Münchner Kongress 1907 und Selige Sehnsucht: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Saal im Münchener Kongress (1907).jpg|miniatur|300px|Saal des Münchener Kongresses mit gemalten Siegeln und Säulen im Jahr 1907. [[Rudolf Steiner]] sitzt in der ersten Reihe (5 v.l.) neben [[Marie Steiner]] (4 v.l.) (1907)]]
[[Datei:Goethe - West-östlicher Divan - Selige Sehnsucht 006.jpg|hochkant|miniatur|''Selige Sehnsucht'' in der Erstausgabe des West-östlichen Divan]]
Der '''Kongress der Föderation Europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft''' wurde zu [[Pfingsten]] vom [[Wikipedia:18. Mai|18.]] - [[Wikipedia:21. Mai|21.Mai]] [[Wikipedia:1907|1907]] in [[Wikipedia:München|München]] in der Tonhalle (Kaim-Säle), Türkenstraße 5 abgehalten und sollte die gemeinsame Arbeit der Mitglieder der [[Theosophische Gesellschaft|Theosophischen Gesellschaft]] aus verschiedenen Ländern zu fördern suchen. Nachdem Anfang Juni [[Wikipedia:1906|1906]] auf dem [[Pariser Kongress 1906|Pariser Kongress]] der Entschluss gefasst worden war, den nächsten [[Wikipedia:Kongress|Kongress]] in München zu veranstalten, begannen [[Rudolf Steiner]] und [[Marie Steiner|Marie von Sievers]] gemeinsam mit den Münchner Freunden mit der sorgfältigen Planung der Tagung. Ein Hauptanliegen war von Beginn an die [[Kunst|künstlerisch]]-[[esoterisch]]e Gestaltung der Tagung. Vor allem aber wollte Steiner, die von ihm von Anfang an vertretene [[christlich]]-[[rosenkreuzer]]ische Esoterik in der internationalen Theosophischen Gesellschaft
'''Selige Sehnsucht''' ist der Titel eines [[Gedicht]]s von [[Johann Wolfgang von Goethe]], das er nach seiner Datierung am 31. Juli 1814 in [[Wiesbaden]] schrieb und das sich an vorletzter Stelle im ''Buch des Sängers'' aus dem [[West-östlicher Divan|West-östlichen Divan]] befindet. Der Erstdruck erfolgte im ''Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817'' unter der Überschrift ''Vollendung''.
verankern. Das wurde aber, wie sich später zeigte, von den meisten nichtdeutschen [[Theosoph]]en, die viel  stärker dem östlichen [[Schulungsweg]] zugeneigt waren, abgelehnt. Rudolf Steiner schreibt dazu in «[[GA 28|Mein Lebensgang]]»:


<div style="margin-left:20px">
''Selige Sehnsucht'' gehört zu den meistinterpretierten Gedichten Goethes und zählt mit dem Motiv des Selbstopfers, den [[Religion|religiösen]] und literarischen Bezügen, ungewöhnlichen Bildern und der berühmten [[Sentenz]] „Stirb und werde!“ zu seinen schwierigsten Werken.<ref>So Karl Otto Conrady: ''Goethe. Leben und Werk.'' Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, ISBN 3-491-69136-2. S. 870</ref>
"Die Art des Münchner Wirkens führte dazu, daß der
== Form und Inhalt ==
Theosophische Kongreß, der 1907 von der deutschen
Mit dem [[Kreuzreim|kreuzgereimten]] [[Trochäus|trochäischen]] [[Vierzeiler]] wählte Goethe für den tiefsinnigen Inhalt eine vergleichsweise einfache Form. Die in der deutschen [[Lyrik]] beliebte Strophenform verwendete er für den ''West-östlichen Divan'' am häufigsten und vertraute ihr im ''Buch Suleika'' einige zentrale Aussagen an.<ref>Karl Otto Conrady: ''Goethe. Leben und Werk.'' Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870</ref>  
Sektion der Theosophischen Gesellschaft veranstaltet
Neben der Liedhaftigkeit und Musikalität der Vierzeiler erleichtern die meist weiblichen [[Kadenz (Verslehre)|Kadenzen]], ein Geschehen auch über die Versschlüsse hinaus fließend zu erzählen.<ref>Gert Ueding: ''Selige Sehnsucht''. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378</ref>
werden sollte, in München stattfand. Diese Kongresse,
In den letzten zwei Strophen änderte Goethe das Versmaß. In der vierten Strophe wählte er zwei männliche Kadenzen, in der abschließenden verkürzte er zwei Verszeilen um eine [[Hebung (Verslehre)|Hebung]].
die vorher in London, Amsterdam, Paris abgehalten
wurden, enthielten Veranstaltungen, die theosophische
Das Gedicht lautet:<ref>Johann Wolfgang von Goethe, ''Selige Sehnsucht''. In: Goethes Werke, Gedichte und Epen II, Hamburger Ausgabe, C.H. Beck, München 1998, S. 18–19.</ref>
Probleme in Vorträgen oder Diskussionen behandelten.
<poem style="margin-left: 2em">
Sie waren den gelehrten Kongressen nachgebildet. Auch
Sagt es niemand, nur den Weisen,
die administrativen Fragen der Theosophischen Gesellschaft
Weil die Menge gleich verhöhnet,
wurden behandelt.
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.  


An alledem wurde in München manches modifiziert.
In der Liebesnächte Kühlung,  
Den großen Konzertsaal, der für die Tagung dienen sollte,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,  
ließen wir — die Veranstalter — mit einer Innendekoration
Überfällt dich fremde Fühlung,
versehen, die in Form und Farbe künstlerisch die Stimmung
Wenn die stille Kerze leuchtet.  
wiedergeben sollte, die im Inhalt des mündlich
Verhandelten herrschte. Künstlerische Umgebung und
spirituelle Betätigung im Räume sollten eine harmonische
Einheit sein. Ich legte dabei den allergrößten Wert darauf,
die abstrakte, unkünstlerische Symbolik zu vermeiden
und die künstlerische Empfindung sprechen zu lassen.


In das Programm des Kongresses wurde eine künstlerische
Nicht mehr bleibest du umfangen
Darbietung eingefügt. Marie von Sivers hatte
In der Finsternis Beschattung,  
Schures Rekonstruktion des eleusinischen Dramas schon
Und dich reißet neu Verlangen
vor langer Zeit übersetzt. Ich richtete es sprachlich für
Auf zu höherer Begattung.  
eine Aufführung ein. Dieses Drama fügten wir dem Programm
ein. Eine Anknüpfung an das alte Mysterienwesen,
wenn auch in noch so schwacher Form, war damit
gegeben — aber, was die Hauptsache war, der Kongreß
hatte Künstlerisches in sich. Künstlerisches, das auf
den Willen hinwies, das spirituelle Leben fortan nicht
ohne das Künstlerische in der Gesellschaft zu lassen.
Marie von Sivers, welche die Rolle der Demeter übernommen
hatte, wies in ihrer Darstellung schon deutlich
auf die Nuancen hin, die das Dramatische in der Gesellschaft
erlangen sollte. — Außerdem waren wir in einem
Zeitpunkt, in dem die deklamatorische und rezitatorische
Kunst durch Marie von Sivers in dem Herausarbeiten
aus der inneren Kraft des Wortes an dem entscheidenden
Punkte angekommen war, von dem aus auf diesem
Gebiete fruchtbar weitergegangen werden konnte.


Ein großer Teil der alten Mitglieder der Theosophischen
Keine Ferne macht dich schwierig,  
Gesellschaft aus England, Frankreich, namentlich
Kommst geflogen und gebannt,  
aus Holland waren innerlich unzufrieden mit den Erneuerungen,
Und zuletzt, des Lichts begierig,  
die ihnen mit dem Münchner Kongreß gebracht
Bist du Schmetterling verbrannt.
worden sind. — Was gut gewesen wäre, zu verstehen,
was aber damals von den wenigsten ins Auge
gefaßt wurde, war, daß mit der anthroposophischen
Strömung etwas von einer ganz andern inneren Haltung
gegeben war, als sie die bisherige Theosophische Gesellschaft
hatte. In dieser inneren Haltung lag der wahre
Grund, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht
als ein Teil der theosophischen weiterbestehen konnte.
Die meisten legten aber den Hauptwert auf die Absurditäten,
die im Laufe der Zeit in der Theosophischen Gesellschaft
sich herausgebildet haben und die zu endlosen
Zänkereien geführt haben." {{Lit|{{G|028|464f|506f}}}}
</div>


==Literatur==
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
</poem>


#Rudolf Steiner: ''Mein Lebensgang'', [[GA 28]] (2000), ISBN 3-7274-0280-6; '''Tb 636''', ISBN 978-3-7274-6361-7 {{Schriften|028}}
== Entstehung und Hintergrund ==
Goethe lernte [[Hafis]]’ [[Diwan (Dichtung)|Dīwān]] 1814 in der Übersetzung von [[Joseph von Hammer-Purgstall]] kennen, die sein Verleger [[Johann Friedrich Cotta]] ihm im Mai des Jahres geschenkt hatte. Nach dieser literaturgeschichtlich epochalen Begegnung und intensiver Lektüre brach er am 25. Juli von [[Weimar]] auf, um nach über siebzehn Jahren erneut seine Geburtsstadt [[Frankfurt am Main]] sowie [[Wiesbaden]] zu besuchen.


{{GA}}
Hatte er bereits in Weimar einige Verse geschrieben, begann erst mit dem Reiseantritt und dem damit verbundenen Gefühl der Befreiung ein mächtiger Schub, der täglich zu diversen Gedichten führte. Als er in Wiesbaden ankam, war mit rund 25 Gedichten bereits ein vorläufiger und schmaler ''Divan'' entstanden. In seinen ''Tages- und Jahresheften'' beschrieb Goethe den tiefen Eindruck, den Hafis’ Welt auf ihn machte und der so stark gewesen sei, dass er sich „produktiv“ habe verhalten müssen, um „vor der mächtigen Erscheinung“ noch bestehen zu können.<ref>Zit. nach: Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Schöpferischer Augenblick'', in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 210</ref>


[[Kategorie:Theosophie]] [[Kategorie:Anthroposophie]]
Mag die griechisch-römische [[Antike]] für Goethe stets wichtiger gewesen sein als der [[Orient]], war ihm dieser nicht fremd. Bereits in jungen Jahren hatte er die „Patriarchenluft“ der [[1. Buch Mose|Bücher Mose]] geschnuppert und war als junger Mann von [[Johann Gottfried Herder]] in [[Straßburg]] über die kulturgeschichtliche Bedeutung der [[Bibel]] aufgeklärt worden.
 
Mit der Lebensfreude und Sinnlichkeit, aber auch [[Sehnsucht]] nach [[Transzendenz]] und [[Ewigkeit]] kam die Poesie von Hafis seinem Lebensgefühl entgegen. [[Carl Friedrich Zelter]] gegenüber schwärmte er von der „mohammedanische(n) Religion“ und Mythologie, die der Poesie einen „Raum“ geben würden, „wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend.“<ref>Zit. nach: Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 867</ref>
 
== Vorlage und Motive ==
[[Datei:Goethe raabe 1814.jpg|miniatur|hochkant|Goethe, <small>Porträt von Karl Josef Raabe, 1814</small>]]
Das [[Ghasel]], von dem Goethe ausging, stammt nicht von Hafis. Es ist ein durchschnittliches Werk der [[Persische Literatur|persischen Lyrik]], das gängige [[Motiv (Literatur)|Motive]] enthält, von denen Goethe einige herausgriff.<ref>Karl Otto Conrady: ''Goethe, Leben und Werk'', Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870</ref>
 
Mit ihrer [[Esoterik|esoterischen]] Exklusivität und der Verachtung der Uneingeweihten reflektiert die erste Zeile der ''Seligen Sehnsucht'' das [[Horaz]]sche „odi profanum vulgus et arceo“<ref>Gert Ueding: ''Selige Sehnsucht''. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378</ref> und kann zugleich als Echo auf die [[Christus]]worte in der [[Lutherbibel]] ({{Bibel|Mt|7|6|LUT}}) von den „Perlen“, die man nicht „vor die Säue werfen“ soll, verstanden werden.<ref>Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870</ref>
 
Das Bild der [[Flamme]], in der ein [[Schmetterlinge|Schmetterling]] verbrennt, gehört nach [[Hans Heinrich Schaeder]] zu den verbreitetsten Motiven der persischen Lyrik und versinnbildlicht eine [[Liebe]], die das [[Ich]] verzehrt und eben dadurch rettet.<ref> Gert Ueding: ''Selige Sehnsucht''. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378</ref>
In der Übersetzung Hammer-Purgstalls heißt es u.&nbsp;a.: „Wie die Kerze brennt die Seele, / Hell an Liebesflammen / Und mit reinem Sinne hab´ ich / Meinen Leib geopfert. / Bis du nicht wie Schmetterlinge / Aus Begier verbrennest, / Kannst du nimmer Rettung finden / Von dem Gram der Liebe.“<ref>Zit. nach: Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Schöpferischer Augenblick'', in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 206</ref>
Das Motiv des verbrennenden Insekts war für Goethe nicht neu. Als er 1776 an [[Charlotte von Stein]] dachte, drängte sich ihm die Vorstellung einer ums Licht tanzenden Mücke auf, wie er der Freundin brieflich mitteilte.<ref>Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870</ref>
 
== Interpretationsansätze ==
Seit [[Konrad Burdach]] in seinem Deutungsversuch auf den scheinbaren Widerspruch zwischen den ersten vier Strophen und den abschließenden Versen hinwies, stehen die Interpreten bei dem „geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes“ vor etlichen Schwierigkeiten.<ref>Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Schöpferischer Augenblick'', in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 202</ref> 
 
Die kaum zu überblickende Interpretationsgeschichte erschwert nach [[Gert Ueding]] den Zugang, indem man sich zunächst „einen Weg durch die Gelehrsamkeit bahnen“ müsse, die vor dem Werk „aufgetürmt wurde.“<ref>[[Gert Ueding]]: ''Stirb und werde!''. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Johann Wolfgang von Goethe. Insel-Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 338 </ref>
 
Die gleichsam hermetische Unzugänglichkeit wird häufig mit der Gedankenführung und der Bilderfolge von der Zeugung, dem Schmetterling, dessen Flammentod bis zur Idee des „Stirb und werde!“ erklärt.<ref>Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Schöpferischer Augenblick'', in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 205</ref>
Burdach zufolge widerspricht der „tragisch-mystisch-erotische Gedanke“ des Selbstopfers im ersten Teil des Gedichts der Idee der Metamorphose, die in der abschließenden Sentenz anklingt. Dem im Licht verbrannten, für immer vergangenen Schmetterling töne kein „werde!“ mehr, sei er doch für immer tot.
Bei diesen Schwierigkeiten muss nach Auffassung Heinrich Schaders eine gedankliche Analyse dazu führen, die „Einheit des Gedichts“ zu sprengen.
Interpreten wie etwa [[Eduard Spranger]] bis [[Karl Viëtor]] erklären die zentrale Vorstellung der Wandlung, die Goethe auch in seinem Gedicht [[Die Metamorphose der Pflanzen]] umkreiste, zum Zentrum des Werkes.<ref> Gert Ueding: ''Selige Sehnsucht''. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378</ref>
 
Nach Auffassung Michael Böhlers und Gabriele Schwieders legen die Entstehung wie die Platzierung des Gedichts an das Ende des ''Buchs der Sänger'' eine poetologisch ausgerichtete Lektüre nahe, die das Werk als „Dichtung über Dichtung“ begreift. So lassen sich bereits die unterschiedlichen Titel des Gedichts – von ''Vollendung'' über ''Selbstopfer'' bis zur ''Seligen Sehnsucht'' – als Hinweis darauf verstehen, dass Goethe ein zentrales Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtete und darstellte. Steht der erste Titel für die selbstbewusste Schöpferkraft, deutet der zweite auf die Preisgabe des Ich, während „Selige Sehnsucht“ die Bereitschaft zeigt, sich auf diesen besonderen Augenblick einzulassen. Zentral gehe es um den Topos der [[Inspiration]], ein jäher Vorgang von heftiger körperlicher und seelischer Intensität.<ref>Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Schöpferischer Augenblick'', in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 211</ref>
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Selige Sehnsicht}}
 
== Literatur ==
*Michael Böhler und Gabriele Schwieder: ''Selige Sehnsucht''. In: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, (Hrsg.) Bernd Witte, Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-017504-6, S. 202–216
*Gert Ueding: ''Selige Sehnsucht''. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, ISBN 3-476-01443-6, S. 377–380
== Einzelnachweise ==
<references />
 
{{SORTIERUNG:Selige Sehnsucht}}
[[Kategorie:Lyrisches Werk von Goethe]]
[[Kategorie:Lyrisches Werk]]
[[Kategorie:Gedicht]]
 
{{Wikipedia}}

Version vom 7. April 2020, 15:12 Uhr

Selige Sehnsucht in der Erstausgabe des West-östlichen Divan

Selige Sehnsucht ist der Titel eines Gedichts von Johann Wolfgang von Goethe, das er nach seiner Datierung am 31. Juli 1814 in Wiesbaden schrieb und das sich an vorletzter Stelle im Buch des Sängers aus dem West-östlichen Divan befindet. Der Erstdruck erfolgte im Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 unter der Überschrift Vollendung.

Selige Sehnsucht gehört zu den meistinterpretierten Gedichten Goethes und zählt mit dem Motiv des Selbstopfers, den religiösen und literarischen Bezügen, ungewöhnlichen Bildern und der berühmten Sentenz „Stirb und werde!“ zu seinen schwierigsten Werken.[1]

Form und Inhalt

Mit dem kreuzgereimten trochäischen Vierzeiler wählte Goethe für den tiefsinnigen Inhalt eine vergleichsweise einfache Form. Die in der deutschen Lyrik beliebte Strophenform verwendete er für den West-östlichen Divan am häufigsten und vertraute ihr im Buch Suleika einige zentrale Aussagen an.[2] Neben der Liedhaftigkeit und Musikalität der Vierzeiler erleichtern die meist weiblichen Kadenzen, ein Geschehen auch über die Versschlüsse hinaus fließend zu erzählen.[3] In den letzten zwei Strophen änderte Goethe das Versmaß. In der vierten Strophe wählte er zwei männliche Kadenzen, in der abschließenden verkürzte er zwei Verszeilen um eine Hebung.

Das Gedicht lautet:[4]

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Entstehung und Hintergrund

Goethe lernte HafisDīwān 1814 in der Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall kennen, die sein Verleger Johann Friedrich Cotta ihm im Mai des Jahres geschenkt hatte. Nach dieser literaturgeschichtlich epochalen Begegnung und intensiver Lektüre brach er am 25. Juli von Weimar auf, um nach über siebzehn Jahren erneut seine Geburtsstadt Frankfurt am Main sowie Wiesbaden zu besuchen.

Hatte er bereits in Weimar einige Verse geschrieben, begann erst mit dem Reiseantritt und dem damit verbundenen Gefühl der Befreiung ein mächtiger Schub, der täglich zu diversen Gedichten führte. Als er in Wiesbaden ankam, war mit rund 25 Gedichten bereits ein vorläufiger und schmaler Divan entstanden. In seinen Tages- und Jahresheften beschrieb Goethe den tiefen Eindruck, den Hafis’ Welt auf ihn machte und der so stark gewesen sei, dass er sich „produktiv“ habe verhalten müssen, um „vor der mächtigen Erscheinung“ noch bestehen zu können.[5]

Mag die griechisch-römische Antike für Goethe stets wichtiger gewesen sein als der Orient, war ihm dieser nicht fremd. Bereits in jungen Jahren hatte er die „Patriarchenluft“ der Bücher Mose geschnuppert und war als junger Mann von Johann Gottfried Herder in Straßburg über die kulturgeschichtliche Bedeutung der Bibel aufgeklärt worden.

Mit der Lebensfreude und Sinnlichkeit, aber auch Sehnsucht nach Transzendenz und Ewigkeit kam die Poesie von Hafis seinem Lebensgefühl entgegen. Carl Friedrich Zelter gegenüber schwärmte er von der „mohammedanische(n) Religion“ und Mythologie, die der Poesie einen „Raum“ geben würden, „wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erdetreibens, Liebe, Neigung, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend.“[6]

Vorlage und Motive

Goethe, Porträt von Karl Josef Raabe, 1814

Das Ghasel, von dem Goethe ausging, stammt nicht von Hafis. Es ist ein durchschnittliches Werk der persischen Lyrik, das gängige Motive enthält, von denen Goethe einige herausgriff.[7]

Mit ihrer esoterischen Exklusivität und der Verachtung der Uneingeweihten reflektiert die erste Zeile der Seligen Sehnsucht das Horazsche „odi profanum vulgus et arceo“[8] und kann zugleich als Echo auf die Christusworte in der Lutherbibel ((Mt 7,6 LUT)) von den „Perlen“, die man nicht „vor die Säue werfen“ soll, verstanden werden.[9]

Das Bild der Flamme, in der ein Schmetterling verbrennt, gehört nach Hans Heinrich Schaeder zu den verbreitetsten Motiven der persischen Lyrik und versinnbildlicht eine Liebe, die das Ich verzehrt und eben dadurch rettet.[10] In der Übersetzung Hammer-Purgstalls heißt es u. a.: „Wie die Kerze brennt die Seele, / Hell an Liebesflammen / Und mit reinem Sinne hab´ ich / Meinen Leib geopfert. / Bis du nicht wie Schmetterlinge / Aus Begier verbrennest, / Kannst du nimmer Rettung finden / Von dem Gram der Liebe.“[11] Das Motiv des verbrennenden Insekts war für Goethe nicht neu. Als er 1776 an Charlotte von Stein dachte, drängte sich ihm die Vorstellung einer ums Licht tanzenden Mücke auf, wie er der Freundin brieflich mitteilte.[12]

Interpretationsansätze

Seit Konrad Burdach in seinem Deutungsversuch auf den scheinbaren Widerspruch zwischen den ersten vier Strophen und den abschließenden Versen hinwies, stehen die Interpreten bei dem „geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes“ vor etlichen Schwierigkeiten.[13]

Die kaum zu überblickende Interpretationsgeschichte erschwert nach Gert Ueding den Zugang, indem man sich zunächst „einen Weg durch die Gelehrsamkeit bahnen“ müsse, die vor dem Werk „aufgetürmt wurde.“[14]

Die gleichsam hermetische Unzugänglichkeit wird häufig mit der Gedankenführung und der Bilderfolge von der Zeugung, dem Schmetterling, dessen Flammentod bis zur Idee des „Stirb und werde!“ erklärt.[15] Burdach zufolge widerspricht der „tragisch-mystisch-erotische Gedanke“ des Selbstopfers im ersten Teil des Gedichts der Idee der Metamorphose, die in der abschließenden Sentenz anklingt. Dem im Licht verbrannten, für immer vergangenen Schmetterling töne kein „werde!“ mehr, sei er doch für immer tot. Bei diesen Schwierigkeiten muss nach Auffassung Heinrich Schaders eine gedankliche Analyse dazu führen, die „Einheit des Gedichts“ zu sprengen. Interpreten wie etwa Eduard Spranger bis Karl Viëtor erklären die zentrale Vorstellung der Wandlung, die Goethe auch in seinem Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen umkreiste, zum Zentrum des Werkes.[16]

Nach Auffassung Michael Böhlers und Gabriele Schwieders legen die Entstehung wie die Platzierung des Gedichts an das Ende des Buchs der Sänger eine poetologisch ausgerichtete Lektüre nahe, die das Werk als „Dichtung über Dichtung“ begreift. So lassen sich bereits die unterschiedlichen Titel des Gedichts – von Vollendung über Selbstopfer bis zur Seligen Sehnsucht – als Hinweis darauf verstehen, dass Goethe ein zentrales Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtete und darstellte. Steht der erste Titel für die selbstbewusste Schöpferkraft, deutet der zweite auf die Preisgabe des Ich, während „Selige Sehnsucht“ die Bereitschaft zeigt, sich auf diesen besonderen Augenblick einzulassen. Zentral gehe es um den Topos der Inspiration, ein jäher Vorgang von heftiger körperlicher und seelischer Intensität.[17]

Siehe auch

Literatur

  • Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Selige Sehnsucht. In: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, (Hrsg.) Bernd Witte, Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-017504-6, S. 202–216
  • Gert Ueding: Selige Sehnsucht. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, ISBN 3-476-01443-6, S. 377–380

Einzelnachweise

  1. So Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, ISBN 3-491-69136-2. S. 870
  2. Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870
  3. Gert Ueding: Selige Sehnsucht. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378
  4. Johann Wolfgang von Goethe, Selige Sehnsucht. In: Goethes Werke, Gedichte und Epen II, Hamburger Ausgabe, C.H. Beck, München 1998, S. 18–19.
  5. Zit. nach: Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Schöpferischer Augenblick, in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 210
  6. Zit. nach: Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 867
  7. Karl Otto Conrady: Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870
  8. Gert Ueding: Selige Sehnsucht. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378
  9. Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870
  10. Gert Ueding: Selige Sehnsucht. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378
  11. Zit. nach: Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Schöpferischer Augenblick, in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 206
  12. Karl Otto Conrady, Goethe, Leben und Werk, Zwiesprache mit Hafis und Reise in die Rheingegenden, Patmos, Düsseldorf 2006, S. 870
  13. Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Schöpferischer Augenblick, in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 202
  14. Gert Ueding: Stirb und werde!. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Johann Wolfgang von Goethe. Insel-Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 338
  15. Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Schöpferischer Augenblick, in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 205
  16. Gert Ueding: Selige Sehnsucht. In: Goethe-Handbuch, (Hrsg.) Bernd Witte..., Band 1, Gedichte, Metzler, Stuttgart 1996, S. 378
  17. Michael Böhler und Gabriele Schwieder: Schöpferischer Augenblick, in: Interpretationen, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Reclam, Hrsg. Bernd Witte, Stuttgart 2005, S. 211


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