Gesunder Menschenverstand

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Als gesunder Menschenverstand (eng. common sense) wird etwas unscharf ein an der alltäglichen Lebenspraxis geschulter, weitgehend allgemein geteilter Verstand und das darauf gegründete, von Vorurteilen möglichst unbelastete Urteilsvermögen bezeichnet. Ein Rückgriff auf tiefergehende philosophische oder wissenschaftliche Theorien wird dabei vermieden. Synonyme Bezeichnung sind daher auch Alltagsverstand, Hausverstand oder Laienverstand.

Begriffsentwicklung

In der deutschen Sprache wird der Begriff erst seit dem 18. Jahrhundert, also seit der Blütezeit der Aufklärung, häufiger verwendet und ist ein Ausdruck des namentlich in Europa und Nordamerika gesteigerten Selbstbewusstseins breiterer Bevölkerungsschichten. Einen starken Einfluss hatte dabei die von Thomas Reid (1710-1796) begründete schottische Common-Sense-Philosophie.

„Vor dem Eingange der Weltanschauungsentwickelung des neunzehnten Jahrhunderts steht in England Thomas Reid (1710—1796). Es bildet den Grundzug der Überzeugung dieses Mannes, was auch Goethe als seine Anschauung mit den Worten ausspricht: «Es sind am Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben wagt.» (Vgl. Goethes Werke, Band 36, S. 595 in Kürschners Deutscher National-Literatur.) Dieser gemeine Menschenverstand zweifelt nicht daran, daß er es mit wirklichen, wesenhaften Dingen und Vorgängen zu tun habe, wenn er die Tatsachen der Welt betrachtet. Reid sieht nur eine solche Weltanschauung für lebensfähig an, die an dieser Grundansicht des gesunden Menschenverstandes festhält. Wenn man selbst zugäbe, daß uns unsere Beobachtung täuschen könne, und das wahre Wesen der Dinge ein ganz anderes wäre als uns Sinne und Verstand sagen, so brauchten wir uns um eine solche Möglichkeit nicht zu kümmern. Wir kommen im Leben nur zurecht, wenn wir unserer Beobachtung glauben; alles weitere geht uns nichts an. Von diesem Gesichtspunkte aus glaubt Reid zu wirklich befriedigenden Wahrheiten zu kommen. Er sucht nicht durch komplizierte Denkverrichtungen zu einer Anschauung über die Dinge zu kommen, sondern durch Zurückgehen auf die von der Seele instinktiv angenommenen Ansichten. Und instinktiv, unbewußt, besitzt die Seele schon das Richtige, bevor sie es unternimmt, mit der Fackel des Bewußtseins in ihre eigene Wesenheit hineinzuleuchten. Instinktiv weiß sie, was sie von den Eigenschaften und Vorgängen in der Körperwelt zu halten hat; instinktiv ist ihr aber auch die Richtung ihres moralischen Verhaltens, ein Urteil über Gut und Böse eigen. Reid lenkt das Denken, durch seine Berufung auf die dem gesunden Menschenverstand eingeborenen Wahrheiten, auf die Beobachtung der Seele hin. Dieser Zug nach Seelenbeobachtung bleibt fortan der englischen Weltanschauungsentwickelung eigen.“ (Lit.:GA 18, S. 445f)

Ihre Entsprechung findet die Common-Sense-Philosophie durch die namentlich von Moses Mendelssohn, Johannes Nikolaus Tetens, Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners und anfangs auch von Kant getragene deutsche Popularphilosophie, die deshalb auch als Philosophie des gesunden Menschenverstandes bezeichnet wird. Kant formulierte in seinem 1784 verfassten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung den Leitgedanken der Aufklärung ganz entsprechend so: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Sinngemäß findet sich dieser Ausspruch als „sapere aude!“ („Wage es, weise zu sein!“[1]) schon 20 v. Chr. bei dem römischen Dichter Horaz. Friedrich Schiller übersetzte ihn in seinen Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» als „Erkühne dich, weise zu sein.[2]

In seiner 1790 erschienen «Kritik der Urteilskraft» formulierte Kant drei Maximen des gesunden Menschenverstands:

„Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar nicht hieher, als Theile der Geschmackskritik, können aber doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart. Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft. Der Hang zur letztern, mithin zur Heteronomie der Vernunft heißt das Vorurtheil; und das größte unter allen ist, sich die Natur Regeln, welche der Verstand ihr durch sein eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt, als nicht unterworfen vorzustellen: d. i. der Aberglaube. Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung[3]: weil, obschon diese Benennung auch der Befreiung von Vorurtheilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise ( in sensu eminenti ) ein Vorurtheil genannt zu werden verdient, indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfniß von andern geleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht. Was die zweite Maxime der Denkungsart betrifft, so sind wir sonst wohl gewohnt, denjenigen eingeschränkt (bornirt, das Gegentheil von erweitert) zu nennen, dessen Talente zu keinem großen Gebrauche (vornehmlich dem intensiven) zulangen. Allein hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart, einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt. Die dritte Maxime, nämlich die der consequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen und kann auch nur durch die Verbindung beider ersten und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden. Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urtheilskraft, die dritte der Vernunft.“

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft[4]

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.


Einzelnachweise

  1. Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Auflage, neu bearbeitet von Winfried Hofmann. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 330.
  2. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 8. Brief, S. 169
  3. Man sieht bald, daß Aufklärung zwar in Thesi leicht, in Hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache sei: weil mit seiner Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen Zwecke angemessen sein will und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt; aber da die Bestrebung zum letzteren kaum zu verhüten ist, und es an andern, welche diese Wißbegierde befriedigen zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird: so muß das bloß negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten oder herzustellen sehr schwer sein.
  4. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Band V, S.294f