben muß man dieses, nicht bloß verstandesmäßig begreifen, und wenn man es erleben will, erlebt man es in völligster Einsamkeit.

Und man hat dann noch ein Nebengefühl. Auf der einen Seite erlebt man die Grandiosität der Ideenwelt, die sich ausspannt über das All, auf der anderen Seite erlebt man mit der tiefsten Bitternis, daß man sich trennen muß von Raum und Zeit, wenn man mit seinen Begriffen und Ideen Zusammensein will. Einsamkeit! Man erlebt die frostige Kälte. Und weiter enthüllt sich einem, daß die Ideenwelt sich jetzt wie in einem Punkte zusammengezogen hat, wie in einem Punkte dieser Einsamkeit. Man erlebt: Jetzt bist du mit ihr allein. - Man muß das erleben können. Man erlebt dann das Irrewerden an dieser Ideenwelt, ein Erlebnis, das einen tief aufwühlt in der Seele. Dann erlebt man es, daß man sich sagt: Vielleicht bist du das alles doch nur selber, vielleicht ist an diesen Gesetzen nur wahr, daß es lebt in dem Punkte deiner eigenen Einsamkeit. - Dann erlebt man, ins Unendliche vergrößert, alle Zweifel am Sein.

Wenn man dieses Erlebnis in seiner Ideenwelt hat, wenn sich aller Zweifel am Sein schmerzlich und bitter abgeladen hat auf die Seele, dann erst ist man im Grunde reif dazu, zu verstehen, wie es doch nicht die unendlichen Räume und die unendlichen Zeiten der physischen Welt sind, die einem die Ideen gegeben haben. Jetzt erst, nach dem bitteren Zweifel, öffnet man sich den Regionen des Spirituellen und weiß, daß der Zweifel berechtigt war, und wie er berechtigt war. Denn er mußte berechtigt sein, weil man geglaubt hat, daß die Ideen aus den Zeiten und Räumen in die Seele gekommen seien. Aber was empfindet man jetzt? Als was empfindet man die Ideenwelt, nachdem man sie erlebt hat aus den spirituellen Welten heraus? Jetzt fühlt man sich zum ersten Male inspiriert, jetzt beginnt man, während man früher wie einen Abgrund die unendliche Öde um sich ausgedehnt empfunden hat, jetzt beginnt man sich zu fühlen wie auf einem Felsen stehend, der aus dem Abgrunde emporwächst, und man fühlt sich so, daß man weiß: Jetzt bist du in Verbindung mit den geistigen Welten, diese und nicht die Sinnenwelt haben dich mit der Ideenwelt beschenkt." (Lit.: GA 146, S. 34ff)

Herzdenken

Hauptartikel: Herzdenken

Das Herzdenken ist eine Fähigkeit, über die die Menschen in alten Zeiten auf unbewusste Art verfügten. Es war mit einem sicheren Wahrheitsgefühl verbunden, das zwar noch nicht in klare, bewusste Konturen gefasst werden konnte, aber doch gewisse Einblicke in die höheren, geistigen Welten ermöglichte. Selbst Aristoteles hat noch das Herz als das Zentralorgan des Denkens angesehen. Er hat aber zugleich mit seiner Logik die sichere Basis für das Verstandesdenken gelegt, das nicht mehr im Herzen, sondern im Kopf zentriert ist.

In Zukunft wird sich eine neue Art des Herzdenkens entwickeln, das mit dem vollwachen Ich-Bewusstsein vereinbar ist, und so auf ganz bewusste und besonnene Weise den Einblick in rein geistige Zusammenhänge erlaubt. Es wird sich wesentlich von unserem gegenwärtigen Verstand unterscheiden, indem es kein diskursives, ableitendes Denken ist, sondern die Wahrheit mit einem Blick überschaut. Dieses neue Herzdenken entfaltet sich nicht in einer Kette logisch aneinander gefügter Begriffe, sondern in innerlich erlebten seelischen Sinnbildern, die mit einem Schlag die geistigen Zusammenhänge offenbaren. Es ist zugleich ein sinnlichkeitsfreies, d.h. reines Denken.

Reines Denken und Ätherleib

Im reinen Denken spiegelt sich unsere Denktätigkeit, die aus der Quelle des Ichs entspringt, nicht am physischen Leib, sondern am Ätherleib.

"Bei unserem Gehirndenken geht das so vor sich, daß die Gedankentätigkeit sich entwickelt in dem ätherischen Gehirn, an dem physischen Nervensystem zurückprallt, und daß uns dadurch die Gedanken zum Bewußtsein kommen. Beim Hellsehen stoßen wir gleichsam das Gehirn zurück. Wir denken mit dem astralischen Leibe, und es wird uns schon das Denken zurückgeworfen durch den Ätherleib." (Lit.: GA 161, S. 246)

Lebendiges Denken

Rudolf Steiner, Urpflanze, Aquarell 1924

Wir erleben dabei zunächst die lebendigen Formen, die unser Denken dem Wärmeäther einprägt. Das reine Denken ist damit zugleich ein lebendiges Denken, dass sich nicht in starren Begriffen und Definitionen, sondern in entwicklungsfähigen, sich lebendig metamorphosierenden Gedankenformen vollzieht. Ohne genügender Herzenswärme können diese nicht als leibfreie Gedanken überleben; sie erkalten und erstarren sonst und verbinden sich dann notwendig mit dem physischen Leib. Die reinen Gedanken sind also in gewissem Sinn ätherische Wärmelebewesen und damit verwandt den Naturelementarwesen, die im Feuer leben – den Salamandern, die die Früchte und Samen reifen lassen. Diese lebendigen reinen Gedanken werden als feurige Begeisterung des Denkens erlebt. Und dieses Feuer erweist sich sogleich als die ihnen innewohnende unbändige Willenskraft, die so stark gefühlt werden kann, dass man sie als wirklicher als die äußere Sinneswelt erlebt. Hier ist der Punkt, wo man sich der eigenständigen Wirklichkeit des Geistigen erstmals aus eigener Erfahrung mit absoluter Sicherheit bewusst wird. Die Gedankenlebewesen machen sehr stark ihren Eigenwillen deutlich, so dass wir jetzt wissen: Es denkt in mir. Indem wir uns ihnen objektiv gegenüberstellen, lassen sie uns dennoch völlig frei. Sie zwingen uns ebensowenig als wir sie zu zwingen vermögen. So intensiv und großartig dieses Erlebnis des reinen Denkens ist – es ist in diesem Sinne nicht überwältigend!

Nur im reinen, lebendigen Denken lässt sich Lebendiges erfassen, wie es etwa Goethe in der Anschauung der Urpflanze gelungen ist.

"Wenn man in dem Sinn, wie ich es charakterisiert habe, versucht, zu einer geistigen Anschauung aufzusteigen, dann kommt man, indem man durchaus von dem geschulten naturwissenschaftlichen Denken der Gegenwart ausgeht, zu dem, was ich charakterisierte als ein lebendiges Denken, als ein bildhaftes Denken. Mit diesem bildhaften Denken fühlt man sich nun auch gerüstet, dasjenige, ich möchte sagen, wie mathematisch, aber jetzt qualitativ, zu begreifen, was mit der gewöhnlichen Mathematik und Geometrie nicht zu begreifen ist: das Lebendige." (Lit.: GA 083, S. 94)

lebendiges Denken als Aufstieg vom Reich der Geister der Form zu dem der Geister der Bewegung

"Der Mensch erlebt in sich das, was wir den Gedanken nennen können, und in dem Gedanken kann sich der Mensch als etwas unmittelbar Tätiges, als etwas, was seine Tätigkeit überschauen kann, erfühlen. Wenn wir irgendein äußeres Ding betrachten, zum Beispiel eine Rose oder einen Stein, und wir stellen dieses äußere Ding vor, so kann jemand mit Recht sagen: Du kannst niemals eigentlich wissen, wieviel du in dem Steine oder in der Rose, indem du sie vorstellst, von dem Ding, von der Pflanze, eigentlich hast. Du siehst die Rose, ihre äußere Röte, ihre Form, wie sie in einzelne Blumenblätter abgeteilt ist, du siehst den Stein mit seiner Farbe, mit seinen verschiedenen Ecken, aber du mußt dir immer sagen: Da kann noch etwas drinnenstecken, was dir nicht nach außen hin erscheint. Du weißt nicht, wieviel du in deiner Vorstellung von dem Steine, von der Rose eigentlich hast.

Wenn aber jemand einen Gedanken hat, dann ist er es selber, der diesen Gedanken macht. Man möchte sagen, in jeder Faser dieses seines Gedankens ist er drinnen. Daher ist er für den ganzen Gedanken ein Teilnehmer seiner Tätigkeit. Er weiß: Was in dem Gedanken ist, das habe ich so in den Gedanken hineingedacht, und was ich nicht in den Gedanken hineingedacht habe, das kann auch nicht in ihm drinnen sein. Ich überschaue den Gedanken. Keiner kann behaupten, wenn ich einen Gedanken vorstelle, da könnte in dem Gedanken noch so und so viel anderes drinnen sein wie in der Rose und in dem Stein; denn ich habe ja selber den Gedanken erzeugt, bin in ihm gegenwärtig, weiß also, was drinnen ist.

Wirklich, der Gedanke ist unser Ureigenstes. Finden wir die Beziehung des Gedankens zum Kosmos, zum Weltall, dann finden wir die Beziehung unseres Ureigensten zum Kosmos, zum Weltall... Das also, was eben gesagt worden ist, verspricht uns, daß der Mensch, wenn er sich an das hält, was er im Gedanken hat, eine intime Beziehung seines Wesens zum Weltall, zum Kosmos, finden kann.

Nur hat die Sache eine Schwierigkeit, wenn wir uns auf diesen Gesichtspunkt begeben wollen, eine große Schwierigkeit. Ich meine nicht für unsere Betrachtung, aber für den objektiven Tatbestand hat es eine große Schwierigkeit. Und diese Schwierigkeit besteht darin, daß es zwar wahr ist, daß man in jeder Faser des Gedankens drinnen lebt und daher den Gedanken, wenn man ihn hat, vor allen Vorstellungen am intimsten kennen muß; aber, ja aber - die meisten Menschen haben keine Gedanken! Und dies wird gewöhnlich nicht mit aller Gründlichkeit durchdacht, daß die meisten Menschen keine Gedanken haben. Aus dem Grunde wird es nicht mit aller Gründlichkeit durchdacht, weil man dazu - eben Gedanken brauchte! Auf eines muß zunächst aufmerksam gemacht werden. Was im weitesten Umkreise unseres Lebens die Menschen verhindert, Gedanken zu haben, das ist, daß die Menschen für den gewöhnlichen Gebrauch des Lebens gar nicht immer das Bedürfnis haben, wirklich bis zum Gedanken vorzudringen, sondern daß sie statt des Gedankens sich mit dem Worte begnügen. Das meiste von dem, was man im gewöhnlichen Leben Denken nennt, verläuft nämlich in Worten. Man denkt in Worten. Viel mehr, als man glaubt, denkt man in Worten. Und viele Menschen sind, wenn sie nach einer Erklärung von dem oder jenem verlangen, damit zufrieden, daß man ihnen irgendein Wort sagt, das einen für sie bekannten Klang hat, das sie an dieses oder jenes erinnert; und dann halten sie das, was sie bei einem solchen Wort empfinden, für eine Erklärung und glauben, sie hätten dann den Gedanken.

Ja, das, was ich eben gesagt habe, das hat in der Entwickelung des menschlichen Geisteslebens zu einer bestimmten Zeit dazu geführt, eine Ansicht heraufzubringen, welche heute noch viele Menschen, die sich Denker nennen, teilen. In der Neuauflage meiner «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» habe ich versucht, dieses Buch ganz gründlich umzugestalten, indem ich eine Entwickelungsgeschichte des abendländischen Gedankens vorausgeschickt habe, angefangen vom 6. vorchristlichen Jahrhundert bis herauf ins 19. Jahrhundert, und indem ich dann am Schlüsse zu dem, was gegeben war, als das Buch zuerst erschien, hinzufügte eine Darstellung des, sagen wir, gedanklichen Geisteslebens bis in unsere Tage herein. Auch der Inhalt, der schon da war, ist vielfach umgestaltet worden. Da habe ich denn zu zeigen gehabt, wie der Gedanke in einem bestimmten Zeitalter eigentlich erst entsteht. Er entsteht wirklich erst, man könnte sagen, um das 6. oder 8. vorchristliche Jahrhundert. Vorher erlebten die menschlichen Seelen gar nicht das, was man im rechten Sinne des Wortes Gedanken nennen kann. Was erlebten die menschlichen Seelen vorher? Sie erlebten vorher Bilder. Und alles Erleben der Außenwelt geschah in Bildern. Von gewissen Gesichtspunkten aus habe ich das oftmals gesagt. Dieses Bilder-Erleben ist die letzte Phase des alten hellseherischen Erlebens. Dann geht für die menschliche Seele das Bild in den Gedanken über.

Was ich in diesem Buche beabsichtigte, ist, dieses Ergebnis der Geisteswissenschaft einmal rein durch Verfolgung der philosophischen Entwickelung zu zeigen. Ganz nur auf dem Boden der philosophischen Wissenschaft bleibend, wird gezeigt, daß der Gedanke einmal im alten Griechenland geboren worden ist, daß er entsteht dadurch, daß er herausspringt für das menschliche Seelenerleben aus dem alten sinnbildlichen Erleben der Außenwelt. Dann versuchte ich zu zeigen, wie dieser Gedanke weitergeht in Sokrates, in Plato, Aristoteles, wie er bestimmte Formen annimmt, wie er sich weiter heraufentwickelt und dann im Mittelalter zu dem führt, was ich jetzt erwähnen will.

Zu dem Zweifel führt die Entwickelung des Gedankens, ob es dasjenige überhaupt geben könne in der Welt, was man allgemeine Gedanken, allgemeine Begriffe nennt, zu dem sogenannten Nominalismus, zu der philosophischen Anschauung, daß die allgemeinen Begriffe nur Namen sein können, also überhaupt nur Worte. Es gab also für diesen allgemeinen Gedanken sogar die philosophische Anschauung, und viele haben sie noch heute, daß diese allgemeinen Gedanken überhaupt nur Worte sein können.

Nehmen wir einmal, um uns das zu verdeutlichen, was eben gesagt worden ist, einen leicht überschaubaren und zwar allgemeinen Begriff; nehmen wir den Begriff «Dreieck» als allgemeinen Begriff. Derjenige nun, der da mit seinem Standpunkte des Nominalismus kommt, der nicht hinwegkommen kann von dem, was als Nominalismus sich in dieser Beziehung ausgebildet hat in der Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts, der sagt etwa folgendes: Zeichne mir ein Dreieck hin! - Gut, ich werde ihm ein Dreieck hinzeichnen, zum Beispiel ein solches:

Schön, sagt er, das ist ein besonderes, spezielles Dreieck mit drei spitzen Winkeln, das gibt es. Aber ich werde dir ein anderes hinzeichnen. - Und er zeichnet ein Dreieck hin, das einen rechten Winkel hat, und ein solches, das einen sogenannten stumpfen Winkel hat.

So, jetzt nennen wir das erste ein spitzwinkliges Dreieck, das zweite ein rechtwinkliges und das dritte ein stumpfwinkliges. Da sagt der Betreffende: Das glaube ich dir, es gibt ein spitzwinkliges, ein rechtwinkliges und ein stumpfwinkliges Dreieck. Aber das alles ist ja nicht das Dreieck. Das allgemeine Dreieck muß alles enthalten, was ein Dreieck enthalten kann. Unter den allgemeinen Gedanken des Dreiecks muß das erste, das zweite und das dritte Dreieck fallen. Es kann aber doch nicht ein Dreieck, das spitzwinklig ist, zugleich rechtwinklig und stumpfwinklig sein. Ein Dreieck, das spitzwinklig ist, ist ein spezielles, ist nicht ein allgemeines Dreieck; ebenso ist ein rechtwinkliges und ein stumpfwinkliges Dreieck ein spezielles. Ein allgemeines Dreieck kann es aber nicht geben. Also ist das allgemeine Dreieck ein Wort, das die speziellen Dreiecke zusammenfaßt. Aber den allgemeinen Begriff des Dreiecks gibt es nicht. Das ist ein Wort, das die Einzelheiten zusammenfaßt.

Das geht natürlich weiter. Nehmen wir an, es spricht jemand das Wort Löwe aus. Nun sagt der, welcher auf dem Standpunkt des Nominalismus steht: Im Berliner Tiergarten ist ein Löwe, im Hannoverschen Tiergarten ist auch ein Löwe, im Münchner Tiergarten ist auch einer. Die einzelnen Löwen gibt es; aber einen allgemeinen Löwen, der etwas zu tun haben sollte mit dem Berliner, Hannoverschen und Münchner Löwen, den gibt es nicht. Das ist ein bloßes Wort, das die einzelnen Löwen zusammenfaßt. Es gibt nur einzelne Dinge, und es gibt außer den einzelnen Dingen, so sagt der Nominalist, nichts als Worte, welche die einzelnen Dinge zusammenfassen.

Diese Anschauung, wie gesagt, ist heraufgekommen; sie vertreten heute noch scharfsinnige Logiker. Und wer sich die Sache, die jetzt eben auseinandergesetzt worden ist, ein wenig überlegt, wird sich auch im Grunde genommen gestehen müssen: Es liegt da doch etwas Besonderes vor; ich kann nicht so ohne weiteres darauf kommen, ob es nun wirklich diesen «Löwen im allgemeinen» und das «Dreieck im allgemeinen» gibt, denn ich sehe es ja nicht recht. Wenn nun wirklich jemand käme, der sagen würde: Sieh einmal, lieber Freund, ich kann dir nicht zubilligen, daß du mir den Münchner, den Hannoverschen oder den Berliner Löwen zeigst. Wenn du behauptest, es gäbe den Löwen «im allgemeinen», so mußt du mich irgendwo hinführen, wo es den «Löwen im allgemeinen» gibt. Wenn du mir aber den Münchner, den Hannoverschen und den Berliner Löwen zeigst, so hast du mir nicht bewiesen, daß es den «Löwen im allgemeinen» gibt. - Wenn jemand käme, der diese Anschauung hat, und man sollte ihm den «Löwen im allgemeinen» zeigen, so würde man zunächst etwas in Verlegenheit geraten. Es ist nicht so leicht, die Frage zu beantworten, wo man den Betreffenden hinführen soll, dem man den «Löwen im allgemeinen» zeigen soll.

Nun, wir wollen jetzt nicht zu dem gehen, was uns die Geisteswissenschaft gibt; das wird schon noch kommen. Wir wollen einmal beim Denken bleiben, wollen bei dem bleiben, was durch das Denken erreicht werden kann, und wir werden uns sagen müssen: Wenn wir auf diesem Boden bleiben wollen, so geht es eben nicht recht, daß wir irgendeinen Zweifler zum «Löwen im allgemeinen» hinführen. Das geht wirklich nicht. Hier liegt eine der Schwierigkeiten vor, die man einfach zugeben muß. Denn will man auf dem Gebiete des gewöhnlichen Denkens diese Schwierigkeit nicht zugeben, dann läßt man sich eben nicht auf die Schwierigkeit des menschlichen Denkens überhaupt ein.

Bleiben wir beim Dreieck; denn schließlich ist es für die allgemeine Sache gleichgültig, ob wir uns die Sache am Dreieck, am Löwen oder an etwas anderem klarmachen. Zunächst erscheint es aussichtslos, daß wir ein allgemeines Dreieck hinzeichnen, das alle Eigenschaften, alle Dreiecke enthält. Und weil es aussichstlos nicht nur erscheint, sondern für das gewöhnliche menschliche Denken auch ist, deshalb steht hier alle äußere Philosophie an einer Grenz -scheide und ihre Aufgabe wäre es, sich einmal wirklich zu gestehen, daß sie als äußere Philosophie an einer Grenzscheide steht. Aber diese Grenzscheide ist eben nur diejenige der äußeren Philosophie. Über diese Grenzscheide gibt es doch eine Möglichkeit, hinüberzukommen, und mit dieser Möglichkeit wollen wir uns jetzt einmal bekanntmachen.

Denken wir uns, wir zeichnen das Dreieck nicht einfach so hin, daß wir sagen: Jetzt habe ich dir ein Dreieck hingezeichnet, und da ist es. - Da wird immer der Einwand gemacht werden können: Das ist eben ein spitzwinkliges Dreieck, das ist kein allgemeines Dreieck. Man kann das Dreieck nämlich auch anders hinzeichnen. Eigentlich kann man es nicht; aber wir werden gleich sehen, wie sich dieses Können und Nichtkönnen zueinander verhalten. Nehmen wir an, dieses Dreieck, das wir hier haben, zeichnen wir so hin und erlauben jeder einzelnen Seite, daß sie sich nach jeder Richtung, wie sie will, bewegt. Und zwar erlauben wir ihr, daß sie sich mit verschiedenen Schnelligkeiten bewege. (An der Tafel zeichnend gesprochen):

Diese Seite bewegt sich so, daß sie im nächsten Augenblick diese Lage einnimmt, diese so, daß sie im nächsten Augenblick diese Lage einnimmt. Diese bewegt sich viel langsamer, diese bewegt sich schneller und so weiter. Jetzt kehrt sich die Richtung um.

Kurz, wir begeben uns in die unbequeme Vorstellung hinein, daß wir sagen: Ich will nicht nur ein Dreieck hinzeichnen und es so dann stehen lassen, sondern ich stelle an dein Vorstellen gewisse Anforderungen. Du mußt dir denken, daß die Seiten des Dreiecks fortwährend in Bewegung sind. Wenn sie in Bewegung sind, dann kann ein rechtwinkliges oder ein stumpfwinkliges Dreieck oder jedes andere gleichzeitig aus der Form der Bewegungen hervorgehen. Zweierlei kann man machen und auch verlangen auf diesem Gebiete. Das erste, was man verlangen kann, ist, daß man es hübsch bequem hat. Wenn jemand einem ein Dreieck aufzeichnet, dann ist es fertig, und man weiß, wie es aussieht; jetzt kann man hübsch ruhen in seinen Gedanken, denn man hat, was man will. Man kann aber auch das andere machen: Das Dreieck gleichsam als einen Ausgangspunkt betrachten und jeder Seite erlauben, daß sie sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten und nach verschiedenen Richtungen dreht. In diesem Falle hat man es aber nicht so bequem, sondern man muß in seinen Gedanken Bewegungen ausführen. Aber dafür hat man auch wirklich den allgemeinen Gedanken Dreieck darinnen; er ist ja nur nicht zu erreichen, wenn man bei einem Dreieck abschließen will. Der allgemeine Gedanke Dreieck ist da, wenn man den Gedanken in fortwährender Bewegung hat, wenn er versatil ist.

Weil die Philosophen das, was ich eben jetzt ausgesprochen habe, den Gedanken in Bewegung zu bringen, nicht gemacht haben, deshalb stehen sie notwendigerweise an einer Grenzscheide und begründen den Nominalismus. Jetzt wollen wir uns das, was ich eben jetzt ausgesprochen habe, in eine uns bekannte Sprache übersetzen, in eine uns längst bekannte Sprache.

Gefordert wird von uns, wenn wir von dem speziellen Gedanken zu dem allgemeinen Gedanken aufsteigen sollen, daß wir den speziellen Gedanken in Bewegung bringen, so daß der bewegte Gedanke der allgemeine Gedanke ist, der von einer Form in die andere hineinschlüpft. Form sage ich; richtig gedacht ist: Das ganze bewegt sich, und jedes einzelne, was da herauskommt durch die Bewegung, ist eine in sich abgeschlossene Form. Früher habe ich nur Einzelformen hingezeichnet, ein spitzwinkliges, ein rechtwinkliges und ein stumpfwinkliges Dreieck. Jetzt zeichne ich etwas auf - ich zeichne es eigentlich nicht auf, das sagte ich schon, aber vorstellen kann man sich das -, was die Vorstellung hervorrufen soll, daß der allgemeine Gedanke in Bewegung ist und die einzelne Form durch sein Stillestehen erzeugt - «die Form erzeugt», sage ich.

Da sehen wir, die Philosophen des Nominalismus, die notwendig an einer Grenzscheide stehen, bewegen sich in einem gewissen Reiche, in dem Reiche der Geister der Form. Innerhalb des Reiches der Geister der Form, das um uns herum ist, herrschen die Formen; und weil die Formen herrschen, sind in diesem Reiche einzelne, streng in sich abgeschlossene Einzeldinge. Daraus ersehen Sie, daß die Philosophen, die ich meine, niemals den Entschluß gefaßt haben, aus dem Reiche der Formen herauszugehen, und daher in den allgemeinen Gedanken nichts anderes haben können als Worte, richtig bloße Worte. Würden sie herausgehen aus dem Reiche der speziellen Dinge, das heißt der Formen, so würden sie in ein Vorstellen hineinkommen, das in fortwährender Bewegung ist, das heißt, sie würden in ihrem Denken eine Vergegenwärtigung des Reiches der Geister der Bewegung haben, der nächsthöheren Hierarchie. Dazu lassen sich aber die meisten Philosophen nicht herbei. Und als sich einmal einer in der letzten Zeit des abendländischen Denkens herbeigelassen hat, so recht in diesem Sinne zu denken, da wurde er wenig verstanden, obwohl viel von ihm gesprochen und gefaselt wird. Man schlage auf, was Goethe in seiner «Metamorphose der Pflanzen» geschrieben hat, was er die «Urpflanze» nannte; man schlage dann das auf, was er das «Urtier» nannte, und man wird finden, daß man mit diesen Begriffen «Urpflanze», «Urtier» nur zurechtkommt, wenn man sie beweglich denkt. Wenn man diese Beweglichkeit aufnimmt, von der Goethe selber spricht, dann hat man nicht einen abgeschlossenen, in seinen Formen begrenzten Begriff, sondern man hat das, was in seinen Formen lebt, was durchkriecht in der ganzen Entwickelung des Tierreiches oder des Pflanzenreiches, was sich in diesem Durchkriechen ebenso verändert, wie das Dreieck sich in ein spitzwinkliges oder ein stumpfwinkliges verändert, und was bald «Wolf» und «Löwe», bald «Käfer» sein kann, je nachdem die Beweglichkeit so eingerichtet ist, daß die Eigenschaften sich abändern in dem Durchgehen durch die Einzelheiten. Goethe brachte die starren Begriffe der Formen in Bewegung. Das war sein große, zentrale Tat. Das war das Bedeutsame, was er in die Naturbetrachtung seiner Zeit eingeführt hat. Sie sehen hier an einem Beispiele, wie das, was wir Geisteswissenschaft nennen, tatsächlich dazu geeignet ist, die Menschen aus dem herauszuführen, woran sie notwendig heute haften müssen, selbst wenn sie Philosophen sind. Denn ohne Begriffe, die durch die Geisteswissenschaft gewonnen werden, ist es gar nicht möglich, wenn man ehrlich ist, etwas anderes zuzugeben, als daß die allgemeinen Gedanken bloße Worte seien. Das ist der Grund, warum ich sagte: Die meisten Menschen haben nur keine Gedanken. Und wenn man ihnen von Gedanken spricht, so lehnen sie das ab.

Wann spricht man zu den Menschen von Gedanken? Wenn man zum Beispiel sagt, die Tiere und Pflanzen hätten Gruppenseelen. Ob man sagt allgemeine Gedanken oder Gruppenseelen - wir werden im Laufe der Vorträge sehen, was für eine Beziehung zwischen den beiden ist -, das kommt für das Denken auf dasselbe hinaus. Aber die Gruppenseele ist auch nicht anders zu begreifen als dadurch, daß man sie in Bewegung denkt, in fortwährender äußerlicher und innerlicher Bewegung; sonst kommt man nicht zur Gruppenseele. Aber das lehnen die Menschen ab. Daher lehnen sie auch die Gruppenseele ab, lehnen also den allgemeinen Gedanken ab.

Zum Kennenlernen der offenbaren Welt braucht man aber keine Gedanken; da braucht man nur die Erinnerung an das, was man gesehen hat im Reiche der Form. Und das ist das, was die meisten Menschen überhaupt nur wissen: was sie gesehen haben im Reiche der Form. Da bleiben dann die allgemeinen Gedanken bloße Worte. Daher konnte ich sagen: Die meisten Menschen haben keine Gedanken. Denn die allgemeinen Gedanken bleiben für die meisten Menschen nur Worte. Und wenn es unter den mancherlei Geistern der höheren Hierarchien nicht auch den Genius der Sprache geben würde, der die allgemeinen Worte für die allgemeinen Begriffe bildet, die Menschen selber würden das nicht tun. Also richtig aus der Sprache heraus bekommen die Menschen zunächst ihre allgemeinen Gedanken, und sie haben auch nicht viel anderes als die in der Sprache aufbewahrten allgemeinen Gedanken.

Daraus ersehen wir aber, daß es doch etwas Eigenes sein muß mit dem Denken von wirklichen Gedanken. Daß es etwas ganz Eigentümliches damit sein muß, das können wir uns daraus verständlich machen, daß wir sehen, wie schwer es eigentlich den Menschen wird, auf dem Felde des Gedankens zur Klarheit zu kommen. So im äußeren trivialen Leben wird man vielleicht oftmals behaupten, wenn man ein bißchen renommieren will, das Denken sei leicht. Aber es ist nicht leicht. Denn es erfordert das wirkliche Denken immer ein ganz enges, in gewisser Beziehung unbewußtes Berührtsein von einem Hauch aus dem Reiche der Geister der Bewegung. Würde das Denken so ganz leicht sein, so würden nicht so kolossale Schnitzer auf dem Gebiete des Denkens gemacht werden, und man plagte sich nicht so lange mit allerlei Problemen und Irrtümern herum. So plagt man sich jetzt seit mehr als einem Jahrhundert mit einem Gedanken, den ich schon öfter angeführt habe und den Kant ausgesprochen hat.

Kant wollte den sogenannten ontologischen Gottesbeweis aus der Welt schaffen. Dieser ontologische Gottesbeweis stammt auch aus der Zeit des Nominalismus, wo man sagte, daß es für die allgemeinen Begriffe nur Worte gäbe und daß nicht etwas Allgemeines existiere, das den einzelnen Gedanken entsprechen würde wie die einzelnen Gedanken den Vorstellungen. Diesen ontologischen Gottesbeweis will ich als ein Beispiel anführen, wie gedacht wird.

Er sagt ungefähr: Wenn man einen Gott annehme, so müsse er das allervollkommenste Wesen sein. Wenn er das allervollkommen-ste Wesen ist, dann dürfe ihm nicht das Sein fehlen, die Existenz; denn sonst gäbe es ja ein noch vollkommeneres Wesen, das diejenigen Eigenschaften hätte, die man denkt, und das außerdem existieren würde. Also muß man das vollkommenste Wesen so denken, daß es existiere. Man kann also den Gott gar nicht anders denken als existierend, wenn man ihn als allervollkommenstes Wesen denkt. Das heißt, man kann aus dem Begriffe selbst ableiten, daß es nach dem ontologischen Gottesbeweis den Gott geben muß.

Kant wollte diesen Beweis widerlegen, indem er zu zeigen versuchte, daß man aus einem Begriffe heraus überhaupt nicht die Existenz eines Dinges beweisen kann. Er hat dazu das berühmte Wort geprägt, das ich auch schon öfter angedeutet habe: Hundert wirkliche Taler seien nicht mehr und nicht weniger als hundert mögliche Taler. Das heißt, wenn ein Taler dreihundert Pfennige hat, so müsse man hundert wirkliche Taler zu je dreihundert Pfennigen rechnen, und ebenso müsse man hundert mögliche Taler zu je dreihundert Pfennigen rechnen. Es enthalten also hundert mögliche Taler ebensoviel wie hundert wirkliche Taler; das heißt, es ist kein Unterschied, ob ich hundert wirkliche oder hundert mögliche Taler denke. Daher darf man nicht aus dem bloßen Gedanken des allervollkommensten Wesens die Existenz herausschälen, weil der bloße Gedanke eines möglichen Gottes dieselben Eigenschaften hätte wie der Gedanke eines wirklichen Gottes.

Das erscheint sehr vernünftig. Und seit einem Jahrhundert plagen sich die Menschen herum, wie es mit den hundert möglichen und den hundert wirklichen Talern ist. Nehmen wir aber einen naheliegenden Gesichtspunkt, nämlich den des praktischen Lebens. Kann man von diesem Gesichtspunkte aus sagen, daß hundert wirkliche Taler nicht mehr enthalten als hundert mögliche? Man kann sagen, daß hundert wirkliche Taler just um hundert Taler mehr enthalten als hundert mögliche Taler! Es ist doch ganz klar: Hundert mögliche Taler auf der einen Seite gedacht und hundert wirkliche auf der anderen Seite, das ist ein Unterschied! Es sind auf der anderen Seite gerade hundert Taler mehr. Und auf die hundert wirklichen Taler scheint es doch gerade in den meisten Fällen des Lebens anzukommen.

Aber die Sache hat doch auch einen tieferen Aspekt. Man kann nämlich die Frage stellen: Worauf kommt es denn an bei dem Unterschied von hundert möglichen und hundert wirklichen Talern? Ich denke, es wird jeder zugeben: Für den, der die hundert Taler haben kann, ist zweifellos ein großer Unterschied zwischen hundert möglichen und hundert wirklichen Talern vorhanden. Denn denken Sie sich, Sie brauchen hundert Taler, und jemand stellt Ihnen die Wahl, ob er Ihnen hundert mögliche oder hundert wirkliche Taler geben soll. Wenn Sie sie haben können, scheint es doch auf den Unterschied anzukommen. Aber nehmen Sie an, Sie wären in dem Fall, daß Sie die hundert Taler wirklich nicht haben könnten; dann könnte es sein, daß es für Sie höchst gleichgültig ist, ob Ihnen jemand hundert mögliche oder hundert wirkliche Taler nicht gibt. Wenn man sie nicht haben kann, dann enthalten tatsächlich hundert wirkliche und hundert mögliche Taler ganz gleich viel.

Das hat doch eine Bedeutung. Die Bedeutung hat es nämlich, daß so, wie Kant über den Gott gesprochen hat, nur in einer Zeit gesprochen werden konnte, als man durch menschliche Seelenerfahrung den Gott nicht mehr haben konnte. Als er nicht erreichbar war als eine Wirklichkeit, da war der Begriff des möglichen Gottes oder des wirklichen Gottes gerade so einerlei, wie es einerlei ist, ob man hundert wirkliche Taler oder hundert mögliche Taler nicht haben kann. Wenn es für die Seele keinen Weg gibt zu dem wirklichen Gott, dann führt ganz gewiß auch keine Gedankenentwickelung dazu, die im Stile Kants gehalten ist.

Da sehen Sie, daß die Sache doch auch eine tiefere Seite hat. Ich führe es aber nur an, weil ich dadurch klarmachen wollte, daß, wenn die Frage nach dem Denken kommt, man schon etwas tiefer schürfen muß. Denn Denkfehler schleichen sich durch die erleuchtetsten Geister fort, und man sieht lange nicht ein, worin eigentlich das Brüchige eines solchen Gedankens besteht, wie zum Beispiel des kantischen Gedankens von den hundert möglichen und den hundert wirklichen Talern. Es kommt beim Gedanken auch immer darauf an, daß man die Situation berücksichtigt, in welcher der Gedanke gefaßt wird.

Aus der Natur des allgemeinen Gedankens zuerst und dann aus dem Dasein eines solchen Denkfehlers wie des kantischen im besonderen versuchte ich Ihnen zu zeigen, daß die Wege des Denkens dennoch nicht so ganz ohne Vertiefung in die Dinge betrachtet werden können. Ich will noch von einer dritten Seite aus mich der Sache nähern.

Nehmen wir einmal an, hier wäre ein Berg oder ein Hügel (siehe Zeichnung, rechts) und hier sei ein schroffer Abhang (Zeichnung, links). An diesem schroffen Abhänge entspringe eine Quelle; die Quelle stürzt senkrecht wie ein richtiger Wasserfall den Abhang hinunter. Unter den ganz gleichen Verhältnissen wie da sei auf der andern Seite auch eine Quelle. Die will ganz dasselbe wie die erstere; aber sie tut es nicht. Sie kann nämlich nicht als Wasserfall hinunterstürzen, sondern rinnt ganz hübsch in Form eines Baches oder Flusses hinunter. - Hat das Wasser andere Kräfte bei der zweiten Quelle als bei der ersten? Ganz offenbar nicht. Denn die zweite Quelle würde ganz dasselbe tun wie die erste, wenn der Berg sie nicht hinderte und nicht seine Kräfte hinaufschicken würde. Sind die Kräfte, die der Berg hinaufschickt, die Haltekräfte, nicht vorhanden, so wird sie wie die erste Quelle hinunterstürzen. Es kommen also zwei Kräfte in Betracht: Die Haltekraft des Berges und die Schwerkraft der Erde, vermöge der die eine Quelle hinunterstürzt. Die ist aber bei der anderen Quelle genau ebenso vorhanden, denn man kann sagen: Sie ist da, ich sehe, wie sie die Quelle herunterzieht. Wenn nun jemand ein Skeptiker wäre, so könnte er dies bei der zweiten Quelle leugnen und sagen: Da sieht man zunächst nichts, während bei der ersten Quelle jedes Wasserstäubchen heruntergezogen wird. Man muß also bei der zweiten Quelle in jedem Punkte hinzufügen die Kraft, welche der Schwerkraft entgegenwirkt, die Haltekraft des Berges.

Nehmen wir nun an, es käme jemand und sagte: Was du mir da von der Schwerkraft erzählst, glaube ich nicht recht, und das, was du mir von deiner Haltekraft sagst, glaube ich dir auch nicht. Ist der Berg dort die Ursache, daß die Quelle jenen Weg nimmt? Ich glaube es nicht. - Nun könnte man diesen fragen: Was glaubst du denn dann? - Er könnte antworten: Ich glaube, da unten ist etwas von dem Wasser; gleich darüber ist ebenso etwas von dem Wasser, darüber wieder und so weiter. Ich glaube, daß das Wasser, welches unten ist, von dem Wasser darüber hinuntergestoßen wird, und dieses obere Wasser wird von dem über ihm hinuntergestoßen. Jede darüberliegende Wasserpartie stößt immer die vordere hinunter. - Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Der erste Mensch behauptet: Die Schwerkraft zieht die Wassermassen herunter. Der zweite dagegen sagt: Das sind Wasserpartien, die schieben immer die unter ihnen liegenden hinunter, und dadurch geht dann das darüberliegende Wasser hinterher.

Nicht wahr, es wäre ein Mensch recht albern, der von einer solchen Schieberei sprechen würde. Aber nehmen wir an, es handle sich nicht um einen Bach oder einen Strom, sondern um die Geschichte der Menschheit, und es würde ein solcher zuletzt Charakterisierter sagen: Das einzige, was ich dir glaube, ist dies: Jetzt leben wir im 20. Jahrhundert, da haben sich gewisse Ereignisse abgespielt; die sind bewirkt von solchen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; diese letzteren sind wieder verursacht von denen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und diese wieder von denen aus dem ersten Drittel. - Das nennt man pragmatische Geschichtsauffassung, wo man in dem Sinne von Ursachen und Wirkungen spricht, daß man immer aus den betreffenden vorhergehenden Ereignissen die folgenden erklärt. So wie jemand die Schwerkraft leugnen und sagen kann, da schiebe bei den Wasserpartien immer jemand nach, so ist es auch, wenn jemand pragmatische Geschichte treibt und den Zustand im 19. Jahrhundert als eine Folge der Französischen Revolution erklärt. Wir freilich sagen: Nein, es sind noch andere Kräfte da außer denen, die da hinten schieben, die überhaupt gar nicht einmal im richtigen Sinne vorhanden sind. Denn geradesowenig wie jene Kräfte beim Bergstrome dahinten schieben, sowenig schieben die dahinterstehenden Ereignisse in der Geschichte der Menschheit; sondern es kommen immer neue Einflüsse aus der geistigen Welt, wie bei der Quelle die Schwerkraft immerfort wirkt; und mit anderen Kräften kreuzen sie sich, wie sich die Schwerkraft bei dem Strom kreuzt mit der Haltekraft des Berges. Wäre nur die eine Kraft vorhanden, dann würdest du sehen, daß die Geschichte ganz anders verläuft. Aber du siehst nicht die einzelnen Kräfte darin. Du siehst nicht das, was physische Weltentwickelung ist, was beschrieben wurde als Folge der Saturn-, Sonnen-, Mond- und Erdenentwickelung; und du siehst nicht das, was fortwährend mit den Menschenseelen vorgeht, welche die geistige Welt durchleben und wieder herunterkommen, was aus den geistigen Welten immer wieder in diese Entwickelung hereinkommt. Das leugnest du einfach.

Aber wir haben eine solche Geschichtsauffassung, die sich ausnimmt, wie wenn jemand mit solchen eben charakterisierten Anschauungen kommen würde, und sie ist nicht so besonders selten. Sie wurde sogar im 19. Jahrhundert als ungeheuer geistreich aufgefaßt. Was würden wir aber dazu sagen können von dem eben gewonnenen Gesichtspunkte aus? Wenn jemand von dem Bergstrome dasselbe behauptete wie von der Geschichte, so würde er einen absoluten Unsinn behaupten. Was liegt denn aber da vor, daß er denselben Unsinn behauptet in bezug auf die Geschichte? - Die Geschichte ist so kompliziert, daß man nicht merkt, daß sie als pragmatische Geschichte fast überall so vorgetragen wird; man merkt es nur nicht.

Wir sehen daraus, daß allerdings die Geisteswissenschaft, welche für die Auffassung des Lebens gesunde Prinzipien zu gewinnen hat, auf den mannigfaltigen Gebieten des Lebens etwas zu tun hat; daß tatsächlich eine gewisse Notwendigkeit besteht, das Denken erst zu lernen, sich erst bekanntzumachen mit den inneren Gesetzen und Impulsen des Denkens. Sonst kann einem nämlich allerlei Groteskes passieren. So zum Beispiel holpert, stolpert, humpelt einer gerade an dem Problem Denken und Sprache heute daher. Das ist der berühmte Sprachkritiker Fritz Mauthner, der jetzt auch ein großes philosophisches Wörterbuch geschrieben hat. Die dicke Mauthnersche «Kritik der Sprache» hat jetzt schon die zweite Auflage erlebt; es ist also ein berühmtes Buch für unsere Zeitgenossen geworden. Viel Geistreiches ist in diesem Buche enthalten, aber auch schreckliehe Dinge. So zum Beispiel kann man darin den kuriosen Denkfehler finden - und man stolpert fast nach jeder fünften Zeile über einen solchen Denkfehler -, daß der gute Mauthner die Nützlichkeit der Logik anzweifelt. Denn für ihn ist Denken überhaupt nur Sprechen, und dann hat es keinen Sinn, Logik zu treiben, dann treibt man nur Grammatik. Aber außerdem sagt er: Da es also eine Logik mit Recht gar nicht geben kann, so sind also die Logiker alle Toren gewesen. Schön. Und dann sagt er: Im gewöhnlichen Leben entstehen ja aus Schlüssen Urteile und aus Urteilen erst Vorstellungen. So machen es die Menschen. Wozu braucht man dann erst eine Logik, wenn die Menschen es so machen, daß sie aus Schlüssen Urteile, aus Urteilen Vorstellungen entstehen lassen? Wozu brauchen wir da eine Logik? - Es ist das ebenso geistreich, als wenn jemand sagte: Wozu braucht man eine Botanik? Im vorigen Jahr und vor zwei Jahren sind noch immer die Pflanzen gewachsen! - Aber solche Logik findet man bei dem, der die Logik verpönt. Es ist ja begreiflich, daß er sie verpönt. Man findet noch viel merkwürdigere Dinge in diesem sonderbaren Buche, das mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Denken und Sprechen nicht zur Klarheit, sondern zur Konfusion kommt.

Ich sagte, daß wir einen Unterbau brauchen für die Dinge, die uns allerdings zu den Höhen geistiger Betrachtung führen sollen. Ein Unterbau, wie er heute ausgeführt worden ist, mag manchem etwas abstrakt erscheinen; aber wir werden ihn brauchen. Und ich denke, ich versuche die Sache doch so leicht zu machen, daß durchsichtig sein kann, worauf es ankommt. Besonders möchte ich Wert darauf legen, daß man schon durch solche einfachen Betrachtungen einen Begriff davon bekommen kann, wo die Grenze liegt zwischen dem Reiche der Geister der Form und dem Reiche der Geister der Bewegung. Daß man aber einen solchen Begriff bekommt, hängt innig damit zusammen, ob man überhaupt allgemeine Gedanken zugeben darf, ober ob man nur Vorstellungen oder Begriffe von einzelnen Dingen zugeben darf. Ich sage ausdrücklich: zugeben darf." (Lit.: GA 151, S. 9ff)

Bildhaftes Denken

Das reine Denken ist die Vorstufe zur geistigen Wahrnehmung, zur Imagination. Im reinen Denken erleben wir zunächst die Gedankenlebewesen, aber wir schauen sie noch nicht. Damit sie sich zum imaginativen Bild erhellen, muss sich unsere Denktätigkeit am Lichtäther spiegeln. Und bevor sich nun diese von uns geschaffenen, aber selbstständig werdenden Elementarwesen von unserem Willen loslösen, schauen wir zuerst uns selbst, d.h. eigentlich unseren Astralleib in seiner wahren Gestalt, im Spiegel des Lichtäthers: Das ist die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle, der uns zunächst in seiner erschreckenden Drachengestalt erscheint. Erst danach wird der geistige Blick zur weiteren geistigen Schau frei – zumindest sollte es bei einer gesunden geistigen Entwicklung so sein.

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, GA 83 (1981), ISBN 3-7274-0830-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita, GA 146 (1992), ISBN 3-7274-1460-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke, GA 151 (1990), ISBN 3-7274-1510-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Rudolf Steiner: Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung, GA 161 (1999), ISBN 3-7274-1610-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.