Freiheit und Rationalismus: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:John William Waterhouse - Ulysses and the Sirens (1891).jpg|mini|hochkant=2.0|Odysseus und die [[Sirenen]]. Gemälde von [[Wikipedia:John William Waterhouse|John William Waterhouse]] (1891)<br /><br />
'''Rationalismus''' ({{laS|''ratio''}} [[Vernunft]]) bezeichnet [[Philosophie|philosophische]] Strömungen und Projekte, die rationales [[Denken]] beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen für vorrangig oder sogar für allein hinreichend halten. Damit verbunden ist eine Abwertung anderer [[Erkenntnis]]&shy;quellen, etwa Sinneserfahrung ([[Empirie]]) oder religiöser [[Offenbarung]] und Überlieferung. Positionen, die der auf sich gestellten menschlichen Vernunft nur für begrenzte Gegenstandsbereiche oder gar kein objektives Wissen zutrauen, wie etwa die Spielarten des [[Irrationalismus]] und der „Vernunftskepsis“, die auch einigen Vertretern der [[Postmoderne]] zugeschrieben werden, gelten daher als „anti-rationalistisch“.
Das altgriech. Wort für Freiheit - ''«Éleutheria»'' - bedeutete ursprünglich etwa: „zu einer Reise aufbrechen und alle Schwierigkeiten überwinden, um ein geliebtes Ziel zu erreichen“, wie es [[Homer]] in seiner [[Odyssee]] schildert.<br /><br />


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In der Philosophiegeschichte wird „Rationalismus“ im engeren Sinne meist als Etikett für Denker wie [[Descartes]], [[Spinoza]] oder [[Leibniz]] verwendet, um sie den Vertretern des (britischen) [[Empirismus]] (u.&nbsp;a. [[Thomas Hobbes]], [[John Locke]] und [[David Hume]], gelegentlich sogar [[George Berkeley]]) gegenüberzustellen; diese Etikettierungen sind zwar traditionell üblich, werden inzwischen aber von zahlreichen Philosophiehistorikern in Frage gestellt.<ref>Vgl. z.&nbsp;B. Louis E. Loeb: ''From Descartes to Hume'', Continental Metaphysics and the Development of Modern Philosophy, Cornell University Press, Ithaca, New York 1981; Anthony Kenny (Hrsg.): ''Rationalism, Empiricism and Idealism'', Oxford University Press, Oxford 1986; Peter J. Markie: Art. ''Rationalism'', in: [[Routledge Encyclopedia of Philosophy]], §&nbsp;1.</ref>
|-
| <poem>
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd‘ er in Ketten geboren.


<small>[[Friedrich Schiller]]: ''[https://www.deutschelyrik.de/die-worte-des-glaubens.339.html|Die Worte des Glaubens]''</small>
In anderen Kontexten der Philosophie wird „Rationalismus“ auch systematisch, ohne zwingend historische Bezüge gebraucht: in der [[Epistemologie]] für Positionen, für die Wissen aus reiner Vernunft möglich ist (ein Vertreter dieser Position ist etwa [[Laurence BonJour]]); oder in der [[Metaethik]] für Positionen, die für moralisches Handeln verlangen, dass es nach rationalen Strukturen rekonstruierbar ist und dass ein moralisches Urteil von den Normen für moralische Begründungen abhängt. Abweichende Bedeutung nimmt der Begriff Rationalismus auch in der [[Religionsphilosophie]] ein (s. den Abschnitt zur Verwendung in [[#Rationalismus in Religionsphilosophie und Theologie|Religionsphilosophie und Theologie]]).
</poem>


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== Begriffsverwendung ==
| <poem>
=== Rationalismus als frühneuzeitliche Strömung ===
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Bereits in dem frühsten Begriffsbeleg von 1539 ist der Rationalist jemand, „der dem reinen Denken größere Bedeutung für die Erkenntnis beimißt als der Erfahrung“.<ref>G. Gawlick: „Rationalismus I“, in: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', HWPh Bd. 8 S. 30301 bzw. HWPh Bd. 8, 1992, S. 44, mit Bezug auf A. Hatzfeld/A. Darmesteter: ''Dict. de la langue franç.'', Paris 1890–93 s.v.</ref> Der frühneuzeitliche Rationalismus vertritt die Ansicht, dass der Verstand die objektive Struktur der [[Realität|Wirklichkeit]] erkennen kann, sowohl auf physikalischem, [[Metaphysik|metaphysischem]] als auch moralischem Gebiet und dass dabei auf ein Wissen vor jeder Sinneserfahrung (Wissen [[a priori]]) zurückgegriffen wird. In seinen Argumentationsformen folgt er den Beweisverfahren der klassischen Geometrie ([[more geometrico]]). Der frühneuzeitliche Rationalismus führt dabei verschiedene [[Scholastik|scholastische]] Positionen fort. Historisch lässt man den Rationalismus üblicherweise mit [[René Descartes]] beginnen und kennzeichnet [[Gottfried Wilhelm Leibniz]] und dessen Rezipienten als Hauptvertreter ([[Georg Friedrich Meier (Philosoph)|Georg Friedrich Meier]], [[Alexander Gottlieb Baumgarten]], [[Christian Wolff (Philosoph)|Christian Wolff]] u.&nbsp;a.).
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.


<small>[[Johann Wolfgang Goethe]]: ''[http://www.zeno.org/nid/20004846001 Natur und Kunst ...]''</small>
Einen zeitgenössischen Gegenbegriff stellte der „[[Empirismus]]“ dar, womit die Auffassung gemeint ist, dass alle Erkenntnis primär auf [[Sinn (Wahrnehmung)|sinnlicher]] Wahrnehmung beruhe und es kein Wissen a priori gebe (''tabula rasa''). Die nachträgliche Gegenüberstellung von Rationalismus und Empirismus entstammt aber erst der Zeit Ende des 18.&nbsp;Jahrhunderts. Vertretern beider Positionen war gemeinsam, dass sie die [[Offenbarung]] als Quelle von Weltwissen für überflüssig hielten oder sogar ablehnten. Der Gegensatz zwischen Rationalismus und Empirismus wird klassisch wie folgt beschrieben: Ein Rationalist legt seiner philosophischen Welterklärung vor allem deduktive Schlussfolgerungen zu Grunde, während ein Empirist nur [[Hypothese]]n akzeptiert, die sich induktiv durch nachvollziehbare Beobachtungen bestätigen lassen.
</poem>
Es ist aber nicht pauschal so, dass als Rationalisten bezeichnete Autoren die sinnliche Erfahrung als Erkenntnisquelle generell ablehnen würden – und Empiristen die Vernunft. Tatsächlich sind in den Texten rationalistischer Philosophen immer auch empiristische Elemente zu finden und umgekehrt.


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=== Rationalismus in Religionsphilosophie und Theologie ===
| <poem>
Im Kontext von Religionsphilosophie und Theologie bezeichnet „[[Theologischer Rationalismus|Rationalismus]]“ Positionen, die der menschlichen Vernunft ein Wissen vom Göttlichen zutrauen und die eine philosophische Theologie, ohne die Voraussetzung einer [[Offenbarung]] oder Gnade, für zulässig und durchführbar halten. Ein alternativer Name für diese Positionen ist auch „[[Intellektualismus]]“. Eine solche Position ist eng mit bestimmten theologischen Inhalten verbunden, die als Folge oder als Voraussetzung des rationalen Zugangs gelten können, z.&nbsp;B, dass göttliches Wollen und Handeln logischen und metaphysischen Regeln folgt und aus Gründen geschieht. Dazu tritt üblicherweise die Annahme stabiler und erkennbarer [[Ontologie|ontologischer]] Strukturen und [[Moral|moralischer]] Prinzipien und Kriterien, denen sich der Göttliche Wille fügt oder die ihm entsprechen, was dazu führen kann, dass Gott von einigen Vertretern mit einer Art höchster Vernunft identifiziert wird. Die Gegenpositionen vertreten demgegenüber, dass das göttliche Wollen und Handeln völlig willkürlich erfolgt ([[Voluntarismus]]), oder dass die einzelnen Zeitmomente je momentan von Gott verursacht werden und nur scheinbar einen Ablauf von Ereignissen darstellen ([[Okkasionalismus]]). Beide Gegenpositionen wollen damit erreichen, dass der göttliche Wille an keine logischen oder sonstige Prinzipien gebundenen ist und somit rational unverständlich bleiben muss. Sowohl in der [[Mu'tazila|islamischen Theologie]] wie der christlichen [[Scholastik]] und der [[Rationale Theologie|rationalen Theologie]] der [[Zeitalter der Aufklärung|Aufklärungsepoche]] werden derartige Kontroversen debattiert.


<center>'''DER PANTHER'''
In etwas abweichender und eher selten gewordener Verwendung kann „Rationalismus“ in der Theologie oder Theologiegeschichte auch meinen, dass z.&nbsp;B. Aspekte der Personalität des Göttlichen, die sich (tatsächlich oder vermeintlich) nicht mit starken Ansprüchen einer Rationalisierbarkeit vereinbaren lassen, für verzichtbar gehalten werden. Umgekehrt wird dann z.&nbsp;B. von „Voluntarismus“ gesprochen, wenn das Göttliche durchaus als Person mit Willen, Ausübung von Handlungen usw. beschrieben bzw. konzipiert wird.
''Im Jardin des Plantes, Paris''</center>
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.


Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
== Ideengeschichte ==
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
=== 16.–17. Jahrhundert ===
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
Der Rationalismus knüpft in vielem an die Begrifflichkeit und Methode der lateinischen [[Scholastik]] an, beansprucht für sich aber, ein selbständiger Neuansatz zu sein. Dem ging ein sich vor allem im [[Frankreich]] des frühen 17. Jahrhunderts ausbreitender Unmut über die angebliche „unfruchtbare Spitzfindigkeiten“ scholastischer Debatten voraus; dieser Unmut ist auch auf einen allgemeinen Wunsch nach Beendigung der konfessionellen [[Religionskrieg|Konflikte]] zurückzuführen. Die mit metaphysischen Argumenten bestrittenen theologischen Debatten würden, so ein damals häufig vorgebrachter Vorwurf, lediglich dem moralischen [[Skeptizismus]] den Weg bereiten. Demgegenüber versuchte der Rationalismus, methodisch strikt nachvollziehbar zu argumentieren und in der Begründung auf die Interpretation von Autoritäten zu verzichten. Dabei erfolgte eine Verschiebung der thematischen Aufmerksamkeit von der religiösen [[Eschatologie|Heilslehre]] hin zur technischen Naturbeherrschung, wie es [[Francis Bacon]] vorgeschlagen hatte. Der [[Erkenntnistheorie|erkenntnistheoretische]] Rationalismus fand auch in anderen Bereichen der Philosophie Anwendung, etwa der Ethik und der Rechtsphilosophie. So wurde die Meinung vertreten, dass sich die elementaren Grundsätze menschlicher [[Moral]] und des [[Naturrecht]]s aus reiner Vernunft ergäben (siehe [[Samuel von Pufendorf]], [[Thomas Hobbes]], [[Baruch de Spinoza]] im weiteren Sinne auch [[Immanuel Kant]], [[G. W. F. Hegel]] u.&nbsp;a.). In der [[Religionsphilosophie]] folgte zunächst der [[Deismus]] rationalistischen Ansätzen, wenn er fundamentale religiöse Prinzipien postuliert, die erkennbar sind. Das lässt eine historische Offenbarung überflüssig erscheinen und führte zum [[Theologischer Rationalismus|theologischen Rationalismus]].
in der betäubt ein großer Wille steht.


Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
Als Begründer des klassischen Rationalismus (auch als „[[Intellektualismus]]“ bezeichnet) gilt [[René Descartes]], der dabei wichtige Anregungen von [[Marin Mersenne]] erhielt. Descartes beginnt eine Reformation von [[Wissenschaft]] und [[Philosophie]] nach dem Vorbild der [[More geometrico|Geometrie]]. Dabei dient ihm der axiomatische Aufbau von [[Euklids Elemente]]n als Muster. Demnach lassen sich universelle Grundsätze mit Hilfe des Verstandes aus Grundbegriffen erschließen. Alle übrigen Fragen der Philosophie und [[Naturwissenschaft]]en können durch [[Deduktion]] von [[Theorem]]en aus diesen Grundsätzen und deren Anwendung auf spezifische Probleme ([[Korollar]]e) beantwortet werden. Descartes behauptete, dass solche Grundsätze mit Hilfe der Sinneswahrnehmung nicht erschlossen werden könnten. Die sinnliche Wahrnehmung wurde als eine vom Verstand unterschiedene Quelle der Wahrnehmung betrachtet, die aber nur unscharfe und ungewisse Erkenntnisse hervorbringt, die vor Descartes’ methodischem [[Cogito ergo sum|Zweifel]] keinen Bestand haben. Die Herkunft dieser Grundbegriffe bzw. die Frage, was zu ihrem Umfang gehört, war eine offene Frage des rationalistischen Forschungsprogramms.
sich lautlos auf . Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.


<small>[[w:Rainer Maria Rilke|Rainer Maria Rilke]], Neue Gedichte, [[commons:Image:Neue Gedichte (Rilke 1907) 037.gif|S. 37]]</small></poem>
In dieser Phase standen dem Rationalismus moralische Skeptiker wie [[Pierre Bayle]] oder [[Apologet]]en wie [[Blaise Pascal]] entgegen, die dem Verstand und der Vernunft die Fähigkeit absprachen, zu allgemein gültigen und unbezweifelbaren Sätzen über die Moral oder das Verhältnis von Seele, Welt und Gott zu erlangen.
|}


]]
=== 18. Jahrhundert ===
[[Nicolas Malebranche]] in Frankreich, der niederländische Philosoph [[Baruch Spinoza]] und der deutsche Universalgelehrte [[Gottfried Wilhelm Leibniz]] und andere entwickelten den cartesianischen Rationalismus weiter und begründeten seine Position als philosophische Hauptströmung an den kontinentaleuropäischen Universitäten des [[Zeitalter der Aufklärung|18. Jahrhunderts]]. Dabei gerieten sie nicht nur in Konflikt mit orthodoxen Positionen aller christlichen Konfessionen, sondern auch mit Anhängern des Materialisten [[Pierre Gassendi]], des Empiristen [[John Locke]] oder etwa den Schülern [[Isaac Newton]]s, wenn auch zum Teil nur aus wissenschaftshistorischen Zufällen (z.&nbsp;B. dem [[Gottfried Wilhelm Leibniz#Prioritätsstreit|Prioritätsstreit]]).


Die '''Freiheit''' ([[lat.]] ''[[libertas]]''; {{ELSalt|ἐλευθερία}} ''éleutheria'') des [[Mensch]]en liegt nach [[Rudolf Steiner]] darin begründet, dass er die Gesetze ''seines'' Handelns erkennen und darauf ''seine'' [[Entscheidung]]en gründen kann. Ausgangspunkt der Freiheit ist daher nicht die [[Freiheit des Willens]], sondern die [[Freiheit der Gedanken]], die sich der [[Mensch]] im reinen, sinnlichkeitsfreien [[Denken]] durch [[moralische Intuition]] erringen kann - nicht aus blinden [[Instinkt]]en, [[Trieb]]en oder [[Begierde]]n, auch nicht in der bloßen Befolgung [[Soziale Norm|äußerer Normen]], sondern wissend aus voll bewusster [[Liebe]] zu dem, was er tut. Nur so kann er sein Handeln [[selbstbestimmt]], [[autonom]] gestalten, allen äußeren Zwängen zum Trotz. Fehlt ihm die ''innere Freiheit'', vermag er die ''äußere Freiheit'' nicht zu nützen, würde sie ihm auch noch so großzügig gewährt.
Der [[Empirismus]] stellte die Grundbegriffe der Rationalisten in Frage, gerade weil diese nicht aus der Sinneswahrnehmung stammen sollten. Dem Empiristen zufolge kann – grob gesprochen – aber nur das als Erkenntnis anerkannt werden, was aus Beobachtungen abgeleitet wurde und durch sie bestätigt wird. Der erkenntnistheoretische [[Skeptizismus]] von [[David Hume]] nimmt die Kritikpunkte, die beide Strömungen gegeneinander vorbringen, gleichermaßen auf: empiristische Induktion kann nicht zu streng allgemeingültigen Sätzen führen; die rationalistische Deduktion ruht auf ungewissen Voraussetzungen. Der Rationalismus findet schließlich bei [[Christian Wolff (Philosoph)|Christian Wolff]] zu einem System vom enzyklopädischer Vollständigkeit.


{{GZ|Lesen Sie nach in meiner «[[Philosophie der Freiheit]]», was für einen großen Wert ich darauf gelegt habe, daß nicht gefragt werde nach der Freiheit des Willens. Der sitzt unten, tief unten im Unbewußten, und es ist ein Unsinn, nach der Freiheit des Willens zu fragen; sondern man kann nur von der Freiheit der Gedanken sprechen. Ich habe das in meiner «Philosophie der Freiheit» wohl auseinandergehalten. Die freien Gedanken müssen dann den Willen impulsieren, dann ist der Mensch frei.|235|46ff}}
[[Immanuel Kant]], auch ein [[Vordenker der Aufklärung]], verstand seine [[Transzendentalphilosophie]] ausdrücklich als eine Vermittlung von Rationalismus und Empirismus. Der deduktiv-rationalistische Aufbau wird unter verschiedenen Vorbehalten auch dann akzeptiert, wenn für Grundbegriffe keine Grundlage aus Wahrnehmungen der Sinne vorliegt, allerdings nur dann, wenn diese Begriffe aus einer Analyse von [[transzendental]]en Strukturen der Vernunft und der Wahrnehmung selbst stammen, also aus einer ''[[Kritik der reinen Vernunft]]''. Die Grundstrukturen der erkennbaren Welt können so in Grundsätzen ausgesprochen werden, die als [[Synthetisches Urteil a priori|synthetische Urteile a priori]] aus der Verbindung der Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes hervorgehen. Sinnlichkeit und Vernunft sind für Kant keine separaten Stränge der Erkenntnis, sondern gemeinsam die „Stämme“ der in vernunftmäßige Regeln passenden Erfahrung.


Dass es sich dabei um ein fernes, nur selten erreichtes [[Ideal]] handelt, kann kaum bezweifelt werden. Nur selten handelt der Mensch wirklich frei aus vollbewusster Einsicht in die wahren Gründe seines Tuns. Oft ist er der Sklave seiner eigenen [[Egoismus|Egoismen]] oder folgt bestenfalls den äußeren Regeln, die ihm anerzogen wurden. Doch liegt in seinem [[Ich]] die Kraft, sich diesem Ideal schrittweise im Zuge einer langen Entwicklung zu nähern und schlussendlich zu einem wahren [[Geist der Freiheit]] zu werden. Dass dieses Ziel bei unbefangener Betrachtung nicht in einem einzigen [[Erdenleben]] erreichbar ist, sondern vieler [[Wiederholte Erdenleben|wiederholter Erdenleben]] und der heilsamen Kraft des [[Karma]]s bedarf, erscheint so gesehen nicht unplausibel.
=== 19. Jahrhundert – Gegenwart ===
Rationalistische Positionen sind gegenwärtig Teil in unterschiedlichen [[Erkenntnistheorie]]n, in den überwiegend deutschen [[Diskurstheorie]]n, in ökonomischen Theorien wie der [[Spieltheorie]] und der [[Theorie der rationalen Entscheidung|Rationalen Entscheidungstheorie]] und in überwiegend anglo-amerikanischen Theorien [[Internationale Beziehungen|internationaler Beziehungen]]. Dabei handelt es sich jedoch nicht immer um rationalistische Positionen im engeren Sinne (s.&nbsp;o.), gemeinsam ist ihnen aber, dass sie [[Rationalität]] in Denken und Handeln voraussetzen. Der Unterschied zwischen Rationalismus und Rationalitätstheorien wird jedoch auch von den Gegnern dieser Positionen oft nur unscharf gesehen. Das zeigt sich mit Blick auf den [[Irrationalismus]] der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (in der [[Romantik]]) als Gegenbegriff aufgebaut wurde.


== Eleutheria ==
Im Rahmen der Kulturkritik entfaltete sich eine breite Kritik am Rationalismus, u.&nbsp;a. bei [[Oswald Spengler]] und bei [[Martin Heidegger]], später bei zahlreichen Philosophen der französischen [[Nietzsche-Rezeption#Seit den 1970ern|Nietzsche-Rezeption]] und des [[Poststrukturalismus]] mit recht unterschiedlichen Stoßrichtungen. Gegen diese Positionen und in Bezug auf weitere philosophische Entwicklungen haben sich in verschiedenen systematischen Bereichen rationalistische Neuansätze gewandt, so u.&nbsp;a. moderne Vertreter des [[Theologischer Rationalismus|Theologischen Rationalismus]], der [[Kritischer Rationalismus|Kritische Rationalismus]] im Bereich der [[Wissenschaftstheorie]].


Der griechische Begriff '''Éleutheria''' ({{ELSalt|ἐλευθερία}}) leitet sich vermutlich von {{ELSalt|ἐλευ}} ''éleu'' ab, was ungefähr bedeutet: „ein geliebtes Ziel erreichen“ (zu können), durchaus im Sinne einer äußeren (See)Reise, die man bestehen muss und dabei seine Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, um das erstrebte, geliebte Ziel zu erreichen, wie es klassisch [[Homer]] in seiner [[Ilias]] und [[Odyssee]] schildert.
Dabei kommt es oft zur kritischen Ausdifferenzierungen des Rationalitätsbegriffs. Besonders einflussreich ist die „kommunikative Rationalität“, wie sie von [[Jürgen Habermas]] geprägt und mit [[Karl-Otto Apel]] und vielen anderen Philosophen gemeinsam entwickelt wurde. [[Julian Nida-Rümelin]] vertritt im deutschen Sprachraum prominent eine „strukturelle Rationalität“ auf der sich auch seine „rationalen Ethik“ gründet.<ref>Julian Nida-Rümelin: ''Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft'', Ditzingen 2001; Ders.: ''Rationale Ethik''. In: Pieper, Annemarie (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik. Gegenwart. Bd. 2, Francke: Tübingen u.&nbsp;a. (1992), S. 154–172.</ref> In den Arbeiten von [[Herbert Schnädelbach#Vernunftreflexion und Rationalitätstheorie|Herbert Schnädelbach]] werden drei basale Typen der Rationalität benannt, die durch ihn angestoßene Debatte unterscheidet mittlerweile rund fünfzig verschiedene Rationalitätstypen.


== Gedankenfreiheit und sittliche Autonomie ==
== Siehe auch ==
[[Datei:Böcklin Die Freiheit 1891.jpg|miniatur|300px|Die Freiheit ([[Wikipedia:Arnold Böcklin|Arnold Böcklin]], 1891)]]
 
<div style="margin-left: 20px;">
"Es handelt sich dabei darum, daß man die Freiheit entwickelt hat zunächst im Gedanken. Im Gedanken geht der Quell der Freiheit auf. Der Mensch hat einfach ein unmittelbares Bewußtsein davon, daß er im Gedanken ein freies Wesen ist." {{Lit|{{G|235|54}}}}
</div>
 
Die [[Erkenntnis]] der Gesetzmäßigkeiten des eigenen Handelns ist zunächst nur ein Sonderfall des Erkennens überhaupt, doch indem die Erkenntnis sich auf die ''bewusste'' Tätigkeit des [[Ich]]s richtet, liegt diese Gesetzmäßigkeit nicht außerhalb des erkannten Objektes, des Ichs, sondern ist der Inhalt des im lebendigen Tun begriffenen Ich selbst, das diese Gesetze aus sich und der Einsicht in die Gegebenheiten hervorbringt. Erkennender und Erkanntes, [[Subjekt]] und [[Objekt]], fallen in eins, werden identisch, und damit beherrschen uns nicht mehr von außen gegebene sittliche Gebote und Gesetze, auch nicht mehr von innen aufgedrungene [[trieb]]hafte Handlungsweisen, sondern wir nehmen erstere in unser eigenes [[Wesen]] auf oder wir klären, was uns letztere abverlangen und vollziehen nur das, was wir uns selbst befehlen, d. h. was wir selbst zu bewussten Handlungsmotiven erhoben haben.
 
{{GZ|Wahrhaft ''unsere'' Handlungen sind ja doch nur
diejenigen, wo wir, den [[Pflicht]]begriff vollkommen beiseite
setzend, rein unsere Individualität walten lassen.|38|143}}
 
{{GZ|Eine Handlung wird als eine freie empfunden, soweit
deren Grund aus dem ideellen Teil meines individuellen
Wesens hervorgeht; jeder andere Teil einer Handlung,
gleichgültig, ob er aus dem Zwange der Natur oder aus der
Nötigung einer sittlichen Norm vollzogen wird, wird als
unfrei empfunden.
 
Frei ist nur der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke
seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist. Eine sittliche
Tat ist nur meine Tat, wenn sie in dieser Auffassung
eine freie genannt werden kann.|4|164}}
 
Dadurch wird im Sinne Steiners die [[sittliche Autonomie]] und der [[Ethischer Individualismus|ethische Individualismus]] und eine durchgreifende [[Toleranz]] im Zusammenspiel von Mensch, Gesellschaft und Welt begründet. Voraussetzung dafür ist, dass man das [[Liebe|liebt]], was man aus Einsicht tut, d.h. sich in freier Hingabe mit dem Auszuführenden identifiziert und dabei die sozialen und natürlichen Bedingungen beachtet.  Daraus folgt die [[Grundmaxime der freien Menschen]], die [[Rudolf Steiner]] in seiner [[Philosophie der Freiheit]] so formuliert hat:
 
{{GZ|Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.|4|166}}
 
Seine Gedanken zur Freiheit hat Rudolf Steiner ausführlich in seinen grundlegenden [[Philosophie|philosophischen]] Schriften dargestellt, vor allem am Anfang seines öffentlichen schriftstellerischen Wirkens in "[[Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller]]", "[[Wahrheit und Wissenschaft]]" und in "[[Die Philosophie der Freiheit]]" und später, da die Verwirklichung der Freiheitsidee schon eine lange Entwicklung der Bewußtseinskräfte innerhalb der Weltanschauungssysteme und damit des immer universeller werdenden individuellen Denkens in der Menschheit durchgemacht hat, aus der reifen Erfahrung seines jahrzehntelangen Umgangs mit dem in seinen frühen Werken konzipierten Erkenntnisweg in "[[Die Rätsel der Philosophie]]".
 
{{GZ|Wer dieses Buch, meine «Philosophie
der Freiheit» studiert, wird allerdings finden, daß ich genötigt
war, nicht von einer Freiheit des Willens zunächst zu
sprechen, sondern von der Freiheit dessen, was im Gedanken,
und zwar in dem sinnlichkeitsfreien Gedanken, im reinen
Gedanken, erlebt wird, in demjenigen Gedanken aber,
der in der menschlichen Seele bewußt als ein sittliches, als
ein moralisches Ideal auftaucht, und der diejenige Stärke erlangt,
die auf den Willen des Menschen motivierend wirken
kann. Wir können von Freiheit des Menschen sprechen,
wenn wir von jenen Handlungen des Menschen sprechen,
die aus seinem freien Denken heraus gestaltet werden, wo
der Mensch durch eine moralische Selbsterziehung dazu
kommt, daß ihn die Instinkte, die Triebe, die Emotionen,
sein Temperament nicht beeinflussen zu einer Handlung,
sondern allein die hingebungsvolle Liebe zu einer Handlung.
In dieser hingebungsvollen Liebe zu einer Handlung kann
sich entwickeln, was aus der idealen Stärke des reinen sittlichen
Gedankens hervorgeht. Das ist eine wirkliche freie
Handlung.|79|128}}
 
Um deutlich zu machen, dass das Denken des Menschen ein ausgesprochener Freiheitspol ist, was Steiner ja schon in der [[Philosophie der Freiheit]] sagt, hat [[Joseph Beuys]] einmal folgende Formel aufgestellt:
 
'''Denken = Wissenschaft = Freiheit ([[Beuys]])'''
 
=== Freiheit und Intellektualismus ===
 
Im [[Intellektualismus]] erstirbt unser geistiges Wesen, aber gerade dadurch wird uns die Möglichkeit zur Freiheit gegeben. Der [[Intellekt]] ist keine [[Wirklichkeit]], sondern bloßes [[Bild]] und kann uns daher nicht zwingen. Indem wir dieses Bild schöpferisch umgestalten und in  in voller Freiheit in unserem [[Denken]] die sittlichen Impulse gestalten, die unser Handeln leiten, verwirklichen wir damit zugleich unser ureigenstes geistiges Wesen.
 
{{GZ|Der Mensch
mußte intellektualistisch werden, damit er frei werden könne. Der
Mensch verliert im Intellektualismus sein geistiges Wesen, denn er kann
vom Intellektualismus nichts durch des Todes Pforte tragen. Aber er
erwirbt hier die Freiheit durch den Intellektualismus, und was er so
in Freiheit erwirbt, das kann er dann durch des Todes Pforte tragen.
 
Der Mensch mag also denken so viel er will auf bloße intellektualistische
Art - nichts davon geht durch des Todes Pforte. Allein wenn
der Mensch das Denken verwendet, um es in freien Handlungen auszuleben,
so geht so viel gewissermaßen als die geistig-seelische Substanz,
die ihn zum Wesen macht und nicht zum bloßen Wissen, mit ihm aus
seinen Freiheitserlebnissen durch des Todes Pforte. Im Denken wird
uns durch den Intellektualismus unser Menschenwesen genommen, um
uns zur Freiheit gelangen zu lassen. Was wir in Freiheit erleben, das
wird uns dann wiederum gegeben als menschliches Wesen. Der Intellektualismus
tötet uns, aber er belebt uns auch. Er läßt uns wieder auferstehen
mit völlig verwandelter Wesenheit, indem er uns zu freien
Menschen macht.|207|170}}
 
{{GZ|Wir können deutlich auf
das erste Drittel des 15. Jahrhunderts hinweisen: da ist mit aller Deutlichkeit
erst dieser Intellektualismus heraufgekommen. Früher haben
die Menschen, auch wenn sie sogenanntes Wissenschaftliches gedacht
haben, viel mehr in Bildern, welche die Wachstumskräfte der Dinge
selber darstellten, gedacht, nicht in abstrakten Begriffen, wie wir das
heute selbstverständlich tun müssen. Nun, diese abstrakten Begriffe,
die uns innerlich zum reinen Denken erziehen, wovon ich gerade in
meiner «Philosophie der Freiheit» gesprochen habe, diese abstrakten
Begriffe, sie machen es möglich, daß wir freie Wesen werden. Als die
Menschen noch nicht in Abstraktionen denken konnten, waren sie mit
ihrer ganzen Seelenverfassung determiniert, abhängig. Frei können
sich erst die Menschen entwickeln, nachdem sie innerlich durch nichts
bestimmt sind, nachdem die moralischen Impulse - Sie können das
nachlesen in meiner «Philosophie der Freiheit» - im reinen Denken erfaßt
werden können. Reine Gedanken sind aber keine Realität, sondern
sie sind Bilder. Bilder können uns nicht zwingen, wir selber müssen
unser Handeln bestimmen; Bilder haben nichts Zwingendes. Die
Menschheit hat sich auf der einen Seite zum abstrakten Gedanken, auf
der andern Seite zur Freiheit entwickelt. Das habe ich von andern Gesichtspunkten
aus öfter dargestellt.
 
Aber nun, bevor die Menschheit fortgeschritten war dazu, im Erdenleben
den abstrakten Gedanken zu fassen, im Erdenleben durch dieselbe
Fähigkeit, die den abstrakten Gedanken fassen kann, zur Freiheit
zu kommen, wie war es denn damals mit ihr? Da hat die Menschheit
im Leben auf der Erde zwischen der Geburt und dem Tode nicht abstrakte
Gedanken gefaßt; selbst im alten Griechenland war das noch
nicht möglich, geschweige denn in früheren Zeiten. Da hat die Menschheit
durchaus in Bildern gedacht und war demgemäß auch nicht mit
dem innerlichen Freiheitsbewußtsein ausgestattet, das eben heraufgezogen
ist mit dem reinen, das ist abstrakten Gedanken. Der abstrakte
Gedanke läßt uns kalt. Dasjenige, was uns der abstrakte Gedanke an
moralischer Fähigkeit gibt, das macht uns im intensivsten Sinne warm,
denn das stellt im höchsten Sinne unsere Menschenwürde dar.
 
Wie war es, bevor der abstrakte Gedanke mit der Freiheit über die
Menschheit kam? Nun, Sie wissen, wenn der Mensch durch die Pforte
des Todes geht, dann hat er in den ersten Tagen, nachdem er seinen
physischen Leib verlassen hat, noch den ätherischen Leib an sich, und
er hat wie in einer umfassenden Rückschau, nicht in Detailmalerei,
aber in ausgleichenden universellen Bildern seinen ganzen Lebensgang,
den er durchgemacht hat, soweit er sich zurückerinnert, vor sich. Dieses
Lebenstabieau hat der unmittelbar Verstorbene durch mehrere Tage
vor sich als Bildinhalt. Ja, meine lieben Freunde, so ist es heute. In derjenigen
Zeit, in der die Menschen hier auf der Erde Bildinhalt hatten,
hatten sie unmittelbar nach dem Tode das, was der heutige Mensch
erlebt, das Rationelle, die logische Erfassung der Welt, die sie zwischen
Geburt und Tod nicht hatten, in der Rückschau vor sich. Das ist etwas,
was uns im eminentesten Sinne hineinführt in das Verständnis der Menschenwesenheit.
Dasjenige, was der Mensch einer älteren Geschichtsepoche
sogar, nicht nur der Urzeit, erst nach dem Tode hatte: einen
kurzen Rückblick in abstrakten Begriffen und den Impuls der Freiheit,
der ihm dadurch dann blieb für das Leben zwischen dem Tode und einer
neuen Geburt, das hat sich hereingeschoben während der Menschheitsentwickelung
in das Erdenleben. Das gehört zu den Geheimnissen des
Daseins, daß sich Übersinnliches fortwährend hereinschiebt in das Sinnliche.
Was heute ausgedehnt ist über das Erdenleben, die Fähigkeit der
Abstraktion und Freiheit, das war etwas, was bei einer älteren Menschheit
nach dem Tode erst in den Menschenbesitz kam mit dieser Rückschau,
während heute der Mensch während des Erdenlebens zwischen
der Geburt und dem Tode die Rationalität, die Intellektualität und die
Freiheit hat und daher eine bloße Bildrückschau nach dem Tode. So
schieben sich die Dinge ineinander. Fortwährend schiebt sich real Konkret-
Übersinnliches in das Sinnliche herein.|257|43f}}
 
=== Schein und Wirklichkeit ===
 
Wir können uns die Freiheit nur deswegen erringen, weil wir während unseres Erdenlebens mit unserem [[Tagesbewusstsein]] in einer Welt des bloßen [[Schein]]s leben.
 
{{GZ|Wenn wir unsere Sinne hinausrichten in unsere Weltumgebung zwischen
Geburt und Tod, dann stellt sich uns die Welt als Erscheinung,
als Schein dar [...]
 
Wenn aber der Mensch zwischen Geburt und Tod im heutigen Zeitalter
die Welt nicht als Schein wahrnehmen würde, wenn er den Schein
nicht erleben könnte, so könnte er ja nicht frei sein. Die Entwickelung
der Freiheit ist nur möglich in der Welt des Scheines. Ich habe das angedeutet
in meinem Buche «Vom Menschenrätsel», indem ich darauf
hingewiesen habe, daß eigentlich die Welt, die wir erleben, verglichen
werden kann mit den Bildern, die uns aus einem Spiegel heraus anschauen.
Diese Bilder, die uns aus einem Spiegel heraus anschauen, die
können uns nichts aufzwingen; sie sind eben nur Bilder, sie sind Schein.
Und so ist das, was der Mensch als Wahrnehmungswelt hat, auch
Schein.
 
Der Mensch ist ja durchaus nicht etwa ganz nur in den Schein der
Welt eingesponnen. Er ist nur mit seinem Wahrnehmen, das sein waches
Bewußtsein ausfüllt, eingesponnen in eine Scheinwelt. Aber wenn
der Mensch hinblickt auf seine Triebe, auf seine Instinkte, auf seine
Leidenschaften, auf seine Temperamente, auf all das, was heraufwogt
aus dem menschlichen Wesen, ohne daß er es zu klaren Vorstellungen
bringen kann, wenigstens zu wachen Vorstellungen, so ist ja das alles
nicht Schein. Es ist schon Wirklichkeit, aber eine Wirklichkeit, die
dem Menschen nicht vor das gegenwärtige Bewußtsein tritt. Der
Mensch lebt zwischen Geburt und Tod in einer wahren Welt, die er
nicht kennt, die aber niemals dazu angetan ist, ihm wirklich die Freiheit
zu geben. Instinkte, die ihn unfrei machen, kann sie ihm einpflanzen,
innere Notwendigkeiten kann sie hervorbringen, aber nie und
nimmer kann sie den Menschen die Freiheit erleben lassen. Die Freiheit
kann nur erlebt werden innerhalb einer Welt von Bildern, von Schein.
Und wir müssen eben, indem wir aufwachen, in ein Scheinwahrnehmungsleben
eintreten, damit sich da die Freiheit entwickeln kann.|207|172f}}
 
Anders ist es zunächst im [[Leben zwischen Tod und neuer Geburt]]. Da tritt dem Menschen die Wirklichkeit der [[Geistige Welt|geistigen Welt]] entgegen und er wird dadurch von deren [[Notwendigkeit]] gefangengenommen. Was er sich aber im Erdenleben an Freiheit erworben hat, das kann er als sein Eigenwesen durch die Todespforte tragen und in der jenseitigen Welt geltend machen.
 
{{GZ|Das Leben im Scheine
ist ihm eigentlich nur gewährt zwischen der Geburt und dem Tode.
Der Mensch kommt heute nicht dazu, zwischen dem Tode und einer
neuen Geburt im Scheine zu leben. Er wird gewissermaßen gefangengenommen
von der Notwendigkeit, wenn er durch den Tod tritt [...]
 
Das ist die Entwickelung, in die der Mensch eingetreten ist mit der
Mitte des 15. Jahrhunderts. Aus dem Schein der Erde sind ihm verschwunden
die göttlich-geistigen Welten. In der Zeit zwischen dem
Tod und einer neuen Geburt nehmen ihn aber diese göttlich-geistigen
Welten so gefangen, daß er seine Selbständigkeit ihnen gegenüber nicht
bewahren kann. Nur, sagte ich, wenn der Mensch hier wirklich Freiheit
entwickelt, das heißt, wenn er seinen ganzen Menschen engagiert
für das Scheinleben, dann ist es ihm möglich, auch sein Eigenwesen
durch die Todespforte zu tragen.|207|174f}}
 
Wirkt das Erleben der nachtodlichen Notwendigkeit zu stark in das nächste Erdenleben hinein, ensteht eine Gefahr, in der die gegenwärtige [[Menschheit]] tatsächlich schwebt:
 
{{GZ|Sie kann sich nicht recht einleben in die bloße
Welt der Phänomene, in die Welt des Scheines. Vor allen Dingen mit
dem inneren Leben kann sie sich nicht in diese Welt des Scheines einleben.
Sie will sich der Notwendigkeit, der inneren Notwendigkeit
übergeben, den Instinkten, Trieben, Leidenschaften. Wir sehen ja heute
wenig von dem verwirklicht, was aus der freien Impulsivität des reinen
Denkens hervorgeht. Aber ebensoviel als dem Menschen hier im
Leben zwischen Geburt und Tod mangelt an Freiheit, ebensoviel
kommt mit dem hypnotisierenden Zwange zwischen Tod und neuer
Geburt von Unfreiheit, von Notwendigkeit in der Wahrnehmung über
ihn. So daß dem Menschen die Gefahr droht, daß er durch die Todespforte
schreitet, sein eigenes Wesen nicht mitnehmen kann, aber für
die Wahrnehmungswelt sich nicht einlebt in etwas Freies, sondern in
etwas, was ihn untertauchen läßt in Zwangsverhältnisse, was ihn wie
erstarren macht in der äußeren Welt.|207|178}}
 
=== Technik und Freiheit ===
 
{{GZ|In der Maschine hat sich der Mensch mit einem zwar Durchsichtigen,
aber ihm Fremden umgeben. Er hat sein Leben mit
diesem Fremden verbunden. Kalt und menschenfern steht die
Maschine da, ein Triumph der «sicheren» Erkenntnis; neben
ihr steht der Mensch selbst, Finsternis vor sich, wenn er mit
dieser Erkenntnis in sich selbst hineinsieht.
 
Und dennoch: ''diesen'' Blick in das durchsichtige Tote mußte
die Menschheit in sich erziehen, wenn sie völlig ''wach'' werden
sollte. Sie braucht das ''Bildwissen'' von dem, was ihrem eigenen
Wesen fremd ist, zum Wachsein. Denn alles vorangehende
Wissen ist aus dem Dunkel der eigenen Menschennatur mitbestimmt;
klar wird es erst vor der Seele, wenn die Menschenseele
zum bloßen Spiegel wird, der nur noch ''Bilder'' des Menschenfremden
entwirft. Vorher hatte der Mensch in seinem
Seeleninhalt, wenn er von Wissen sprach, die Triebe, die Inhalte
seiner eigenen Natur, die als solche nicht klar sein können.
Seine Ideen waren von einem Sein durchsetzt; aber sie
waren nicht klar. - Die ''Bilder'' des leblosen Seins sind klar. Nun
aber hat der Mensch an diesen Bildern ''nicht nur'' die Offenbarung
des Leblosen, sondern auch innere Erlebnisse. ''Bilder''
können durch ihre eigene Natur nichts veranlassen. Sie sind
kraftlos. Erlebt der Mensch seine sittlichen Impulse in dem
Reich des Bildlichen so, wie er es an der leblosen Natur sich
anerzogen hat, dann erhebt er sich zur Freiheit. Denn Bilder
können nicht wie Triebe, Leidenschaften oder Instinkte den
Willen bestimmen. Erst das Zeitalter, das am Toten das Mathematik-ähnliche Bilddenken entwickelte, kann den Menschen
zur Freiheit geleiten.
 
Die kalte Technik gibt dem Menschendenken ein Gepräge,
das in die Freiheit führt. Zwischen Hebel, Rädern und Motoren
lebt nur ein toter Geist; aber in diesem Totenreiche ''erwacht''
die freie Menschenseele. Sie muß den Geist in sich erwecken,
der vorher nur mehr oder weniger träumte, als er
noch die Natur beseelte. Aus dem träumenden wird waches
Denken an der Kälte der Maschine.|36|84f}}
 
== Das Freiheitserlebnis im Zusamenhang mit Imagination, Inspiration und Intuition ==
 
{{LZ|In jedem Freiheitserlebnis sind drei Dinge verwoben. Sie erscheinen als Einheit
im Moment, wo das Erlebnis sich ereignet, aber der nachherige Gang des Lebens
läßt sie getrennt bewußt werden. Man erlebt das, was man zu tun hat, als inneres
Bild, das in freier moralischer Phantasietätigkeit vor einem aufsteigt. Als eine
wahre Imagination erscheint, was man zu tun sich entschließt, weil man es liebenswert
finden muß. Das Zweite, was in dem einheitlichen Erlebnis enthalten ist, ist
der Impuls, daß man von höheren Mächten ermahnt wird, dem im Innern Aufkeimenden
zu folgen. <Tue es> sagen die inneren Stimmen, und das Gewahrwerden
derselben ist eine wahre Inspiration. Aber noch ein drittes Element ist dem einheitlichen
Erlebnis einverwoben. Man stellt sich durch die Tat in eine äußere Schicksalsumgebung
hinein, in die man ohne das Freiheitserlebnis niemals eingetreten
wäre. Man begegnet jetzt anderen Menschen, wird an andere Orte geführt, dadurch,
daß das innere intuitiv Erfaßte nun zur schicksalhaft von außen herantretenden
Umgebung wird. Die Situation einer wahren Intuition ergibt sich.» «Sehen Sie»,
fuhr Rudolf Steiner fort, «diese drei ineinander verwobenen Erlebnisse haben sich
nachher auseinandergelegt,-sind isoliert bewußt geworden, so daß die Imagination
und die Inspiration und die Intuition als Erkenntnisakte bewußt wurden.|{{BE|49|30}}}}
 
== Der Wille zur Freiheit ==
 
Wer in der [[Erkenntnis]] bei seinen persönlichen [[Meinung]]en und Ansichten stehen bleibt, erkennt nur das Vergängliche. Wer aber in sich das [[Ich]] als seinen ewigen Wesenskern erkennt, der erkennt auch das Ewige in den anderen Dingen, die ihn umgeben.
 
<div style="margin-left:20px">
"Solange man persönlich mit der Welt lebt, so lange enthüllen die Dinge auch nur das, was
sie mit unserer Persönlichkeit verknüpft das aber ist ihr Vergängliches. Ziehen wir uns
selbst von unserem Vergänglichen zurück und leben wir mit unserem Selbstgefühl, mit
unserem «Ich» in unserem Bleibenden, dann werden die vergänglichen Teile an uns
zu Vermittlern; und was sich durch sie enthüllt, das ist ein Unvergängliches, ein Ewiges
an den Dingen. Dieses Verhältnis seines eigenen Ewigen zum Ewigen in den Dingen muß
bei dem Erkennenden hergestellt werden können." {{Lit|{{G|9|188f|188}}}}
</div>
 
Wer sich aus dieser im und durch das Ich gefundenen Erkenntnis des Ewigen die Impulse seines Handelns gibt, der handelt im Einklang mit der ewigen Weltordnung und zugleich in voller Freiheit. Freilich ist das ein Ideal, das der Mensch noch lange nicht erreicht hat, aber es ist ein Ziel, dem er zustreben kann - und das ist sein ''Wille zur Freiheit''.
 
<div style="margin-left:20px">
"So eröffnet sich dem Erkennenden die Möglichkeit, nicht mehr den unberechenbaren
Einflüssen der äußeren Sinnenwelt allein zu folgen, die sein Wollen bald da-, bald
dorthin lenken. Er hat durch Erkenntnis in der Dinge ewiges Wesen geschaut. Er hat
durch die Umwandlung seiner inneren Welt die Fähigkeit in sich, dieses ewige Wesen
wahrzunehmen. Für den Erkennenden erhalten die folgenden Gedanken noch eine
besondere Wichtigkeit. Wenn er aus sich heraus handelt, so ist er sich bewußt, aus dem
ewigen Wesen der Dinge heraus zu handeln. Denn die Dinge sprechen in ihm dieses ihr
Wesen aus. Er handelt also im Sinne der ewigen Weltordnung, wenn er aus dem in ihm
lebenden Ewigen diesem seinem Handeln die Richtung gibt. Er weiß sich dadurch nicht
mehr bloß von den Dingen getrieben; er weiß, daß er sie nach den ihnen selbst
eingepflanzten Gesetzen treibt, welche die Gesetze seines eigenen Wesens geworden
sind. - Dieses Handeln aus dem Innern kann nur ein Ideal sein, dem man zustrebt. Die
Erreichung dieses Zieles liegt in weiter Ferne. Aber der Erkennende muß den Willen
haben, diese Bahn klarzusehen. Dies ist sein Wille zur Freiheit. Denn Freiheit ist Handeln
aus sich heraus. Und aus sich darf nur handeln, wer aus dem Ewigen die Beweggründe
schöpft. Ein Wesen, das dies nicht tut, handelt nach anderen Beweggründen, als den
Dingen eingepflanzt sind. Ein solches widerstrebt der Weltordnung. Und diese muß ihm
gegenüber dann obsiegen. Das heißt: es kann letzten Endes nicht geschehen, was es
seinem Willen vorzeichnet. Es kann nicht frei werden. Willkür des Einzelwesens
vernichtet sich selbst durch die Wirkung ihrer Taten." {{Lit|{{G|9|190f|190}}}}
</div>
 
== Die Wurzeln der menschlichen Freiheit ==
[[Datei:Eugène Delacroix - La liberté guidant le peuple.jpg|mini|300px|[[Wikipedia:Eugène Delacroix|Eugène Delacroix]] – [[Wikipedia:Die Freiheit führt das Volk|Die Freiheit führt das Volk]]]]
=== Der «[[Streit am Himmel]]» ===
 
{{Hauptartikel|Streit am Himmel}}
 
In der Übergangszeit von der [[Alte Sonne|alten Sonne]] zum [[Alter Mond|alten Mond]] fand der sogenannte [[Streit am Himmel]] statt. Dabei wurden [[Wesenheit]]en aus der [[Hierarchie]] der [[Dynameis]] ([[Geister der Bewegung]]) gleichsam ''"abkommandiert"'', um als [[Widersacher]] die fortschreitende Entwicklung zu hemmen, aber gerade dadurch einen neuen wesentlichen Evolutionssprung zu bewirken. Diese [[Mächte]] waren an sich noch nicht [[böse]] und hätten auch nicht aus eigenem [[Wille]]n zu hemmenden Kräften werden können. Aber indem sie Sturm liefen gegen die normale Entwicklung und der Evolution dadurch neue Wege eröffneten, wurde sie letzlich auch zu ''Erzeugern des Bösen'', ermöglichten aber gerade dadurch die Freiheit. Sie selbst hatten zwar diese Freiheit noch nicht, aber ein Teil der [[Engel]]wesenheiten, die auf dem alten Mond ihre [[Menschheit]]sstufe, d.h. ihre [[Ich]]-Entwicklung absolvierten, konnte sich durch den hemmenden Einfluss der Dynameis aus dem Willen der Gottheit befreien und eigene Ziele verfolgen. Sie wurden dadurch zu [[luziferisch]]en Geistern.
 
<div style="margin-left:20px">
"So sehen wir, daß in einer gewissen Beziehung erst dadurch, daß
die Mächte abkommandiert wurden, dem Menschen die Möglichkeit
gegeben wurde, aus sich selbst heraus das Ziel zu erreichen, das
selbst die höchsten Seraphim nicht aus sich selbst erreichen können.
Das ist das Wesentliche. Sie können gar nicht anders handeln, die
Seraphim, Cherubim, Throne, als unmittelbar den Impulsen folgen,
die die Gottheit gibt. Die Herrschaften, die ganze zweite Hierarchie
kann auch nicht anders handeln. Von den Mächten war eine Anzahl
abkommandiert; also auch diese Mächte, die sozusagen sich in den
Weg der Entwickelung warfen, konnten nicht anders als den Befehlen
der Gottheit folgen. Auch in dem, was man nennen könnte den
Ursprung des Bösen, auch da vollziehen sie nur den Willen der
Gottheit; indem sie sich zu Dienern des Bösen machen, vollziehen
sie nur den Willen der Gottheit, die durch den Umweg des Bösen
das starke Gute entwickeln will. Und steigen wir jetzt herunter zu
denjenigen Wesenheiten, die wir die Gewalten nennen: Durch sich
selbst hätten sie das nicht erreichen können. Auch sie hätten nicht
böse werden können durch sich selbst; auch nicht die Geister der
Persönlichkeit, auch nicht die Feuergeister. Denn als diese auf der
Sonne Menschen waren, da waren ja die Mächte noch nicht abkommandiert,
da war überhaupt noch keine Möglichkeit vorhanden,
böse zu werden. Die ersten, die die Möglichkeit hatten, böse zu
werden, waren die Engel, denn diese Möglichkeit war erst von der
Mondenentwickelung aus vorhanden. Da, von der Sonne zum
Mond, hat der Streit am Himmel stattgefunden. Ein Teil der Engel
hat nun diese Möglichkeit ausgeschlagen, hat sozusagen sich nicht
verführen lassen durch die Kräfte, die in die Hemmnisse hineinführen
sollten; die blieben bei der alten Natur. So daß wir bis zu den
Engeln herab und noch in einem Teil der Engel solche Wesenheiten
der geistigen Hierarchien vor uns haben, die unbedingt nicht anders
können, als dem göttlichen Willen folgen, bei denen es keine Möglichkeit
gibt, dem göttlichen Willen nicht zu folgen. Das ist das
Wesentliche.
 
Und nun kommen wir zu zwei Kategorien von Wesenheiten: Erstens
denjenigen Engeln, die sich hineingestürzt haben in das, was
die Mächte während des Streites am Himmel angerichtet haben. Das
waren solche Wesenheiten, die wir eben wegen ihrer weiteren Taten
die luziferischen Wesenheiten nennen. Diese Wesenheiten haben sich
dann herangemacht an den menschlichen Astralleib während der
Erdenentwickelung und dem Menschen die Möglichkeit des Bösen
gegeben, aber damit auch die Möglichkeit, aus eigener freier Kraft
sich zu entwickeln. So daß wir innerhalb der ganzen Stufenfolge der
Hierarchien nur bei einem Teil der Engel und beim Menschen die
Möglichkeit der Freiheit haben. Sozusagen mitten in der Reihe der
Engel beginnt die Möglichkeit der Freiheit; im Menschen ist sie aber
doch erst in der richtigen Weise ausgebildet. Als der Mensch die
Erde betrat, hat er allerdings zunächst verfallen müssen der großen
Gewalt der luziferischen Geister. Sie durchdrangen den Astralleib
des Menschen mit ihren Kräften, und das Ich wurde dadurch einbezogen
in diese Kräfte; so daß wir während der lemurischen und atlantischen
Entwickelung, und auch nachher noch, das Ich wie in einer
Wolke haben, wie in eine Wolke gehüllt, die herbeigeführt worden
ist durch die Einflüsse Luzifers. Der Mensch ist nur dadurch bewahrt
worden vor der Überwältigung durch die ihn herabziehenden Kräfte,
daß frühere Wesenheiten ihn überschattet haben, daß die Engel, die
oben geblieben waren, und die Erzengel oben, in besonderen Individuen
sich verkörpert und ihn geführt haben. Und das geschah bis
in jene Zeit hinein, wo etwas ganz Besonderes eintrat, wo eine Wesenheit,
welche bis dahin nur verbunden war mit dem Sonnendasein,
so weit gekommen war, daß sie jetzt nicht nur, wie frühere Wesenheiten
der höheren Welten, in den physischen Leib, Ätherleib und
Astralleib des Menschen hineintreten konnte, sondern daß sie eindringen
konnte in den Menschen bis in das Ich." {{Lit|{{G|110|166f}}}}
</div>
 
=== Christus und das Mysterium von Golgatha ===
Die luziferischen Geister ermöglichten es dem [[Mensch]]en, während der [[Erdentwicklung]] die Freiheit zu erlangen, nämlich die Freiheit, sich aus dem Willen der Gottheit zu befreien. Das ist aber nur die eine, die negative Seite der Freiheit. Der Mensch wäre dadurch allerdings den luziferischen Mächten verfallen, die in seinem [[Astralleib]] wirkten. Das konnte nur dadurch verhindert werden, dass sich der [[Christus]] selbst auf Erden inkarnierte. Der Christus wirkt unmittelbar durch das Ich des Menschen, aber er entäußert sich dabei jeglichen Machtanspruchs und ermöglicht es dadurch dem Menschen, sich aus freiem Entschluss zum Geistigen zu erheben. Erst dadurch wird die volle Freiheit verwirklicht.
 
<div style="margin-left:20px">
"... diese
Tat ist eine solche, daß sie auf keinen Menschen anders wirkt, als
wenn er sich selbst dazu entschließt, sie auf sich wirken zu lassen,
das heißt, wenn sie mit dem absolut freien Charakter seines individuellen
Ich vereinbar ist. Denn nicht genügt es, daß der Christus
anwesend wird im menschlichen Astralleib, sondern der Christus
muß, wenn er wirklich verstanden werden soll, im menschlichen Ich
anwesend werden. Und das Ich muß sich frei entschließen, den Christus
aufzunehmen. Das ist es, worauf es ankommt. Aber gerade
dadurch nimmt dieses menschliche Ich, wenn es sich mit dem Christus
verbindet, eine Realität in sich auf, eine göttliche Kraft, nicht
bloß eine Lehre. Daher kann hundertmal bewiesen werden, daß alle
Lehren des Christentums schon zu finden sind da oder dort; aber
darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß das Wesentliche im
Christentum die Tat ist, die nur durch eine freiwillige Erhebung
in die höheren Welten zum eigenen Besitz werden kann. Dadurch
also nimmt der Mensch die Christus-Kraft auf, daß er sie freiwillig
aufnimmt, und keiner kann sie aufnehmen, der sie nicht freiwillig
aufnimmt. Dies ist aber dem Menschen nur dadurch möglich geworden,
daß der Christus auf der Erde Mensch geworden ist, daß er
berufen war, auf der Erde Mensch zu werden." {{Lit|{{G|110|170}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Das ist der große Unterschied beim Christentum
gegenüber den alten Götterlehren. Wenn der Mensch den Christus
finden will, dann muß er ihn in Freiheit finden. Er muß sich frei zu
dem Mysterium von Golgatha bekennen. Der Inhalt der Kosmogonien
drängte sich dem Menschen auf. Das Mysterium von Golgatha drängt
sich dem Menschen nicht auf. Er muß in einer gewissen Auferstehung
seines Wesens in Freiheit an das Mysterium von Golgatha herankommen." {{Lit|{{G|207|180}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Hätte der Gott, der mit dem Namen des
Vatergottes bezeichnet wird, es einst nicht zugelassen, daß die luziferischen
Einflüsse an den Menschen herankommen konnten, so hätte
der Mensch nicht die freie Ich-Anlage entwickelt. Mit dem luziferischen
Einfluß wurde die Anlage zum freien Ich entwickelt. Das
mußte zugelassen werden vom Vatergott. Nachdem aber das Ich —
um der Freiheit willen — in die Materie verstrickt werden mußte,
mußte nun, um von dem Verstricktsein in die Materie wieder befreit
zu werden, die ganze Liebe des Sohnes zu der Tat von Golgatha
führen. Dadurch allein ist Freiheit des Menschen, vollständige
menschliche Würde erst möglich geworden. Daß wir freie Wesen sein
können, das verdanken wir einer göttlichen Liebestat. So dürfen wir
uns als Menschen fühlen wie freie Wesen, dürfen aber nie vergessen,
daß wir diese Freiheit verdanken der Liebestat des Gottes. Wenn wir
so denken, wird schon der Gedanke in die Mitte unseres Fühlens
rücken: Du kannst zur menschlichen Würde kommen; nur eines darfst
du nicht vergessen, daß du das, was du bist, dem verdankst, der dir
wieder zurückgebracht hat dein menschliches Urbild durch die Erlösung
auf Golgatha! — Den Freiheitsgedanken sollten die Menschen
 
[[Datei:GA131_229.gif|center|500px|Mysterium von Golgatha]]
 
nicht ergreifen können ohne den Erlösungsgedanken des Christus.
Dann allein ist der Freiheitsgedanke ein berechtigter. Wenn wir frei
sein wollen, müssen wir das Opfer bringen, unsere Freiheit dem
Christus zu verdanken! Dann erst können wir sie wirklich wahrnehmen." {{Lit|{{G|131|228f}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Zweimal ist in der Menschheitsentwickelung
dasselbe Wort gebraucht worden: Einmal bei der
Paradieses Versuchung, als Luzifer zu dem Menschen sagte: «Ihr werdet
sein wie die Götter, eure Augen werden geöffnet werden.» Das ist
der bildliche Ausdruck für den luziferischen Impuls. Luzifer hat damit
die Geistigkeit in die niedere Natur des Menschen gegossen und
dafür den Menschen die Möglichkeit gegeben, zur inneren Freiheit
durch sittliche Motive zu kommen. Und ein zweites Mal wurde gesagt,
jetzt von dem Christus: Seid ihr nicht Götter? {{Bibel|Joh|10|34|LUT}} - Dasselbe Wort!
Daraus sieht man, daß es nicht nur ankommt auf den Inhalt eines
Wortes, sondern auf das Wesen, das ein Wort ausspricht, auf die Art
und Weise, wie ein Wort gesprochen wird. Da sieht man den notwendigen
Zusammenhang zwischen der Luzifertat und der Tat des Christus
auch in bildlicher Weise ausgedrückt, wie die religiösen Urkunden
das zu tun pflegen.
 
Luzifer ist der Bringer der persönlichen Freiheit des einzelnen Menschen,
Christus ist der Träger der Freiheit des ganzen Menschengeschlechtes,
des ganzen Menschentums auf Erden. Das ist das Bedeutsame
der Anthroposophie, daß sie uns lehrt, daß die Anerkennung des
Christus-Wesens in solcher Weise geschehen wird, daß es dem Menschen
freisteht, den Christus anzuerkennen oder nicht, wie es dem
Menschen freisteht, nicht moralisch zu sein.
 
Eine freie Wahrheit soll der Christus für die Menschenseele sein." {{Lit|{{G|150|99}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Und
indem so dieses Himmlische, die Intellektualität und die Freiheit, in
das irdische Leben eingezogen ist, ist für die Menschheit ein anderes
Aufblicken zur Göttlichkeit notwendig geworden, als das früher der
Fall war. Und dieses andere Aufblicken zur Göttlichkeit ist für die
Menschheit möglich geworden durch das Mysterium von Golgatha.
Indem der Christus eingezogen ist in das irdische Leben, kann er heiligen
dasjenige, was aus übersinnlichen Welten eingezogen ist und was
sonst den Menschen zur Hoffart und zu allem möglichen verführen
würde. In einer Zeit leben wir, wo wir einsehen müssen: Von dem
Christus-Impuls muß durchdrungen werden dasjenige, was unser Heiligstes
in diesem Zeitalter ist: die Fähigkeit, reine Begriffe zu fassen,
und die Fähigkeit der Freiheit." {{Lit|{{G|257|45}}}}
</div>
 
== Entwicklung zur Freiheit ==
 
Freiheit ist dem Menschen nicht von Anfang an gegeben, sondern er muss sie selbsttätig entwickeln, indem er sich zum reinen sinnlichkeitsfreien Denken erhebt und in diesem die [[moralische Intuition]] erlebt.
 
<div style="margin-left:20px">
"Man fragt: Ist der Mensch frei oder ist er
nicht frei? Ist der Mensch ein freies Wesen, das mit wirklicher Verantwortung
aus seiner Seele heraus die Entschlüsse fassen kann, oder ist er
eingespannt in eine natürliche oder geistige Notwendigkeit wie ein
Naturwesen? So hat man gefragt, ich möchte sagen, durch Jahrtausende,
und so fragt man noch. Diese Frage schon ist der große Irrtum.
 
Man kann so nicht fragen, sondern die Frage nach der Freiheit ist
eine Frage der menschlichen Entwicklung, einer solchen menschlichen
Entwicklung, daß der Mensch im Laufe seines Jugendlebens oder vielleicht
seines späteren Lebens Kräfte in sich entwickelt, die er nicht einfach
von Natur aus hat. Man kann gar nicht fragen: Ist der Mensch frei ?
Von Natur aus ist er es nicht, aber er kann sich immer mehr und mehr
frei machen, indem er Kräfte erweckt, die in ihm schlummern und die
die Natur nicht erweckt. Der Mensch kann immer freier und freier werden.
Man kann nicht fragen: Ist der Mensch frei oder unfrei, sondern
nur: Gibt es für den Menschen einen Weg zur Erringung der Freiheit?
Und diesen Weg gibt es. Wie gesagt, vor dreißig Jahren versuchte ich
zu zeigen: Wenn der Mensch dazu aufrückt, ein inneres Leben in sich
zu entwickeln, so daß er die sittlichen Impulse für seine Handlungen in
reinen Gedanken erfaßt, kann er wirklich Gedankenimpulse, nicht bloß
instinktive Emotionen seinen Handlungen zugrunde legen, - Gedanken,
die in die äußere Wirklichkeit so untertauchen wie der Liebende
in das geliebte Wesen. Dann nähert sich der Mensch seiner Freiheit. Die
Freiheit ist ebenso ein Kind des Gedankens, der in geistiger [[Hellsicht]]igkeit
erfaßt wird - nicht unter einem äußeren Zwang -, wie sie ein Kind
der wahren hingebungsvollen Liebe ist, der Liebe zum Objekt des
Handelns. Wonach das deutsche Geistesleben in ''Schiller'' strebte, als er
sich ''Kant'' gegenüberstellte und etwas ahnte von einem solchen Freiheitsbegriff,
das ziemt uns, in der Gegenwart weiter auszubilden. Da
aber stellte sich mir heraus, daß man nur sprechen kann von demjenigen,
was den sittlichen Handlungen zugrunde liegt - wenn es auch bei
den Menschen unbewußt bleibt, vorhanden ist es doch - ; und daß man
das nennen muß Intuition. Und so sprach ich in meiner «Philosophie
der Freiheit» von einer moralischen Intuition.
 
Damit aber war auch der Ausgangspunkt gegeben für alles, was ich
später auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft zu leisten versuchte.
Glauben Sie nicht, daß ich heute über diese Dinge in einer unbescheidenen
Weise denke. Ich weiß sehr gut, daß diese «Philosophie der Freiheit
», die ich vor mehr als dreißig Jahren als junger Mensch konzipiert
habe, gewissermaßen alle Kinderkrankheiten desjenigen Gedankenlebens
hat, das im Laufe des 19. Jahrhunderts heraufgezogen ist. Aber
ich weiß auch, daß aus diesem Geistesleben heraus das entsprossen ist,
was eine Hinaufleitung des Gedankenlebens in das wirklich Geistige
ist. So daß ich mir sagen kann: Wenn sich der Mensch zu den sittlichen
Impulsen in moralischer Intuition erhebt und ein wirklich freies Wesen
darstellt, dann ist er bereits, wenn ich das verpönte Wort gebrauchen
darf, mit Bezug auf seine sittlichen Intuitionen «[[hellsehen]]d». In dem,
was über alles Sinnliche hinausliegt, liegen die Antriebe alles Sittlichen.
Im Grunde genommen sind die wirklich sittlichen Gebote Ergebnisse
menschlichen Hellsehens. Daher war ein gerader Weg von jener «Philosophie
der Freiheit» zu dem, was ich heute als Geisteswissenschaft
meine. Freiheit entsprießt im Menschen nur, wenn der Mensch sich
entwickelt. Er kann sich aber weiter entwickeln, so daß er dasjenige,
was schon der Freiheit zugrunde liegt, auch dazu treibt, daß er unabhängig
wird von allem Sinnlichen und sich frei in die Gebiete des Geistes
erhebt.
 
So hängt Freiheit mit der Entwicklung des menschlichen Denkens
zusammen. Freiheit ist im Grunde genommen immer Gedankenfreiheit ..." {{Lit|{{G|333|107ff}}}}
</div>
 
== Freiheit und Karma ==
 
Im [[Leben zwischen Tod und neuer Geburt]] legt der [[Mensch]] seinen Schicksalskern, sein [[Karma]], in der [[Mondensphäre]] ab, über die er durch die Nachwirkung des [[Christus]]-Impulses hinausschreitet und sich aus der Sternensphäre die nötigen Kräfte holt, um sich beim Herabstieg zu einem neuen Erdenleben durch eine ''freie Geistestat'' diesen Schicksalskern so wieder einzuverleiben, dass er dadurch in ''selbständiger'' Weise sein Schicksal mit seiner geistig fortschreitenden Wesenheit in Zusammenhang bringt. Diese Möglichkeit besteht allerdings erst seit dem [[Mysterium von Golgatha]]. Das irdische Nachbild dieser im kosmischen Dasein vollbrachten ''freien'' Tat ist das Freiheitsgefühl während des Erdendlebens.
 
<div style="margin-left:20px">
"Die Initiierten, welche Zeitgenossen des Mysteriums von Golgatha
waren, oder die in den darauf folgenden Jahrhunderten bis zum 3. und
4. Jahrhundert lebten, konnten zu ihren Bekennern sagen: Die Form,
die der menschliche physische Organismus im Erdenleben annimmt,
die bildet immer mehr und mehr das Ich aus. Aber der Mensch verliert
die Kraft, in jene Region einzutreten, in der das hohe Sonnenwesen
oben sein Führer sein könnte in den geistigen Sternenregionen. Daher
ist Christus heruntergestiegen auf die Erde, hat das Mysterium von
Golgatha vollbracht. Und die Kraft, welche der Menschenseele dadurch
wird, daß sie eine Gefühlsverbindung mit dem Mysterium von Golgatha
hat, diese Kraft wirkt nach dem Tode nach und entreißt die Seele
dem Schicksals-Wesenskern und der Mondensphäre, und unter der
Nachwirkung des Christus bildet die Seele ihren künftigen physischen
Organismus mit den anderen Wesen der Sternenwelt aus und findet
dann wiederum den Schicksalskern, in den die Tendenz hineingelegt
wird zur Schicksalsbildung der kommenden Erdenleben. Was die Menschenseele
als Kraft aus dem Christus-Impuls aufgenommen hat, das
befähigt sie wiederum, in der richtigen Weise durch das Geisterland
durchzugehen und den Schicksalskern in der richtigen Weise aufzunehmen.
 
Derjenige, der heute aus der Initiationswissenschaft heraus redet,
muß dazu noch das folgende sagen: Ja, es ist der Christus-Impuls, der
über den Tod hinaus nachwirkt, unter dessen Einfluß der Mensch sich
der Mondensphäre entringt, in die Sternen-Sonnensphäre eindringt und
dort aus den Impulsen, die ihm die Wesen der Sternenwelt geben, arbeiten
kann an der Herausgestaltung des physischen Organismus seines
nächsten Erdenlebens. Aber er entringt sich der Mondensphäre durch
die Kräfte, die er in seinem Ich aufgespeichert hat durch die Hinneigung
zu dem Christus-Wesen und zu dem Mysterium von Golgatha. Er
entringt sich der Mondensphäre in einer solchen Art, daß er nun auch
in der Sternensphäre so arbeiten kann, daß er, wenn er wieder zur
Mondensphäre zurückkehrt und ihm sein Schicksalskern begegnet, in
einer freien Weise als eine freie Geistestat sich diesen Schicksalskern
eingliedert, weil er sich sagen muß: Die Weltentwickelung kann nur in
der richtigen Weise verfließen, wenn der Mensch sich diesen seinen
Schicksalskern eingliedert und dasjenige, was er als sein Schicksal zubereitet
hat, auch in ausgleichenden künftigen Erdenleben wiederum zurechtbringt.
 
Das ist das Wesentliche im Neu-Erleben des nachtodlichen Mondensphären-
Erlebens, daß es da im kosmischen Dasein einen Augenblick
gibt, wo der Mensch in selbständiger Weise sein Schicksal, sein Karma,
mit seiner fortschreitenden Wesenheit in Zusammenhang bringt. Und
das irdische Abbild dieser im Überirdischen vollbrachten Tat im nachherigen
irdischen Leben ist die menschliche Freiheit, das Freiheitsgefühl
während des Erdendaseins. Das richtige Verstehen der Schicksalsidee
und ihr Verfolgen bis in die geistigen Welten hinauf begründet nicht
eine Determinationsphilosophie, sondern eine wirkliche Philosophie
der Freiheit, wie ich sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in meinem Buche «Philosophie der Freiheit» zu geben hatte." {{Lit|{{G|215|177f}}}}
</div>
 
<div style="margin-left:20px">
"Im Aufnehmen der Kraft, welche für die
Seele aus dem anschauenden und tätigen Gefühls-Miterleben
des irdischen Christuslebens und des Mysteriums
von Golgatha erwächst, erringt der Mensch schon auf der
Erde, nicht erst durch das Sonnenwesen nach dem Tode,
die Fähigkeit, sich in einem bestimmten Zeitpunkte des
nachirdischen Daseins dem Mondeneinfluß zu entziehen
und in die reine Sternensphäre einzutreten. Diese Fähigkeit
ist das geistige, nach dem Tode erlebte Gegenbild
der durch das Ich-Bewußtsein im Erdenleben herbeigeführten
Freiheit. Der Mensch übernimmt dann in der
Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt sein in
der Mondensphäre zurückgelassenes moralisch-geistiges
Wertwesen als den Bildner seines Schicksals, das er
dadurch während des folgenden Erdendaseins in Freiheit
erleben kann." {{Lit|{{G|25|87}}}}
</div>
 
Taten, die aus der vollen Freiheit des [[Mensch]]en gesetzt werden, sind nicht durch das [[Karma]] bedingt:
 
<div style="margin-left:20px">
"Nur solche Handlungen sind frei, bei denen der Mensch gar nicht auf Grund der Vergangenheit
arbeiten würde, sondern bei denen er nur dem gegenübersteht, was durch die
kombinierende und produktive Tätigkeit seiner Vernunft an Handlungen in die Welt hineinkommen
kann. Solche Handlungen nennt man im Okkultismus: Aus dem Nichts heraus
schaffen. Alle anderen Handlungen sind aus dem Karma heraus geschaffen." {{Lit|{{G|93a|123}}}}
</div>
 
Was der Mensch in voller Freiheit tut, schafft auch kein neues [[Karma]]. Im [[Okkultismus]] wird das auch als das Handeln aus dem [[Nirvana]] bezeichnet. Solange allerdings der Mensch das Karma aus seinen früheren [[Inkarnation]]en nicht vollständig ausgeglichen hat, kann er nicht in vollkommener Freiheit leben - ein Teil seiner Taten wird notwendig durch die Vergangenheit (Bedingungen sowie Nebenwirkungen) - neues Karma begründend - bestimmt sein, d. h. allmählich freies Handeln zu realisieren ist heutzutage und in der Zukunft ein großes, ideales Ziel der menschlichen Evolution.
 
<div style="margin-left:20px">
"Frei wird der
Mensch in dem einen physischen Erdenleben, wo er den Gedanken
als solchen entwickelt, wo der Gedanke seine plastizierende
Kraft verliert, die er noch in dem Ätherleib hat, und
wo er als reiner Gedanke in dem im Leben befindlichen Bewußtsein
entwickelt ist. Ich war daher genötigt, etwas sehr
Gewagtes in dieser «Philosophie der Freiheit» dazumal im
Beginn der neunziger Jahre darzustellen. Ich hatte die moralischen
Impulse als sittliche Ideale darzustellen und mußte
sagen: die kommen dem Menschen nicht aus der physischen
Welt, die kommen dem Menschen nicht aus der Natur, die
kommen dem Menschen durch eine Intuition. Und ich
sprach dazumal von «moralischer Phantasie». Und warum
das? Ich sagte dazumal in meiner «Philosophie der Freiheit»:
Aus der Geisteswelt heraus strömen in den Menschen, aber
zunächst nur als Bilder, diese sittlichen Motive ein. Er empfängt
sie als [[Intuition]] aus der geistigen Welt.
 
Aber man gelangt auf diese Weise, ich möchte sagen, zu
dem anderen Pol dessen, was man hier in der physischen
Welt erlebt. Sieht man mit gesundem Menschenverstand und
mit wissenschaftlicher Schulung in die natürliche Daseinswelt
hinaus, dann entdeckt man überall Notwendigkeit.
Sieht man hinein in die Welt der moralischen Impulse, dann
entdeckt man die Freiheit, aber die Freiheit zunächst im bloßen
Gedanken, im reinen Denken, in denkerischer Intuition.
Und man weiß zunächst nicht, wie sich Kräfte hineinbegeben
in den Willen, denn man sieht diese sittlichen Intuitionen
unbewußt. Man hat auf der einen Seite die Natur, der man
angehört, indem man handelt, und man hat auf der anderen
Seite sein sittliches Erleben, und es entschwindet einem für
diese sittlichen Intuitionen, wenn man nichts anderes hat zunächst
als die Naturwissenschaft, die Möglichkeit, diesen
sittlichen Intuitionen Realität zuzuschreiben, weltschöpferische
Kräfte zuzuschreiben. Man erlebt gewissermaßen die
Natur in ihrer ganzen derben Dichtigkeit, in ihrer Notwendigkeit.
Man erlebt die Freiheit, aber man erlebt sie in den
fein gewobenen, bis zur Bildhaftigkeit herabgetriebenen Gedankenimpulsen,
von denen man weiß, weil sie eben der Natur
nicht angehören können, weil sie sich in freier Tätigkeit
erleben, und das habe ich in meiner «Philosophie der Freiheit» angedeutet, daß sie aus der geistigen Welt kommen.
 
Aber es muß sich nun etwas einschieben zwischen diese
Intuitionen, die durchaus bildhaft, unreal sind, die nur durch
das sittliche Leben real werden, und dem, was man als gegenständliches
Erkennen für die Naturordnung hat. Und da
schieben sich ein die [[Imagination]] und die [[Inspiration]], die auf
die Weise entstehen, wie ich das geschildert habe. Und dann
wird die Intuition auch etwas anderes. Dann verdichtet sich
gewissermaßen das, was einem zuerst nur im reinen Denken
entgegengetreten ist, zu einer geistigen Realität. Man lernt in
dieser nach der Imagination und Inspiration neu errungenen
Intuition jetzt nicht sein gegenwärtiges Ich erkennen, sondern
dasjenige Ich, das durch wiederholte Erdenleben hindurchgeht,
und das unser Schicksal durch diese wiederholten
Erdenleben in der Weise hindurchträgt, wie ich es dargestellt
habe. Wir sind unfrei, indem wir die wiederholten Erdenleben
durchleben und ein Schicksal dadurch gestaltet haben.
Aber wir können stets in dieses Schicksalsgewebe die freien
Handlungen einverweben in den einzelnen Erdenleben. Gerade
dadurch, daß wir in bildhaften Intuitionen die sittlichen
Impulse erleben - nicht als Realitäten, sondern als etwas, zu
dem wir uns frei bekennen können -, können wir die Freiheit
im einzelnen Erdenleben in das Schicksalsgewebe einverweben.
Und so werden wir dadurch, daß wir durch das Schicksal
von Erdenleben zu Erdenleben getragen werden, nicht
unfreier, als wir etwa werden, wenn wir uns durch ein Schiff
von Europa nach Amerika tragen lassen. Da sind wir durch
den Entschluß, den wir hier in Europa fassen, allerdings in
unserer Zukunft bestimmt. Aber wir sind jederzeit in gewissen
Grenzen freie Wesen, und solange wir drüben in Amerika
sind, können wir uns frei bewegen. So tragen wir das
Schicksal von Erdenleben zu Erdenleben. Aber in die Tatsachenwelt,
die wir so in wiederholten Erdenleben erfahren,
kann hineingestellt werden, was aus der Freiheit im einzelnen
Erdenleben quillt.
 
Und so sieht man gerade, daß derjenige, der mit dem Freiheitsproblem
ringt, der das Problem der Freiheit gelöst sieht
durch das Anschauen der zunächst nur in moralischer Phantasie
erfaßbaren, aber aus der geistigen Welt in die physische
Welt des Menschen hereinstrebenden sittlichen Ideen, daß,
wer in dieser Weise sich ein Verständnis für die Freiheit erwirbt,
gerade dadurch sich vorbereitet hat zum Verständnis
für das Schicksalsgemäße, das wie eine Art von Notwendigkeit
in das menschliche Leben eingreift." {{Lit|{{G|79|129ff|129}}}}
</div>
 
== Freiheit und Determinismus ==
Für das Verhältnis des Menschen in seiner Freiheit zum Karma gilt die Beachtung der beiden Doppelströme der Zeit<ref>Wenn eine Erklärung durch angebliches altes Karma nicht stimmig ist, bietet sich die Erklärung vorweggenommenes "neues" Karma: "Die Ursache liegt in der Zukunft" (Joseph Beuys) an. Siehe dazu: http://www.ursache-zukunft.net/fileadmin/ursache-zukunft/Ursache_Zukunft.pdf</ref>, die Lebenssituationen sind dann entweder durch altes Karma, durch Freiheit, oder durch neues (künftiges) [[Karma]] bestimmt. Es sind im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Determinismus klare Positionen von seiten der herrschenden Wissenschaft bezogen worden: Diese angebliche Freiheit des Menschen wäre nur eine Illusion, es gäbe sie nicht wirklich (herrschende Auffassung, es gibt auch Gegenauffassungen).
 
Zu beachten ist auch der Gegenstrom der [[Zeit]] in der Evolution.<ref>Christoph J. Hueck: "Evolution im Doppelstrom der Zeit", Vlg. am Goetheanum, Dornach 2012</ref>
 
In der Argumentation, das fällt unter die [[Philosophie des Geistes]], spielt eine wichtige Rolle, daß eine Willensregung physiologisch zeitlich schon früher gemessen werden kann, als sie dann im Bewußtsein als ein "Ich will" relevant wird. Diese durchaus plausible Begründung berücksichtigt freilich nicht, daß ja der menschliche Wille etwas anderes sei, als das Bewußtsein von einem menschlichen Willen, insbesondere freiem Willen.
 
Allerdings kann dieser Wille, wenn er als ein freier soll gelten, nur ein ''bewußter'' freier Wille sein. Bewußtsein, das nach der physiologischen Gehirnforschung später kommt, als die motorische Handlungsabsicht.
 
Nur die Befragung des ''zeitlichen'' Charakters von Wollen, und der physiologischen Manifestation des Wollens kann da auf eine Lösung hinweisen.
 
<div style="margin-left:20px">
"Sehen Sie sich die gebräuchlichen Lehrbücher durch,
so werden Sie finden: Dahin kommen diese Leute, den Denkapparat
aufzuzeigen und alles Denken und Vorstellen in Verbindung zu bringen mit den mechanischen Vorgängen im Gehirn und Nervensystem;
aber sie müssen ableugnen Gefühl und Wille. Gefühl und Wille kann
nicht erklärt werden durch körperliche Vorgänge. Daher wird dies
einfach ausgeschaltet. Und Sie können heute, wenn Sie die Bücher
aufschlagen, überall finden: Die Menschen haben zwar aus ihren Vorurteilen auch einen Willen angenommen und ein Gefühl angenommen,
aber das ist eigentlich ein Nichts, das ist gar nicht vorhanden.
Also macht der Naturforscher gerade halt vor Gefühl und Wille.
Indem wir nun wissen, daß sich die Gedanken mit unserem Ätherleib
von uns absondern, erklärt sich uns, daß dieses Abgesonderte, das mit
unserem Ätherleib aus uns herausgeht, auch hier auf der Erde an unserem Äußeren arbeitet, den Denkapparat sich erst herrichtet, und
wenn der Denkapparat geformt ist, dann kommt das Denken mit Hilfe
des vom Denken selbst geformten Denkapparates. Gefühl und Wille
bleiben uns im Astralleib und im Ich. Die tragen wir in die geistige
Welt. Nicht eine Wissenschaft zwingt zum Materialismus, im Gegenteil, die wirkliche heutige Wissenschaft rechtfertigt überall unsere
Geisteswissenschaft. Der heutige Materialismus ist durchaus abhängig
davon, daß die Leute keinen Trieb haben zu dem geistigen Leben, daß
sie keinen Sinn haben wollen für geistiges Leben. Auch das Verständnis brauchte nicht zu fehlen. Denn wirklich, wenn man sich einläßt auf
das, was der Geistesforscher aus der geistigen Welt heraus zu geben
vermag selbst für solche Kapitel, wie wir sie heute vor unsere Seele
haben treten lassen für das Leben zwischen dem Tod und einer neuen
Geburt: verstanden werden kann es schon, man braucht nur ein feineres, subtileres Verständnis, als das grobe Verständnis ist, das der heutige Mensch für die äußere Welt vielfach anwenden will. Aber wir
leben auch in einer Zeit, in der eben der Materialismus zu seiner
Hochflut gekommen ist." {{Lit|{{G|168|56}}}}</div>
 
Der unsterbliche Teil des Menschen ist sein Willens-Gefühlswesen, daher entstammt alle nichtdeterminierte Freiheit, dem Höheren Ich, insoweit es sich durch Wille und Gefühl in Entschluß- und Gedankenform realisieren kann.<ref>Vgl. [[GA 25]] und [[GA 168]]</ref>
 
=== Freiheit erfordert das Gleichgewicht von Geist und Natur ===
 
Von entscheidender Bedeutung für den [[Willensfreiheit|freien Willen]] ist das rechte Gleichgewicht zwischen [[Geist]] und [[Natur]]:
 
{{GZ|Sie wissen ja, meine lieben
Freunde, wie sauer es wird einem Menschen, eine Idee zu begreifen,
die eigentlich für den unbefangenen Menschen selbstverständlich ist
und welche geleugnet wird, weil der Intellekt von den Philosophen
nicht heran kann: die Idee des freien Willens. Ich sagte über die Sinnesempfindungen:
die Dinge, die in den Physiologien und in den Psychologien
stehen, nehmen sich dem gegenüber, der die Dinge durchschaut,
kindisch aus. Aber was über die Idee des freien Willens geschwätzt
wird, erst recht. Denn Sie müssen bedenken, daß der freie
Willensentschluß in jedem Augenblick ein Effekt der ganzen menschliehen
Wesenheit ist; der ganzen menschlichen Wesenheit, wie sie sich gesund
oder krank oder halbkrank oder übergesund darlebt, in dem freien
Willensimpetus. Im freien Willensimpetus liegt der ganze Mensch darinnen,
aber mit alledem, was man am ganzen Menschen durchschauen
kann, mit allen Komplikationen liegt er darinnen. Die menschliche
Natur lernt man erst kennen, wenn man sie in dieser Komplikation
erkennen lernt. Und sehen Sie, das, was bei abnormen Persönlichkeiten
nach der einen oder anderen Seite hin eine abnorme Schattierung annimmt,
ist aufgehoben, zur Harmonie vereinigt in jedem Menschen.
Es ist ein trivialer Ausspruch, aber er ist wahr: so wie der Mensch
zugänglich ist für den Cherubim, so ist er auch zugänglich für den
Teufel. Und auch diese Prozesse, wo der Mensch zugänglich ist für den
Teufel - wir werden sie noch studieren. Aber das alles ist auch im
gewöhnlichen Menschen, nur daß die entgegengesetzten Tätigkeiten
sich aufheben, weil sie sich nach den verschiedensten Richtungen gleich
stark entwickeln. Wenn in jedem ein Engel ist, so ist auch in jedem ein
Teufel. Aber wenn der Engel und Teufel gleich stark sind für irgend
etwas, dann heben sie sich auf.
 
[[Datei:GA318 046.gif|center|300px|Zeichnung aus GA 318, S. 46 (Tafel 4)]]
 
Nun betrachten Sie diese Waage (siehe Zeichnung). Es gibt einen
Punkt, es ist dieser. Sie können hier Gewichte auflegen, das kann alles
in Bewegung geraten. Das bleibt immer in Ruhe, das Hypomochlion,
es wird nicht berührt von dem, was Sie links, von dem, was Sie rechts
auflegen. Aber es muß die Einrichtung getroffen werden, daß es nicht
berührt zu werden braucht. Ein ähnliches geistiges Hypomochlion
wird im Menschen bewirkt von den entgegengesetzten Kräften. Sie
können daher studieren des Menschen Natur. Sie werden nirgends eine
Veranlassung haben, den Menschen als freies Wesen zu statuieren, denn
in der Natur des Menschen ist alles kausal bedingt. Studieren Sie mit
materialistischer Gesinnung die Natur des Menschen: Sie kommen nicht
zur Freiheitsidee, Sie kommen zur kausalen Bedingung. Sie können
aber auch den Menschen geistig studieren. Sie kommen zur Determination
des Willens durch die Gottheit oder die geistigen Wesenheiten, aber
Sie kommen nicht zur Freiheit des Willens. Sie können ein grobklotziger
Materialist sein und die Freiheit leugnen und die Naturkausalität
des Willens studieren, Sie können ein feinsinniger Kopf sein wie Leibniz
und auf das Geistige sehen: Sie kommen zum Determinismus. Natürlich,
solange Sie die Waagschale mit dem Waagbalken hier studieren,
kommen Sie nur zur Bewegung; solange Sie die Waagschale mit
dem Waagbalken hier studieren, kommen Sie auch nur zur Bewegung.
So ist es, wenn Sie den Menschen studieren nach der Natur, so ist es,
wenn Sie den Menschen studieren nach dem Geist. Sie kommen nicht
zur Freiheit. Sie liegt mitten drinnen im Gleichgewichtspunkt zwischen
beiden.
 
Das ist die Theorie. Aber die Praxis ist so, daß Sie zu entscheiden
haben bei einem Menschen, der vor Ihnen steht in einer schwierigen
Lebenslage, ob Sie ihn verantwortlich machen können für seine Tat.
Da wird die Frage praktisch, ob er seinen freien Willen handhaben kann
oder nicht. Woran können Sie das entscheiden? Dadurch, daß Sie zu
beurteilen vermögen, ob seine geistige und physische Konstitution sich
das Gleichgewicht halten. In beide Fälle kann sowohl der Arzt wie der
Priester kommen. Daher muß zur Schulung des Arztes wie des Priesters
gehören ein Durchschauen jenes Zustandes, in dem der Mensch
entweder im Gleichgewicht zwischen Geist und Natur ist, oder in dem
dieses Gleichgewicht verschoben ist.
 
Niemals kann über das Verantwortungsgefühl einer menschlichen
Persönlichkeit anders entschieden werden als nach einer tiefen Erkenntnis
der menschlichen Wesenheit. Die Freiheitsfrage in Verbindung
mit der Verantwortungsfrage ist eben eine denkbar tiefste.|318|45ff}}
 
== Freiheit und Liebe ==
 
Dass Freiheit und [[Liebe]] untrennbar miteinander verbunden sind, hat Rudolf Steiner schon in seinen [[Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften]] ([[GA 1]], 1884-1897) ganz entschieden betont:
 
<div style="margin-left:20px">
"Wir wissen
daß die Ideenwelt die unendliche Vollkommenheit selbst
ist; wir wissen, daß mit ihr die Antriebe unseres Handelns
in uns liegen; und wir müssen demzufolge nur ein solches
Handeln als ethisch gelten lassen, bei dem die Tat nur aus
der in uns liegenden Idee derselben fließt. Der Mensch vollbringt
von diesem Gesichtspunkte aus nur deshalb eine
Handlung, weil deren Wirklichkeit für ihn Bedürfnis ist.
Er handelt, weil ein innerer (eigener) Drang, nicht eine
äußere Macht, ihn treibt. Das Objekt seines Handelns, sobald
er sich einen Begriff davon macht, erfüllt ihn so, daß
er es zu verwirklichen strebt. In dem Bedürfnis nach Verwirklichung
einer Idee, in dem Drange nach der Ausgestaltung
einer Absicht soll auch der einzige Antrieb unseres
Handelns sein. In der Idee soll sich alles ausleben, was uns
zum Tun drängt. Wir handeln dann nicht aus Pflicht, wir
handeln nicht einem Triebe folgend, wir handeln aus ''Liebe zu dem Objekt'', auf das unsere Handlung sich erstrecken
soll. Das Objekt, indem wir es vorstellen, ruft in uns den
Drang nach einer ihm angemessenen Handlung hervor. Ein
solches Handeln ist allein ein freies. Denn müßte zu dem
Interesse, das wir an dem Objekt nehmen, noch ein zweiter
anderweitiger Anlaß kommen, dann wollten wir nicht dieses
Objekt um seiner selbst willen, wir wollten ein ''anderes''
und vollbrächten ''dieses'', was wir ''nicht'' wollen; wir vollführten
eine Handlung ''gegen'' unseren Willen. Das wäre
etwa beim Handeln aus ''[[Egoismus]]'' der Fall. Da nehmen wir
an der Handlung selbst kein Interesse; sie ist uns nicht Bedürfnis,
wohl aber der Nutzen, den sie uns bringt. Dann
aber empfinden wir es auch zugleich als Zwang, daß wir
jene Handlung, nur dieses Zweckes willen, vollbringen
müssen. Sie selbst ist uns nicht Bedürfnis; denn wir unterließen
sie, wenn sie den Nutzen nicht im Gefolge hätte.
Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen
vollbringen, ist eine unfreie. ''Der Egoismus handelt unfrei.''
Unfrei handelt überhaupt jeder Mensch, der eine Handlung
aus einem Anlaß vollbringt, der nicht aus dem objektiven
Inhalt der Handlung selbst folgt. Eine Handlung um ihrer
selbst willen ausführen, heißt aus ''Liebe'' handeln. ''Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei.'' Wer dieser selbstlosen
Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine
''freie'' ansehen können." {{Lit|{{G|1|202f|202}}}}
</div>
 
Solange wir uns mit unserem [[Denken]] an die Aussenwelt hingegeben, müssen wir deren Gesetzmäßigkeiten folgen und sind daher, insofern wir uns dadurch in unseren Handlungen leiten lassen, unfrei. Frei werden wir, wenn wir, völlig losgelöst von der Aussenwelt, Gedanken im rein inneren geistigen Erleben fassen und mit unserem Willen durchstrahlen. Das reine, d.h. sinnlichkeitsfreie Denken ist zugleich als reiner [[schöpferisch]]er Wille tätig.
 
<div style="margin-left:20px">
"Wenn wir Gedanken von der äußeren
physisch-sinnlichen Welt aufnehmen - und wir können ja nur solche
aufnehmen zwischen Geburt und Tod - , dann werden wir dadurch,
wie Sie leicht einsehen können, unfrei, denn wir werden hingegeben an
die Zusammenhänge der äußeren Welt; wir müssen dann so denken, wie
es uns die äußere Welt vorschreibt, insofern wir nur den Gedankeninhalt
ins Auge fassen; erst in der inneren Verarbeitung werden wir frei.
 
Nun gibt es eine Möglichkeit, ganz frei zu werden, frei zu werden
in seinem inneren Leben, wenn man den Gedankeninhalt, insofern er
von außen kommt, möglichst ausschließt, immer mehr und mehr ausschließt,
und das Willenselement, das im Urteilen, im Schlüsseziehen
unsere Gedanken durchstrahlt, in besondere Regsamkeit versetzt. Dadurch
aber wird unser Denken in denjenigen Zustand versetzt, den
ich in meiner «Philosophie der Freiheit» genannt habe das reine Denken.
Wir denken, aber im Denken lebt nur Wille. Ich habe das besonders
scharf betont in der Neuauflage der «Philosophie der Freiheit
» 1918. Dasjenige, was da in uns lebt, lebt in der Sphäre des Denkens.
Aber wenn es reines Denken geworden ist, ist es eigentlich ebensogut
als reiner Wille anzusprechen. So daß wir aufsteigen dazu, uns
vom Denken zum Willen zu erheben, wenn wir innerlich frei werden,
daß wir gewissermaßen unser Denken so reif machen, daß es ganz
und gar durchstrahlt wird vom Willen, nicht mehr von außen aufnimmt,
sondern eben im Willen lebt. Gerade dadurch aber, daß wir
immer mehr und mehr den Willen im Denken stärken, bereiten wir
uns vor für das, was ich in der «Philosophie der Freiheit» die moralische
Phantasie genannt habe, was aber aufsteigt zu den moralischen Intuitionen,
die dann unseren gedankegewordenen Willen oder willegewordenen
Gedanken durchstrahlen, durchsetzen. Auf diese Weise
heben wir uns heraus aus der physisch-sinnlichen Notwendigkeit,
durchstrahlen uns mit dem, was uns eigen ist und bereiten uns vor für
die moralische Intuition. Und auf solchen moralischen Intuitionen beruht
doch alles das, was den Menschen von der geistigen Welt aus
zunächst erfüllen kann. Es lebt also auf dasjenige, was Freiheit ist,
dann, wenn wir gerade in unserem Denken immer mächtiger und
mächtiger werden lassen den Willen." {{Lit|{{G|202|201f}}}}
</div>


Damit wird aber zugleich der Wille mit den in voller Freiheit bewusst aus dem [[Geist]] geschöpften Gedanken durchstrahlt. Was so aus dem Geist geschöpft wird, fließt in voller Hingabe durch unsere Handlungen in die Aussenwelt, denn es liegt notwendig im Wesen des Geistes, sich zu verschenken - das ist aber nichts anderes als reine [[Liebe]]. Geist ''ist'' Liebe in ihrer vollkommensten Form.
* {{WikipediaDE|Rationalismus|}}
 
* {{Eisler|Rationalismus}}
<div style="margin-left:20px">
* {{Kirchner|Rationalismus}}
"Sie sehen, wir werden immer innerlicher und innerlicher, indem wir
unsere Eigenkraft als Wille in das Denken hineinschicken, das Denken
gewissermaßen ganz vom Willen durchstrahlen lassen. Wir bringen
den Willen in das Denken hinein und gelangen dadurch zur Freiheit.
Wir gelangen dazu, indem wir immer mehr und mehr unser Handeln
ausbilden, in dieses Handeln die Gedanken hineinzutragen. Wir durchstrahlen
unser Handeln, das ja aus unserem Willen hervorgeht, mit unseren
Gedanken. Auf der einen Seite, nach innen, leben wir ein Gedankenleben:
das durchstrahlen wir mit dem Willen und finden so die
Freiheit. Auf der anderen Seite, nach außen, fließen unsere Handlungen
von uns aus dem Willen heraus; wir durchsetzen sie mit unseren Gedanken.
 
[[Datei:GA202_204.gif|center|400px|Freiheit und Liebe, Tafel 19 (GA 202, S 204)]]
 
Aber wodurch werden denn unsere Handlungen immer ausgebildeter?
Wodurch, wenn wir den allerdings anzufechtenden Ausdruck
gebrauchen wollen, kommen wir denn zu einem immer vollkommeneren
Handeln? - Wir kommen zu einem immer vollkommeneren Handeln
eigentlich dadurch, daß wir diejenige Kraft in uns ausbilden,
die man nicht anders nennen kann als Hingabe an die Außenwelt. Je
mehr unsere Hingabe an die Außenwelt wächst, desto mehr regt uns
diese Außenwelt an zum Handeln. Dadurch aber gerade, daß wir den
Weg finden, um hingegeben zu sein an die Außenwelt, gelangen wir
dazu, dasjenige, was in unserem Handeln liegt, mit Gedanken zu durchdringen.
Was ist Hingabe an die Außenwelt? Hingabe an die Außenwelt,
die uns durchdringt, die unser Handeln mit den Gedanken durchdringt,
ist nichts anderes als Liebe.
 
Geradeso wie wir zur Freiheit kommen durch die Durchstrahlung
des Gedankenlebens mit dem Willen, so kommen wir zur Liebe durch
die Durchsetzung des Willenslebens mit Gedanken. Wir entwickeln
in unserem Handeln Liebe dadurch, daß wir die Gedanken hineinstrahlen
lassen in das Willensgemäße; wir entwickeln in unserem Denken
Freiheit dadurch, daß wir das Willensgemäße hineinstrahlen lassen
in die Gedanken. Und da wir als Mensch eine Ganzheit, eine Totalität
sind, so wird, wenn wir dazu kommen, in dem Gedankenleben die
Freiheit und in dem Willensleben die Liebe zu finden, in unserem
Handeln die Freiheit, in unserem Denken die Liebe mitwirken. Sie
durchstrahlen einander, und wir vollziehen ein Handeln, ein gedankenvolles
Handeln in Liebe, ein willensdurchsetztes Denken, aus dem
wiederum das Handlungsgemäße in Freiheit entspringt." {{Lit|{{G|202|203ff}}}}
</div>
 
[[Schiller]] sagt zu dem Thema: "Lieben heißt in Freiheit setzen."
 
<div style="margin-left:20px">
"Im Spannungsfeld zwischen Geist und Materie und im Bewußtsein der Grenzen seiner Existenz ist der Mensch verkörperte Freiheitsfähigkeit. Der Lebensstrom aus der Vergangenheit verwandelt sich in ihm in das ''Licht'' der Erkenntnis, der Gestaltungsstrom aus der Zukunft in die ''Liebe'' der hingebungsvollen Tat. - Eine in diesem Sinne aufgefasste Liebe kann nur aus Freiheit erwachsen." (Lit.: Christoph J. Hueck, S. 211)
</div>
 
Wahre Liebe ist nur aus Freiheit möglich. Der Auftrag Christi: Liebet einander, ist ein Gebot, aber ein Gebot an den "Freien Menschen", zu dem sich die allgemeine Menschheit erst noch hinentwickeln muß. Dieses Wechselverhältnis von Freiheit und Liebe wurde thematisiert, im Rahmen der Diskussion über die [[Prädestination]]slehre etc.
 
Was Schiller sagte, gilt wohl auch umgekehrt: Frei sein ist lieben.
 
=== Freiheit und Liebe als Weg zu Michael und Christus ===
 
<div style="margin-left:20px">
"Indem sich der Mensch als freies Wesen in Michaels
Nähe fühlt, ist er auf dem Wege, die Kraft der Intellektualität
in seinen «ganzen Menschen» zu tragen; er denkt
zwar mit dem Kopfe, aber das Herz fühlt des Denkens Hell
oder Dunkel; der Wille strahlt des Menschen Wesen aus,
indem er die Gedanken als Absichten in sich strömen hat.
Der Mensch wird immer mehr Mensch, indem er Ausdruck
der Welt wird; er findet sich, indem er sich nicht ''sucht'', sondern
in Liebe sich wollend der Welt verbindet.
 
Indem der Mensch seine Freiheit entfaltend in Ahrimans
Verlockungen fällt, wird er in die Intellektualität hineingezogen,
wie in einen geistigen Automatismus, in dem er ein
Glied ist, nicht mehr ''er'' selbst. All sein Denken wird Erlebnis
des Kopfes; allein dieser sondert es vom Eigenherzerleben
und eignem Willensleben ab und löscht das Eigensein
aus. Der Mensch verliert immer mehr von seinem innerlich
wesenhaft-menschlichen Ausdruck, indem er Ausdruck
seines Eigenseins wird; er verliert sich, indem er
sich ''sucht''; er entzieht sich der Welt, der er die Liebe verweigert; aber der Mensch erlebt ''sich'' nur wahrhaft, wenn er
die Welt liebt.
 
Es ist aus dem Geschilderten wohl anschaulich, wie Michael
der Führer zu Christus ist. Michael geht mit allem
Ernste seines Wesens, seiner Haltung, seines Handelns in
Liebe durch die Welt. Wer sich an ihn hält, der pfleget ''im Verhältnis zur Außenwelt der Liebe''. Und Liebe muß im Verhältnis
zur Außenwelt sich zunächst entfalten, sonst wird
sie Selbstliebe.
 
Ist dann diese Liebe in der Michael-Gesinnung da, dann
wird ''Liebe zum andern'' auch zurückstrahlen können ins eigene
Selbst. Dieses wird lieben können, ohne sich selbst zu
lieben. Und auf den Wegen solcher Liebe ist Christus durch
die Menschenseele zu finden." {{Lit|{{G|26|117f|117}}}}
</div>
 
== Freiheit und Wählen ==
Unter bestimmten Gesichtspunkten ist auch die Freiheit der [[Wahl]] zu erörtern. Ist dies nur ein besonderer Aspekt von Freiheit, oder wäre Freiheit wesentlich Wahlfreiheit?
 
Wenn der Mensch sich vor die Alternative gestellt sieht: "Friß oder stirb Vogel", wie es ein Sprichwort sagt: Wo ist da die Freiheit?
Denen, die sich nicht dem Willen Gottes einfügen, wird Vernichtung angedroht, und sogar ewiges Höllenfeuer. Wo ist da Freiheit?
 
Ein Mensch, der sich nicht dem Willen Gottes fügt, wird in Zukunft vernichtet (resp. gebraten auf ewig im Höllenfeuer) werden, so die kolportierte Aussage, an deren Wahrheit wohl Zweifel erlaubt sein mögen, denn die Aussage widerspricht sowohl der Freiheit, als auch der Liebe  - aus Gottes Wollen.
 
{{LZ|So heißt es im ‚Katechismus der Katholischen Kirche’, dass für bestimmte Vergehen die Todsünde  gelte, während für andere Sünden die Entsühnung durch die Beichte möglich sei.
Nehmen wir also einmal an, es sei so, dass eine Todsünde existiere, das jemand daran schuldig geworden sei und sein Weg nun unweigerlich in die ewige Hölle und Verdammnis führe müsse.
Nehmen wir an dies sei ein Mörder, der nun im Gefängnis sitzt.
Die Göttliche Gnade ist für ihn verwirkt, sie ist ihm mithin nicht mehr erreichbar.
Mit welcher Perspektive soll dieser Mensch aber seiner Entlassung entgegenschreiten. Soll er sich sagen es nutzt ohnehin nichts, also will ich mich auch nicht bessern und weitermorden, sobald mir wieder Gelegenheit dazu gegeben wird.
Dieser Ansatz ist auch aus der Gefängnisseelsorge heraus völlig verfehlt: Todsünden kann und darf es nicht geben, so lange der Mensch noch lern- und besserungsfähig ist.
Die Erklärung einer Tat als Todsünde stellt eine deterministische Prognose dar.
Eine deterministische Prognose ist nichts weiter, als ein Glauben an die zukünftige
Wirklichkeitsangemessenheit der jeweils vorangestellten Hypothese.
Durch die streng deterministische Prognose wird aber jeder Freiheit für alle Zukunft der Boden entzogen, es wird ein Konstanzprinzip menschlichen Handelns aufgestellt, welches aber im Ergebnis bedeutete nicht mehr (neu) lernen zu können.
Künftige Lernfähigkeit lässt sich aber für keinen Menschen ausschließen.
„Damit ist auf dem Wege eines argumentum a contrario bewiesen, dass das Konstanzprinzip im Rahmen menschlichen Handelns nicht gelten kann: Würde es gelten, so bedeutete dies, das man nicht lernen kann – dass man lernen könne, dass man nicht lernen kann, kann man aber nicht behaupten, ohne sich selbst schon widersprochen zu haben.“<ref>H.-H. Hoppe, "Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung", Opladen 1983, S. 10ff</ref> 
Wurde nicht auch Faust durch unglückliche Umstände zum Schuldigen und wird ihm
am Sterbebett, da Faust bereut, nicht dennoch alle Schuld erlassen?
Man sieht ganz klar auch Goethes Attacke auf allzu simplizistische kirchliche Moralvorstellungen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erretten“  .
Unterstrichen wird so bei Goethe das alles überragende Freiheitsmoment des Menschen selbst noch im letzten Augenblick vor dem Tod. Analoge Stellen gibt es auch im Neuen Testament: Lukas 23,43 und Johannes 8,11.
 
Es wird klar: ohne eine völlige Handlungsfreiheit zu Gut und Böse (siehe auch die Paradiesmythe) bestünde keine echte (Wahl-)Freiheit zwischen gut und böse.
Dies, also ist das Gute des Bösen, dass es menschliche Wahlfreiheit durch sein
(Negativ-)Angebot erst ermöglicht.|Michael Heinen-Anders, Dem Teufel auf der Spur, S. 12 - 13}}
 
== Verschiedene begriffliche Unterscheidungen ==
 
=== Wahlfreiheit und Gestaltungsfreiheit ===
Von der Wahlfreiheit kann man die Gestaltungsfreiheit unterscheiden. Die Gestaltungsfreiheit geht über das Wählen ([[wikipedia:Urteil des  Paris|Wahl des Paris]]) zwischen Alternativen hinaus, insofern es keine bestimmten, vorgegebenen Alternativen gibt, sondern diese erst aus dem Wollen hervorgehen. Wenn der Künstler den Meißel an den Gipsblock ansetzt, ist zwar jeder Hieb gewählt, aber aus einer Unendlichkeit von Alternativen, die lediglich durch die Idee des zu Schaffenden bestimmt sind, und den Eigentümlichkeiten des Materials. Der Normalmensch unterscheidet sich vom Künstler da nur durch die geringere Vollkommenheit in der Klarheit der auszuführenden Idee und der Materialkenntnis, der Beherrschung der Werkzeuge usw.
 
=== Selbstgestaltung ===
Im Unterschied zur Wahlfreiheit gibt es die Freiheit, man selbst zu sein (Autonomie). Diese ist schon den Tieren eigen. Ein Tier ist frei, wenn es sich in seinem Wesen, wie es ist, frei ausleben kann, in einer entsprechenden Umgebung. Man sieht dies heute in der reichen Vielfalt von möglichen Gestalten in der Flora und Fauna.
(Dies findet z.B. bei der artgerechten Tierhaltung Berücksichtigung.) Beim Menschen kommt die Freiheit hinzu, selbst sein Wesen zu bestimmen, er hat die Freiheit, sich zu gestalten. Es ist dies analog zum künstlerischen Schaffen zu denken<ref>Vgl. [[Herbert Witzenmann]] Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens</ref>. Die Weltgegensätze wie die zwischen Begriff und Wahrnehmung, Geist und Materie, sowie auch Gut und Böse (insofern der Mensch ein sittliches Wesen ist), sind insofern nur die Voraussetzungen für diese Freiheit des Menschen, sich selbst in seiner Gestalt zu bestimmen, welche sich auf individuelle Weise in einem fortlaufenden Prozess harmonisch in das Ganze integriert und dieses dadurch bereichert.
 
=== Abbauprozesse und freies Handeln ===
 
[[Rudolf Steiner]] hat wiederholt gezeigt, dass wir uns der an das [[Sinnlich]]e gebundenen [[Gedanke]]n nur dadurch [[Bewusstsein|bewusst]] werden, dass sich das [[Denken]] am [[Nervensystem]] spiegelt. Die sinnlichen Gedanken sind daher reine Spiegelbilder ohne eigenständige [[Wirklichkeit]] und folglich auch ohne [[Kausalität|kausale]] Wirkmächtigkeit. Dadurch, weil sie als bloße Spiegelbilder nicht der [[Naturnotwendigkeit]] unterliegen, bilden sie die Voraussetzung der [[Freiheit]]. Dazu kommen von der anderen Seite die aus der [[Moralische Phantasie|moralischen Phantasie]] im sinnlichkeitsfreien [[Reines Denken|reinen Denken]] gefassten Tatgedanken. Sie haben keinen [[Vorstellung]]scharakter, sondern sind [[wille]]nshafter Natur. Sie spiegeln sich nicht am Nervensystem, bewirken daher auch keine Abbauprozesse und verblassen nicht zu Spiegelbildern, sondern wirken vielmehr als reale [[leben]]dige [[Aufbaukräfte]]. Indem diese auf die Abbauprozesse einwirken, entsteht die freie Handlung.
 
{{GZ|Bedenken Sie, daß ich schon in öffentlichen Vorträgen und auch
hier wiederum in den verschiedensten Zusammenhängen mit einer gewissen
Intensität immer wieder und wieder hervorgehoben habe, daß
wir das, was wir Vorstellungen nennen, nur dann richtig begreifen
können, wenn wir sie so in Beziehung bringen zu unserm leiblichen
Organismus, daß wir den Vorstellungen im Leibe nicht etwas Wachsendes,
Gedeihendes zugrunde liegend sehen, sondern gerade
umgekehrt, etwas Absterbendes, etwas partiell im Leibe Absterbendes. Ich habe das
so ausgesprochen in einem öffentlichen Vortrage, daß ich gesagt habe:
Der Mensch stirbt eigentlich immer in sein Nervensystem hinein ab. -
Der Nervenprozeß ist ein solcher, daß er sich auf das Nervensystem
beschränken muß. Denn würde er sich ausdehnen über den ganzen Organismus,
würde dasselbe vorgehen im ganzen Organismus, was in den
Nerven vorgeht, so würde dies den Tod des Menschen in jedem Augenblick bedeuten. Man kann sagen: Vorstellungen entstehen da, wo der
Organismus sich selber abbaut, wir sterben in unser Nervensystem fortwährend
hinein. - Dadurch ist Geisteswissenschaft in die Notwendigkeit
versetzt, nicht nur diejenigen Prozesse zu verfolgen, welche die
heutige Naturwissenschaft als die einzig maßgebenden betrachtet: die
aufsteigenden Prozesse. Diese aufsteigenden Prozesse, sie sind Wachstumsprozesse,
sie gipfeln noch im Unbewußten. Erst wenn der Organismus
mit den absteigenden Prozessen beginnt, tritt im Organismus
jene Tätigkeit der Seele auf, die man als Vorstellungs-, ja auch als sinnliche
Wahrnehmungstätigkeit bezeichnen kann. Dieser Abbauprozeß,
dieser Ersterbeprozeß, der muß da sein, wenn überhaupt vorgestellt
werden soll.
 
Nun habe ich gezeigt, daß das freie Handeln des Menschen geradezu
darauf beruht, daß der Mensch in die Lage kommt, aus reinen Gedanken
heraus die Impulse für sein Handeln zu suchen. Diese reinen Gedanken
werden am meisten von Einfluß sein auf die Abbauprozesse im
menschlichen Organismus. Was geschieht denn eigentlich, wenn der
Mensch so recht eine freie Handlung vollzieht? Machen wir uns das
einmal klar, was da beim gewöhnlichen physischen Menschen geschieht,
wenn der Mensch aus moralischer Phantasie heraus - Sie wissen jetzt,
was ich damit meine —, aus moralischer Phantasie heraus, das heißt aus
einem Denken, das von sinnlichen Impulsen, sinnlichen Trieben und
Affekten nicht beherrscht ist, handelt, was geschieht da mit dem Menschen
eigentlich? Dann geschieht das, daß er sich reinen Gedanken hingibt;
die bilden seine Impulse. Sie können ihn nicht impulsieren durch
sich selbst; er muß sich impulsieren, denn sie sind bloße Spiegelbilder,
das haben wir ja betont. Sie gehören der Maja an. Spiegelbilder können
nicht zwingen, der Mensch muß sich selber zwingen unter dem Einfluß
der reinen Vorstellungen.
 
Worauf wirken reine Vorstellungen? Am stärksten wirken sie auf
den Abbauprozeß im menschlichen Organismus. Auf der einen Seite
kommt aus dem Organismus heraus der Abbauprozeß, und auf der
ändern Seite kommt aus dem geistigen Leben diesem Abbauprozeß entgegen
der reine Tatgedanke. Ich meine damit den Gedanken, welcher
der Tat zugrunde liegt. Durch die Vereinigung von beiden, durch das
Aufeinanderwirken des Abbauprozesses und des Tatgedankens entsteht
die freie Handlung.
 
Ich sagte, der Abbauprozeß wird nicht durch das reine Denken bewirkt;
der ist sowieso da, er ist also eigentlich immer da. Wenn der
Mensch diesem Abbauprozeß, gerade den bedeutsamsten Abbauprozessen
in ihm, nichts aus dem reinen Denken heraus entgegenstellt, dann
bleibt er Abbauprozeß, dann wird der Abbauprozeß nicht umgewandelt
in einen Aufbauprozeß, dann bleibt ein ersterbender Teil im Menschen.
Denken Sie das einmal durch, dann ersehen Sie daraus, daß die Möglichkeit
besteht, daß der Mensch gerade durch Unterlassung von freien
Handlungen einen Todesprozeß in sich nicht aufhebt. Darin liegt einer
der subtilsten Gedanken, die der Mensch nötig hat, in sich aufzunehmen.
Wer diesen Gedanken versteht, kann im Leben nicht mehr
zweifeln an dem Vorhandensein der menschlichen Freiheit. Denn eine
Handlung, die aus Freiheit geschieht, geschieht nicht durch etwas, was
im Organismus verursacht wird, sondern wo die Ursachen aufhören,
nämlich aus einem Abbauprozeß heraus. Dem Organismus muß etwas
zugrunde liegen, wo die Ursachen aufhören, dann kann überhaupt erst
die reine Vorstellung als Motiv des Handelns eingreifen. Aber solche
Abbauprozesse sind immer da, sie bleiben nur gewissermaßen ungenützt,
wenn der Mensch nicht freie Handlungen vollführt.
 
Was hier zugrunde liegt, bezeugt aber auch, wie es mit einem Zeitalter
aussehen muß, welches sich nicht darauf einlassen will, die Idee
der Freiheit im vollsten Umfange zu verstehen. Die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts, das 20. Jahrhundert bis in unsere Zeit, diese Epoche
hat es sich geradezu zur Aufgabe gesetzt, auf allen Gebieten des Lebens
die Idee der Freiheit immer mehr und mehr für die Erkenntnis zu
trüben, für das praktische Leben in Wirklichkeit auszuschalten. Freiheit
wollte man nicht verstehen, Freiheit wollte man nicht haben. Die Philosophen
haben sich bemüht, zu beweisen, daß alles mit einer gewissen
Notwendigkeit aus der menschlichen Natur hervorgeht. Gewiß, der
menschlichen Natur liegt eine Notwendigkeit zugrunde, aber diese
Notwendigkeit hört auf, indem Abbauprozesse beginnen, in welchen
der Zusammenhang der Ursachen sein Ende findet. Wenn Freiheit da
eingegriffen hat, wo die Notwendigkeit im Organismus aufhört, dann
kann man nicht sagen, daß die Handlungen der Menschen aus der
inneren Notwendigkeit hervorgehen; sie gehen dann erst aus ihm hervor,
wenn diese Notwendigkeit aufhört. Der ganze Fehler bestand
darinnen, daß man sich nicht eingelassen hat darauf, im menschlichen
Organismus nicht nur zu verstehen die aufbauenden Prozesse, sondern
auch zu verstehen die abbauenden Prozesse.|179|122ff}}
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE||Freiheit}}
* [[Willensfreiheit]] - eine Übersicht über allgemeine philosophische und wissenschaftliche Positionen zu diesem Thema
* [[Sittliche Autonomie]]
* [[Autonomie]]


== Literatur ==
== Literatur ==
 
: Für Literatur zu Rationalitätsbegriff und -theorien siehe dort.
* Jan-Christoph Heilinger: ''Naturgeschichte der Freiheit'', Berlin 2007 [https://www.academia.edu/23317080/Naturgeschichte_der_Freiheit_ed._?email_work_card=title academia.edu]
* Laurence BonJour: ''In Defense of Pure Reason'', Cambridge University Press, Cambridge, U.K. 1998.
* [[Geert Keil]]: ''Willensfreiheit'', 3. Auflage, De Gruyter, Berlin 2017, ISBN 978-3110533453,  {{ASIN|B015N8BAAW}}
* Laurence BonJour: ''A Rationalist Manifesto'', in: Canadian Journal of Philosophy Supp. 18 (1992), S. 53–88.
* [[Geert Keil]]: ''Willensfreiheit und Determinismus'', zweite, überarb. Auflage, Reclam, Stuttgart 2018,  ISBN 978-3150203293
* John Cottingham: ''Rationalism'', Paladin, London 1984.
* Anna Seemüller (Hrsg.), Tanja Gabriele Baudson (Hrsg.), Martin Dresler (Hrsg.): ''Freiheit. Interdisziplinäre Betrachtungen'', S. Hirzel Verlag 2010, ISBN 978-3-7776-2199-9
* John Cottingham: ''The Rationalists'', Oxford University Press, Oxford 1988.
* Christoph J. Hueck: ''Evolution im Doppelstrom der Zeit'', Vlg. am Goetheanum, Dornach 2012
* Willis Doney: ''Rationalism'', in: Southern Journal of Philosophy Supp. 21 (1983), S. 1–14.
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* Anthony Kenny (Hrsg.): ''Rationalism, Empiricism and Idealism'', Oxford University Press, Oxford 1986.
* Clemens Horvat: ''Die Wirklichkeit der Freiheit: Zu den erkenntniswissenschaftlichen und christologischen Grundlagen der Anthroposophie'', 5. Auflage, Books on Demand 2017, ISBN 978-3743137776, eBook {{ASIN|B06XPKVVXP}}
* Louis E. Loeb: ''From Descartes to Hume'', Continental Metaphysics and the Development of Modern Philosophy, Cornell University Press, Ithaca, New York 1981.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften'', [[GA 1]] (1987), ISBN 3-7274-0011-0; '''Tb 649''', ISBN 978-3-7274-6490-4 {{Schriften|001}}
* Alan Nelson (Hrsg.): ''A Companion to Rationalism'', Blackwell, Oxford 2005.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Philosophie der Freiheit'', [[GA 4]] (1978) {{Schriften|4}}
* Christopher Peacocke: ''Three Principles of Rationalism'', in: European Journal of Philosophy 10 (2002), S. 375–397.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Rätsel der Philosophie'', [[GA 18]] (1985) {{Schriften|18}}
* Rainer Specht (Hrsg.): ''Rationalismus'' (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung (hg. Rüdiger Bubner), Bd. 5), Reclam, Stuttgart <sup>1</sup>1979, Neuausgabe 2002. Eine Auswahl repräsentativer Quellentexte mit einführenden Erläuterungen.
* [[Rudolf Steiner]]: ''Drei Schritte der Anthroposophie. Philosophie – Kosmologie – Religion'', [[GA 25]] (1999), ISBN 3-7274-0252-0 {{Schriften|025}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Der menschliche und der kosmische Gedanke'', [[GA 151]] (1990), ISBN 3-7274-1510-X {{Vorträge|151}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophische Leitsätze'', [[GA 26]] (1998), ISBN 3-7274-0260-1 {{Schriften|026}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart'', [[GA 36]] (1961), ISBN 3-7274-0360-8 {{Vorträge|036}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Briefe Band I: 1881 – 1890'', [[GA 38]] (1985), ISBN 3-7274-0380-2 {{Briefe|038}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Wirklichkeit der höheren Welten'', [[GA 79]] (1988), ISBN 3-7274-0790-5 {{Vorträge|079}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Grundelemente der Esoterik'', [[GA 93a]] (1987)
* [[Rudolf Steiner]]: ''Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt'', [[GA 110]] (1991), ISBN 3-7274-1100-7 {{Vorträge|110}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Von Jesus zu Christus'', [[GA 131]] (1988), ISBN 3-7274-1310-7 {{Vorträge|131}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Welt des Geistes und ihr Hereinragen in das physische Dasein'', [[GA 150]] (1980), ISBN 3-7274-1500-2 {{Vorträge|150}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten'', [[GA 168]], Dornach 1995
* [[Rudolf Steiner]]: ''Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten'', [[GA 179]] (1977)
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen'', [[GA 202]] (1993), ISBN 3-7274-2020-0 {{Vorträge|202}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil'', [[GA 207]] (1990), ISBN 3-7274-2070-7 {{Vorträge|207}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie'', [[GA 215]] (1980), ISBN 3-7274-2152-5 {{Vorträge|215}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Erster Band'', [[GA 235]] (1994), ISBN 3-7274-2350-1 {{Vorträge|235}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophische Gemeinschaftsbildung'', [[GA 257]] (1989), ISBN 3-7274-2570-9 {{Geschichte|257}} {{Vorträge1|144}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern'', [[GA 318]] (1994), ISBN 3-7274-3181-4 {{Vorträge|318}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Gedankenfreiheit und soziale Kräfte'', [[GA 333]] (1985), ISBN 3-7274-3330-2 {{Vorträge|333}}
*''[[Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe]]'', Heft 49/50 {{BE|49|}}
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_freiheit2.pdf Über die Freiheit - Ein Essay] PDF


{{GA}}
{{GA}}


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{Wiktionary}}
{{Wikiquote}}
{{Wikiquote}}
* [https://www.youtube.com/watch?v=FpfJ9YOhdWA Markus Gabriel über die Freiheit]
* Guy Longworth: [http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/philosophy/staff/longworth/keyideasrationalismempiricism.pdf ''Rationalism and Empiricism''] (PDF-Datei; 188&nbsp;kB), in: S. Chapman, C. Routledge (Hrsg.): ''Key Ideas in Linguistics and the Philosophy of Language'', Edinburgh University Press, Edinburgh 2009, S. 67–74.
 
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/rationalism-empiricism/|Rationalism vs. Empiricism|Peter Markie}}
;Videos
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/continental-rationalism/|Continental Rationalism|Thomas M. Lennon und Shannon Dea}}
* [https://www.youtube.com/watch?v=t9zGHIFioII Philosophie der Freiheit (Rudolf Steiner)] - eine Verständnishilfe von [https://www.youtube.com/channel/UCajCfOqTKZDzXv0vZfoGmbQ PhiloGramm]
* Rudolf Eisler: Art. [http://www.textlog.de/4978.html „Rationalismus“], in: ''Wörterbuch der philosophischen Begriffe'', 1904.


== Einzelnachweise ==
[[Kategorie:Weltanschauung]]
<references/>
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Version vom 22. Juli 2018, 15:32 Uhr

Rationalismus (lat. ratio Vernunft) bezeichnet philosophische Strömungen und Projekte, die rationales Denken beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen für vorrangig oder sogar für allein hinreichend halten. Damit verbunden ist eine Abwertung anderer Erkenntnis­quellen, etwa Sinneserfahrung (Empirie) oder religiöser Offenbarung und Überlieferung. Positionen, die der auf sich gestellten menschlichen Vernunft nur für begrenzte Gegenstandsbereiche oder gar kein objektives Wissen zutrauen, wie etwa die Spielarten des Irrationalismus und der „Vernunftskepsis“, die auch einigen Vertretern der Postmoderne zugeschrieben werden, gelten daher als „anti-rationalistisch“.

In der Philosophiegeschichte wird „Rationalismus“ im engeren Sinne meist als Etikett für Denker wie Descartes, Spinoza oder Leibniz verwendet, um sie den Vertretern des (britischen) Empirismus (u. a. Thomas Hobbes, John Locke und David Hume, gelegentlich sogar George Berkeley) gegenüberzustellen; diese Etikettierungen sind zwar traditionell üblich, werden inzwischen aber von zahlreichen Philosophiehistorikern in Frage gestellt.[1]

In anderen Kontexten der Philosophie wird „Rationalismus“ auch systematisch, ohne zwingend historische Bezüge gebraucht: in der Epistemologie für Positionen, für die Wissen aus reiner Vernunft möglich ist (ein Vertreter dieser Position ist etwa Laurence BonJour); oder in der Metaethik für Positionen, die für moralisches Handeln verlangen, dass es nach rationalen Strukturen rekonstruierbar ist und dass ein moralisches Urteil von den Normen für moralische Begründungen abhängt. Abweichende Bedeutung nimmt der Begriff Rationalismus auch in der Religionsphilosophie ein (s. den Abschnitt zur Verwendung in Religionsphilosophie und Theologie).

Begriffsverwendung

Rationalismus als frühneuzeitliche Strömung

Bereits in dem frühsten Begriffsbeleg von 1539 ist der Rationalist jemand, „der dem reinen Denken größere Bedeutung für die Erkenntnis beimißt als der Erfahrung“.[2] Der frühneuzeitliche Rationalismus vertritt die Ansicht, dass der Verstand die objektive Struktur der Wirklichkeit erkennen kann, sowohl auf physikalischem, metaphysischem als auch moralischem Gebiet und dass dabei auf ein Wissen vor jeder Sinneserfahrung (Wissen a priori) zurückgegriffen wird. In seinen Argumentationsformen folgt er den Beweisverfahren der klassischen Geometrie (more geometrico). Der frühneuzeitliche Rationalismus führt dabei verschiedene scholastische Positionen fort. Historisch lässt man den Rationalismus üblicherweise mit René Descartes beginnen und kennzeichnet Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Rezipienten als Hauptvertreter (Georg Friedrich Meier, Alexander Gottlieb Baumgarten, Christian Wolff u. a.).

Einen zeitgenössischen Gegenbegriff stellte der „Empirismus“ dar, womit die Auffassung gemeint ist, dass alle Erkenntnis primär auf sinnlicher Wahrnehmung beruhe und es kein Wissen a priori gebe (tabula rasa). Die nachträgliche Gegenüberstellung von Rationalismus und Empirismus entstammt aber erst der Zeit Ende des 18. Jahrhunderts. Vertretern beider Positionen war gemeinsam, dass sie die Offenbarung als Quelle von Weltwissen für überflüssig hielten oder sogar ablehnten. Der Gegensatz zwischen Rationalismus und Empirismus wird klassisch wie folgt beschrieben: Ein Rationalist legt seiner philosophischen Welterklärung vor allem deduktive Schlussfolgerungen zu Grunde, während ein Empirist nur Hypothesen akzeptiert, die sich induktiv durch nachvollziehbare Beobachtungen bestätigen lassen. Es ist aber nicht pauschal so, dass als Rationalisten bezeichnete Autoren die sinnliche Erfahrung als Erkenntnisquelle generell ablehnen würden – und Empiristen die Vernunft. Tatsächlich sind in den Texten rationalistischer Philosophen immer auch empiristische Elemente zu finden und umgekehrt.

Rationalismus in Religionsphilosophie und Theologie

Im Kontext von Religionsphilosophie und Theologie bezeichnet „Rationalismus“ Positionen, die der menschlichen Vernunft ein Wissen vom Göttlichen zutrauen und die eine philosophische Theologie, ohne die Voraussetzung einer Offenbarung oder Gnade, für zulässig und durchführbar halten. Ein alternativer Name für diese Positionen ist auch „Intellektualismus“. Eine solche Position ist eng mit bestimmten theologischen Inhalten verbunden, die als Folge oder als Voraussetzung des rationalen Zugangs gelten können, z. B, dass göttliches Wollen und Handeln logischen und metaphysischen Regeln folgt und aus Gründen geschieht. Dazu tritt üblicherweise die Annahme stabiler und erkennbarer ontologischer Strukturen und moralischer Prinzipien und Kriterien, denen sich der Göttliche Wille fügt oder die ihm entsprechen, was dazu führen kann, dass Gott von einigen Vertretern mit einer Art höchster Vernunft identifiziert wird. Die Gegenpositionen vertreten demgegenüber, dass das göttliche Wollen und Handeln völlig willkürlich erfolgt (Voluntarismus), oder dass die einzelnen Zeitmomente je momentan von Gott verursacht werden und nur scheinbar einen Ablauf von Ereignissen darstellen (Okkasionalismus). Beide Gegenpositionen wollen damit erreichen, dass der göttliche Wille an keine logischen oder sonstige Prinzipien gebundenen ist und somit rational unverständlich bleiben muss. Sowohl in der islamischen Theologie wie der christlichen Scholastik und der rationalen Theologie der Aufklärungsepoche werden derartige Kontroversen debattiert.

In etwas abweichender und eher selten gewordener Verwendung kann „Rationalismus“ in der Theologie oder Theologiegeschichte auch meinen, dass z. B. Aspekte der Personalität des Göttlichen, die sich (tatsächlich oder vermeintlich) nicht mit starken Ansprüchen einer Rationalisierbarkeit vereinbaren lassen, für verzichtbar gehalten werden. Umgekehrt wird dann z. B. von „Voluntarismus“ gesprochen, wenn das Göttliche durchaus als Person mit Willen, Ausübung von Handlungen usw. beschrieben bzw. konzipiert wird.

Ideengeschichte

16.–17. Jahrhundert

Der Rationalismus knüpft in vielem an die Begrifflichkeit und Methode der lateinischen Scholastik an, beansprucht für sich aber, ein selbständiger Neuansatz zu sein. Dem ging ein sich vor allem im Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts ausbreitender Unmut über die angebliche „unfruchtbare Spitzfindigkeiten“ scholastischer Debatten voraus; dieser Unmut ist auch auf einen allgemeinen Wunsch nach Beendigung der konfessionellen Konflikte zurückzuführen. Die mit metaphysischen Argumenten bestrittenen theologischen Debatten würden, so ein damals häufig vorgebrachter Vorwurf, lediglich dem moralischen Skeptizismus den Weg bereiten. Demgegenüber versuchte der Rationalismus, methodisch strikt nachvollziehbar zu argumentieren und in der Begründung auf die Interpretation von Autoritäten zu verzichten. Dabei erfolgte eine Verschiebung der thematischen Aufmerksamkeit von der religiösen Heilslehre hin zur technischen Naturbeherrschung, wie es Francis Bacon vorgeschlagen hatte. Der erkenntnistheoretische Rationalismus fand auch in anderen Bereichen der Philosophie Anwendung, etwa der Ethik und der Rechtsphilosophie. So wurde die Meinung vertreten, dass sich die elementaren Grundsätze menschlicher Moral und des Naturrechts aus reiner Vernunft ergäben (siehe Samuel von Pufendorf, Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza im weiteren Sinne auch Immanuel Kant, G. W. F. Hegel u. a.). In der Religionsphilosophie folgte zunächst der Deismus rationalistischen Ansätzen, wenn er fundamentale religiöse Prinzipien postuliert, die erkennbar sind. Das lässt eine historische Offenbarung überflüssig erscheinen und führte zum theologischen Rationalismus.

Als Begründer des klassischen Rationalismus (auch als „Intellektualismus“ bezeichnet) gilt René Descartes, der dabei wichtige Anregungen von Marin Mersenne erhielt. Descartes beginnt eine Reformation von Wissenschaft und Philosophie nach dem Vorbild der Geometrie. Dabei dient ihm der axiomatische Aufbau von Euklids Elementen als Muster. Demnach lassen sich universelle Grundsätze mit Hilfe des Verstandes aus Grundbegriffen erschließen. Alle übrigen Fragen der Philosophie und Naturwissenschaften können durch Deduktion von Theoremen aus diesen Grundsätzen und deren Anwendung auf spezifische Probleme (Korollare) beantwortet werden. Descartes behauptete, dass solche Grundsätze mit Hilfe der Sinneswahrnehmung nicht erschlossen werden könnten. Die sinnliche Wahrnehmung wurde als eine vom Verstand unterschiedene Quelle der Wahrnehmung betrachtet, die aber nur unscharfe und ungewisse Erkenntnisse hervorbringt, die vor Descartes’ methodischem Zweifel keinen Bestand haben. Die Herkunft dieser Grundbegriffe bzw. die Frage, was zu ihrem Umfang gehört, war eine offene Frage des rationalistischen Forschungsprogramms.

In dieser Phase standen dem Rationalismus moralische Skeptiker wie Pierre Bayle oder Apologeten wie Blaise Pascal entgegen, die dem Verstand und der Vernunft die Fähigkeit absprachen, zu allgemein gültigen und unbezweifelbaren Sätzen über die Moral oder das Verhältnis von Seele, Welt und Gott zu erlangen.

18. Jahrhundert

Nicolas Malebranche in Frankreich, der niederländische Philosoph Baruch Spinoza und der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz und andere entwickelten den cartesianischen Rationalismus weiter und begründeten seine Position als philosophische Hauptströmung an den kontinentaleuropäischen Universitäten des 18. Jahrhunderts. Dabei gerieten sie nicht nur in Konflikt mit orthodoxen Positionen aller christlichen Konfessionen, sondern auch mit Anhängern des Materialisten Pierre Gassendi, des Empiristen John Locke oder etwa den Schülern Isaac Newtons, wenn auch zum Teil nur aus wissenschaftshistorischen Zufällen (z. B. dem Prioritätsstreit).

Der Empirismus stellte die Grundbegriffe der Rationalisten in Frage, gerade weil diese nicht aus der Sinneswahrnehmung stammen sollten. Dem Empiristen zufolge kann – grob gesprochen – aber nur das als Erkenntnis anerkannt werden, was aus Beobachtungen abgeleitet wurde und durch sie bestätigt wird. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus von David Hume nimmt die Kritikpunkte, die beide Strömungen gegeneinander vorbringen, gleichermaßen auf: empiristische Induktion kann nicht zu streng allgemeingültigen Sätzen führen; die rationalistische Deduktion ruht auf ungewissen Voraussetzungen. Der Rationalismus findet schließlich bei Christian Wolff zu einem System vom enzyklopädischer Vollständigkeit.

Immanuel Kant, auch ein Vordenker der Aufklärung, verstand seine Transzendentalphilosophie ausdrücklich als eine Vermittlung von Rationalismus und Empirismus. Der deduktiv-rationalistische Aufbau wird unter verschiedenen Vorbehalten auch dann akzeptiert, wenn für Grundbegriffe keine Grundlage aus Wahrnehmungen der Sinne vorliegt, allerdings nur dann, wenn diese Begriffe aus einer Analyse von transzendentalen Strukturen der Vernunft und der Wahrnehmung selbst stammen, also aus einer Kritik der reinen Vernunft. Die Grundstrukturen der erkennbaren Welt können so in Grundsätzen ausgesprochen werden, die als synthetische Urteile a priori aus der Verbindung der Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes hervorgehen. Sinnlichkeit und Vernunft sind für Kant keine separaten Stränge der Erkenntnis, sondern gemeinsam die „Stämme“ der in vernunftmäßige Regeln passenden Erfahrung.

19. Jahrhundert – Gegenwart

Rationalistische Positionen sind gegenwärtig Teil in unterschiedlichen Erkenntnistheorien, in den überwiegend deutschen Diskurstheorien, in ökonomischen Theorien wie der Spieltheorie und der Rationalen Entscheidungstheorie und in überwiegend anglo-amerikanischen Theorien internationaler Beziehungen. Dabei handelt es sich jedoch nicht immer um rationalistische Positionen im engeren Sinne (s. o.), gemeinsam ist ihnen aber, dass sie Rationalität in Denken und Handeln voraussetzen. Der Unterschied zwischen Rationalismus und Rationalitätstheorien wird jedoch auch von den Gegnern dieser Positionen oft nur unscharf gesehen. Das zeigt sich mit Blick auf den Irrationalismus der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (in der Romantik) als Gegenbegriff aufgebaut wurde.

Im Rahmen der Kulturkritik entfaltete sich eine breite Kritik am Rationalismus, u. a. bei Oswald Spengler und bei Martin Heidegger, später bei zahlreichen Philosophen der französischen Nietzsche-Rezeption und des Poststrukturalismus mit recht unterschiedlichen Stoßrichtungen. Gegen diese Positionen und in Bezug auf weitere philosophische Entwicklungen haben sich in verschiedenen systematischen Bereichen rationalistische Neuansätze gewandt, so u. a. moderne Vertreter des Theologischen Rationalismus, der Kritische Rationalismus im Bereich der Wissenschaftstheorie.

Dabei kommt es oft zur kritischen Ausdifferenzierungen des Rationalitätsbegriffs. Besonders einflussreich ist die „kommunikative Rationalität“, wie sie von Jürgen Habermas geprägt und mit Karl-Otto Apel und vielen anderen Philosophen gemeinsam entwickelt wurde. Julian Nida-Rümelin vertritt im deutschen Sprachraum prominent eine „strukturelle Rationalität“ auf der sich auch seine „rationalen Ethik“ gründet.[3] In den Arbeiten von Herbert Schnädelbach werden drei basale Typen der Rationalität benannt, die durch ihn angestoßene Debatte unterscheidet mittlerweile rund fünfzig verschiedene Rationalitätstypen.

Siehe auch

Literatur

Für Literatur zu Rationalitätsbegriff und -theorien siehe dort.
  • Laurence BonJour: In Defense of Pure Reason, Cambridge University Press, Cambridge, U.K. 1998.
  • Laurence BonJour: A Rationalist Manifesto, in: Canadian Journal of Philosophy Supp. 18 (1992), S. 53–88.
  • John Cottingham: Rationalism, Paladin, London 1984.
  • John Cottingham: The Rationalists, Oxford University Press, Oxford 1988.
  • Willis Doney: Rationalism, in: Southern Journal of Philosophy Supp. 21 (1983), S. 1–14.
  • Anthony Kenny (Hrsg.): Rationalism, Empiricism and Idealism, Oxford University Press, Oxford 1986.
  • Louis E. Loeb: From Descartes to Hume, Continental Metaphysics and the Development of Modern Philosophy, Cornell University Press, Ithaca, New York 1981.
  • Alan Nelson (Hrsg.): A Companion to Rationalism, Blackwell, Oxford 2005.
  • Christopher Peacocke: Three Principles of Rationalism, in: European Journal of Philosophy 10 (2002), S. 375–397.
  • Rainer Specht (Hrsg.): Rationalismus (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung (hg. Rüdiger Bubner), Bd. 5), Reclam, Stuttgart 11979, Neuausgabe 2002. Eine Auswahl repräsentativer Quellentexte mit einführenden Erläuterungen.
  • Rudolf Steiner: Der menschliche und der kosmische Gedanke, GA 151 (1990), ISBN 3-7274-1510-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks


Dieser Artikel basiert (teilweise) auf dem Artikel Rationalismus aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.
  1. Vgl. z. B. Louis E. Loeb: From Descartes to Hume, Continental Metaphysics and the Development of Modern Philosophy, Cornell University Press, Ithaca, New York 1981; Anthony Kenny (Hrsg.): Rationalism, Empiricism and Idealism, Oxford University Press, Oxford 1986; Peter J. Markie: Art. Rationalism, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, § 1.
  2. G. Gawlick: „Rationalismus I“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, HWPh Bd. 8 S. 30301 bzw. HWPh Bd. 8, 1992, S. 44, mit Bezug auf A. Hatzfeld/A. Darmesteter: Dict. de la langue franç., Paris 1890–93 s.v.
  3. Julian Nida-Rümelin: Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Ditzingen 2001; Ders.: Rationale Ethik. In: Pieper, Annemarie (Hrsg.), Geschichte der neueren Ethik. Gegenwart. Bd. 2, Francke: Tübingen u. a. (1992), S. 154–172.