Islamischer Staat (Organisation) und Ideologie: Unterschied zwischen den Seiten

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Der '''Islamische Staat''' (''IS'', {{arS|الدولة الإسلامية|d=ad-daula al-islāmiyya}}) ist eine seit 2003 aktive, [[Terroristische Vereinigung|terroristisch]] agierende, [[Salafismus|salafistische]]<ref>Tyma Kraitt, Karin Leukefeld, Nikolaus Brauns, Werner Ruf, Hannes Hofbauer, Gerhard Mangott, Johannes Auer, Rüdiger Lohlker, Norman Paech, Murat Çakır ''Der Nahe Osten brennt: Zwischen syrischem Bürgerkrieg und Weltkrieg'' Promedia Verlag  2016 ISBN 978-3-85371-410-2</ref> [[Freischar|Miliz]] mit tausenden Mitgliedern, die ein als „[[Kalifat]]“ deklariertes [[Dschihadismus|dschihadistisches]] „Staatsbildungsprojekt“<ref>[[Volker Perthes]]: [http://www.nzz.ch/international/das-ist-ein-staatsbildungsprojekt-1.18374003 ''«Das ist ein Staatsbildungsprojekt».''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'', 31. August 2014. Derselbe: ''Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen.'' Suhrkamp Verlag, 2015, S. 91–120.</ref><ref>[[Stefan Kühl]]: ''[http://www.soziopolis.de/beobachten/religion/artikel/die-verorganisierung-des-islamismus/ Die „Verorganisierung“ des Islamismus.]'' In: ''Soziopolis.'' 26. November 2015.</ref> anstrebt.<ref>Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren.'' (2015) S. 308. Der amerikanische Terrorismusforscher [[Brian Fishman]] sprach bereits 2007 vom damaligen Islamischen Staat im Irak als eine „Staatsamöbe“ (''governmental amoeba''); Fishman: ''[https://www.ctc.usma.edu/v2/wp-content/uploads/2010/06/ISI-Fourth_Gen4.pdf Fourth Generation ''Governance'' – Sheikh Tamimi defends the Islamic State of Iraq.]'' Combating Terrorism Center, 23. März 2007. Zu dschihadistischen Staatsvorstellungen Sebastian Huhnholz: ''Dschihadistische Raumpraxis. Raumordnungspolitische Herausforderungen des militanten sunnitischen Fundamentalismus'', Berlin: LIT&nbsp;2010.</ref> Die Organisation kontrollierte bis Dezember 2017 Teile des [[Irak]] sowie [[Syrien]]s und wirbt um Mitglieder für [[Bürgerkrieg]]e sowie [[Terrorismus|Terroranschläge]]. Sie wird des [[Völkermord]]s, der Zerstörung von kulturellem Erbe der Menschheit wie auch anderer [[Kriegsverbrechen]] beschuldigt.
'''Ideologie''' (französisch ''idéologie''; zu griechisch ἰδέα ''idéa'' „Idee“ und λόγος ''lógos'' „Lehre“, „Wissenschaft“ – eigentlich „Ideenlehre“)<ref>Duden online: [http://www.duden.de/rechtschreibung/Ideologie ''Ideologie'']</ref> steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für [[Weltanschauung]]. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf [[Karl Marx]] zurückgehend das „falsche Bewusstsein“ einer [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen [[Wissenssoziologie]] jedes System von [[Soziale Norm|Normen]] als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden.<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref> Seit Marx und Engels bezieht sich der Ideologiebegriff auf „Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern“<ref>https://www.nzz.ch/feuilleton/gender-debatte-feminismus-ist-nicht-das-gegenteil-von-wissenschaft-ld.1307637</ref>.


Organisatorische Anfänge gehen auf den [[Irakischer Widerstand|irakischen Widerstand]] zurück. 2004 war die Gruppierung unter ''al-Qaida im Irak (AQI)'' und von 2011 bis Juni 2014 unter ''Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS)'' bzw. unter dem Namen '''Islamischer Staat im Irak und der Levante''' ''(ISIL)'' sowie auch unter dem transkribierten arabischen [[Akronym]] '''Daesch''' ({{ar|داعش&lrm;|w=Dāʿisch}}, von {{arS|الدولة الاسلامية فى العراق و الشام|d=ad-daula al-islāmiyya fī l-ʿIrāq wa-š-Šām}}) bekannt.<ref>{{Internetquelle |autor=Felicia Schwartz |url=https://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/184702/index.html |titel="Daesch" oder „IS“? – Die vielen Namen für „Islamischer Staat“ |hrsg=3Sat |zugriff=2014-12-23}}</ref>
Der Ideologiebegriff [[marxistische Philosophie|nach Marx]], der im westlichen Marxismus eine zentrale Rolle spielt, geht davon aus, dass das herrschende Selbstbild vom objektiv möglichen Selbstbild der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verschieden ist. Da die materiellen Verhältnisse und Interessen das Denken bestimmen, wird nach Marx die Ideologie der Gesellschaft durch die Interessen dominanter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der [[Bourgeoisie]], beeinflusst, um diese zu rechtfertigen. Durch eine [[Ideologiekritik]] kann diesen Interessen entgegengewirkt werden, um im Sinne eines allgemeinen Interesses ein nach dem Stand der Erkenntlichkeit korrektes und vollständiges Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Eine wichtige Weiterentwicklung erfährt die Theorie der Ideologie bei [[Georg Lukács]], der sie mit einer Theorie des [[Totalitarismus]] verknüpft: Die vollständige Vereinnahmung des Individuums durch gesellschaftlich organisierte Aktivitäten und Strukturen führt dazu, dass sich das Individuum nur innerhalb dieser Strukturen verstehen kann und somit selbst eine passende Ideologie entwickelt.<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref>  


Nach der militärischen Eroberung eines zusammenhängenden Gebietes im Nordwesten des Irak und im Osten Syriens verkündete die Miliz am 29. Juni 2014 die Gründung eines [[Kalifat]]s mit [[Abu Bakr al-Baghdadi]] als „Kalif Ibrahim – Befehlshaber der Gläubigen“.<ref>Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren.'' (2015), S. 19.</ref> Damit ist der Anspruch auf die Nachfolge des [[Prophet]]en [[Mohammed]] als politisches und religiöses Oberhaupt aller [[Muslim]]e verbunden.<ref>Stephan Rosiny: [http://www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_nahost_1406.pdf ''„Des Kalifen neue Kleider“: Der Islamische Staat in Irak und Syrien''] (PDF; 476&nbsp;kB). In: ''[[German Institute of Global and Area Studies|GIGA Focus]]'', Nr. 6/2014, abgerufen am 2. Oktober 2014.</ref><ref>[http://www.rp-online.de/politik/is-fuehrer-baghdadi-sieht-sich-als-nachfolger-des-propheten-aid-1.5199499 ''IS-Führer Baghdadi sieht sich als Nachfolger des Propheten.''] In: ''[[Rheinische Post]]'', 29. Juni 2015.</ref>
In der Wissenssoziologie hat sich ''Ideologie'' hingegen als Bezeichnung für ausformulierte Leitbilder [[Soziale Gruppe|sozialer Gruppen]] oder [[Organisationssoziologie|Organisationen]] durchgesetzt, die zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns dienen – ihre [[Idee]]n, [[Erkenntnis]]se, [[Kategorisierung (Kognitionswissenschaft)|Kategorien]] und [[Wertvorstellung]]en. Sie bilden demnach das notwendige „[[Kohäsion (Psychologie)|Wir-Gefühl]]“, das den inneren Zusammenhalt jeder menschlichen [[Gemeinschaft]] gewährleistet.<ref>[[Dieter Haller]]: ''Dtv-Atlas Ethnologie.'' 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage. dtv, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9, S. 175.</ref> Dieser Ideologie-Begriff wird auch auf die Ideensysteme von politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien etc. angewandt ''(→ [[politische Ideologie]])''.


Anfangs bekannte sich der IS zu [[al-Qaida]],<ref>[http://www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror-fuehrungsmitglied-der-al-qaida-im-irak-gefasst-1354780.html ''Führungsmitglied der Al Qaida im Irak gefasst.''] In: ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung]]'', 3. September 2006.</ref> von deren Führung er sich etwa Mitte 2013 löste und im Januar 2014 durch [[Aiman az-Zawahiri]] ausgeschlossen wurde.<ref>[[Guido Steinberg]]: [https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/190499/der-islamische-staat-im-irak-und-syrien-isis bpb.de] ''Der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS)'' (abgerufen am 8. Dezember 2015)</ref><ref>Raniah Salloum: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/isis-in-irak-und-syrien-bauen-die-extremisten-am-gottesstaat-a-941782.html ''Neuer Gottesstaat im Nahen Osten.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 4. Januar 2014.</ref><ref>Clint Watts: ''[http://www.fpri.org/geopoliticus/2014/02/jihadi-competition-after-al-qaeda-hegemony-old-guard-team-isis-battle-jihadi-hearts-minds Jihadi Competition After al Qaeda Hegemony – The 'Old Guard', Team ISIS & The Battle For Jihadi Hearts & Minds,]'' In: ''Foreign Policy Research Institute.'' vom 20. Februar 2014 (englisch).</ref> Die Führungsspitze des IS wird unter anderem von einer Gruppe von ehemaligen [[Geheimdienst]]offizieren der [[Irakische Streitkräfte|irakischen Streitkräfte]] aus der [[Saddam Hussein|Saddam-Hussein]]-Ära gebildet, die bis zu dessen Tod im Januar 2014 von [[Haji Bakr|Hadschi Bakr]] angeführt wurde.<ref>Jürg Bischoff: [http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/symbolik-und-macht-im-islamischen-staat-1.18425374 ''Symbolik und Macht im Islamischen Staat.''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'', 15. November 2014.</ref><ref name="spon19042015">[[Christoph Reuter (Journalist)|Christoph Reuter]]: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/haji-bakr-der-terror-planer-des-islamischen-staats-is-a-1029289.html ''Der Spitzel-Führer des „Islamischen Staates“''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 19. April 2015.</ref>
Im gesellschaftlichen [[Diskurs]] werden die beiden Ideologiebegriffe oft nicht hinreichend voneinander unterschieden.


Der IS kämpft im [[Bürgerkrieg in Syrien|syrischen Bürgerkrieg]] gegen das Regime von Präsident [[Baschar al-Assad]], aber auch gegen die [[Freie Syrische Armee]] sowie gegen die [[Kurden in Syrien|kurdische Minderheit]] im Norden. Seit August 2014 sind IS-Stellungen Ziele von Luftangriffen einer [[Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat|internationalen Allianz]], an der sich seit September mehrere westliche und arabische Staaten beteiligen.<ref>[http://www.spiegel.de/politik/ausland/usa-fliegen-mit-partnern-luftangriffe-in-syrien-a-993170.html ''USA fliegen mit arabischen Verbündeten Luftangriffe in Syrien.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 23. September 2014.</ref> Weiterhin kämpft der IS im [[Bürgerkrieg in Libyen seit 2014|zweiten libyschen Bürgerkrieg]] ab 2014 sowohl gegen die weltweit anerkannte Regierung von Ministerpräsident [[Abdullah Thenni]] als auch gegen die [[Fadschr Libiya|Streitkräfte]] der [[Neuer Allgemeiner Nationalkongress|Gegenregierung]] um [[Chalifa al-Ghweil]] und rief dort ein „[[Emirat]]“ aus.<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/libyen-sirte-gefechte-islamischer-staat ''Der Horror erfasst Sirte.''] In: ''[[Die Zeit]]'', 16. August 2015.</ref><ref>[http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-is-terroristen-auf-dem-vormarsch-a-1049239.html ''IS-Terroristen in Libyen auf dem Vormarsch.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 21. August 2015.</ref><ref>[http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/symbolik-und-macht-im-islamischen-staat-1.18425374 ''IS-Schlächter und Chef-Schleuser''] In: ''[[n-tv]]'', 1. September 2015.</ref>
== Ideengeschichte ==


Vom [[Sicherheitsrat der Vereinten Nationen]]<ref>{{Webarchiv | url=http://www.un.org/News/Press/docs//2014/sc11495.doc.htm | wayback=20140819224243 | text=United Nations Security Council, SC/11495, 28. Juli 2014}} ''Webarchiv Wayback''</ref> sowie von der [[Bundesregierung (Deutschland)|Regierung Deutschlands]]<ref>''[http://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2013.pdf Verfassungsschutzbericht 2013]'' (PDF) des Bundesamtes für Verfassungsschutz, S. 209 f, abgerufen am 2. Oktober 2014.</ref> wird der IS offiziell als [[terroristische Vereinigung]] eingestuft. Der [[Großmufti]] Saudi-Arabiens, [[ʿAbd al-ʿAzīz Āl asch-Schaich]], nannte IS zusammen mit al-Qaida „Feinde Nummer Eins des Islam“.<ref>[http://www.zeit.de/news/2014-08/19/saudi-arabien-grossmufti-nennt-dschihadisten-feinde-nummer-eins-des-islam-19135002 ''Großmufti nennt Dschihadisten „Feinde Nummer eins des Islam“''] In: ''[[Die Zeit]]'', 19. August 2014.</ref>
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte [[Antoine Louis Claude Destutt de Tracy]] den französischen Begriff ''idéologie'' als Bezeichnung für das Projekt einer „einheitlichen [[Wissenschaft]] der Vorstellungen und Wahrnehmungen“ (''science qui traite des idées ou perceptions''), das sich auf die Erkenntnistheorie von [[Étienne Bonnot de Condillac|Condillac]] berief. Die ''Idéologistes'' setzten zur Vorbeugung gegen eine neue Schreckensherrschaft ein pädagogisches Programm der Breitenaufklärung ins Werk.<ref>[[Brigitte Schlieben-Lange]]: ''Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozess.'' (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7, S. 3.</ref> Durch eine publizistische Kampagne von [[Napoleon Bonaparte]] wurde diese Schule jedoch als wirklichkeitsfremdes, spekulatives Systemgebäude angegriffen;<ref> NAPOLEON im Journal de Paris, 15 pluviôse an IX [= 4. 2. 1801] 815–817, zit. auch in: A. H. TAILLANDIER: Documents biogr. sur P. C. F. Daunou (Paris 21847) 197f.</ref> aus dieser Tradition leitet sich der Begriff der Ideologie als kohärentes Weltbild auf der Basis unzutreffender Prämissen ab. Erst durch Marx und Engels wurde dieser Begriff dann herrschaftskritisch angewandt. Zuvor war der Ausdruck ''Ideologen'' im deutschen Sprachraum für eine Orientierung an Ideen (anstatt der Realität), etwa der der Freiheit oder einer republikanischen Verfassung reserviert gewesen.<ref>U. Dierese, Eintrag: Ideologie (I) in: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'' Bd. 4, S. 161–164</ref>


== Namen ==
Der Begriff der Ideologie ist, bis zum Versuch einer funktionalen Beschreibung in der Wissenssoziologie, immer eng mit dem Gedanken [[Ideologiekritik]] verbunden.
Seit Ende Juni 2014 nennt sich die Organisation nur noch Islamischer Staat. Nach Ansicht des Politologen [[Volker Perthes]] will die Organisation, die er als „dschihadistisches Staatsbildungsprojekt“ kennzeichnet, durch Verzicht auf frühere Namensbestandteile unterstreichen, dass sie über den Irak und die Levante hinaus expandieren will.<ref>[[Volker Perthes]]: [http://www.sueddeutsche.de/politik/kampf-gegen-is-viel-mehr-als-eine-terrormiliz-1.2144142 ''Viel mehr als eine Terrormiliz.''] In: ''[[Süddeutsche Zeitung]]'', 25. September 2014.</ref>
Neben den hier genannten Positionen sind zu den Ideologiebegriffen u.a. einschlägig:  [[Ferdinand Tönnies]], [[Hans Barth (Philosoph)|Hans Barth]], [[Ernst Topitsch]], [[Hans Albert]], [[Bertrand Russell]], [[Louis Althusser]], [[Theodor W. Adorno]], [[Hannah Arendt]] und [[Jürgen Habermas]].


Bis Ende 2014 nannte sich die Organisation „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ ({{arS|الدولة الإسلامية في العراق والشام&lrm;|d=ad-daula al-islāmiyya fī l-ʿIrāq wa-š-Šām}}; auch als „… in der [[Levante]]“ oder „… in [[Großsyrien]]“ übersetzbar), wovon sich auch die gebräuchlichen Abkürzungen ISIS, ISIL und ISIG ableiten. Die 2013 vom syrischen Aktivisten Khaled al-Haj Salih geprägte<ref name=guthrie>{{Internetquelle |url=https://www.freewordcentre.com/blog/2015/02/daesh-isis-media-alice-guthrie/ |titel=Decoding Daesh: Why is the new name for ISIS so hard to understand? |autor=Alice Guthrie |hrsg= |werk=Free Word |datum=2015-02-19 |zugriff=2015-11-16 |sprache=en |format=}}</ref> Fremdbezeichnung wird die aus den arabischen Anfangsbuchstaben abgeleitete und im arabischen Sprachgebiet verbreitete, eher negativ konnotierte Abkürzung ''Daesch'' ({{ar|داعش&lrm;|d=dāʿiš}}, auch in den Schreibweisen ''Daesh'', ''Da'ish'' bzw. ''Daaish'') inzwischen auch in anderen Sprachen verwendet.  
Vorläufer des modernen Ideologiebegriffes ist die [[Idolenlehre]] von [[Francis Bacon]].<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref> Schon hier ist die Idee einer Aufdeckung von falschen Vorstellungen entscheidend: Die Reinigung des Denkens von ''Idolen'' (Trugbildern) ist für ihn die Voraussetzung von Wissenschaft. Quellen dieser Trugbilder können Tradition, Sprache, Herkunft und Sozialisation sein.


Diese Abkürzung gilt bei Mitgliedern der Terrororganisation aus mehreren Gründen als beleidigend: Abkürzungen sind im Arabischen weniger gängig als im Deutschen oder Englischen, wodurch arabische Muttersprachler den Eindruck gewinnen, es handle sich hierbei um (fiktives) Kauderwelsch.<ref name=guthrie/><ref>[http://www.bostonglobe.com/opinion/2014/10/09/words-matter-isis-war-use-daesh/V85GYEuasEEJgrUun0dMUP/story.html Per-The Boston Globe Online: Words matter in ‘ISIS’ war, so use ‘Daesh’]</ref> Gleichzeitig ähnelt die Aussprache des Begriffs dem Wort {{arF|داعس|d=dāʿis|b=jemand oder etwas, der oder das etwas zerstampft}}.<ref>[[Markus C. Schulte von Drach]]: [http://www.sueddeutsche.de/politik/terrororganisation-warum-der-name-daesch-den-islamischen-staat-aergert-1.2745175 ''Warum der Name „Daesch“ den Islamischen Staat ärgert.''] In: ''[[Süddeutsche Zeitung]]'', 23. November 2015.</ref> In den vom IS besetzten Gebieten ist der Begriff verboten, bei Verwendung droht Strafe.<ref name="3sat">[https://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/184702/index.html 3sat.de: „Daesch“ oder „IS“? Die vielen Namen für „Islamischer Staat“]</ref> Zahlreiche Politiker haben inzwischen die Bezeichnung „Daesch“ übernommen. <ref name="3sat"/> Dadurch soll der im Islam positiv konnotierten Eigenbezeichnung der Organisation bewusst entgegengetreten und eine direkte Assoziation mit dem Islam vermieden werden.<ref>Matthias Heine: [https://www.welt.de/kultur/article132625450/Das-ABC-des-Islamischen-Staats.html ''Das ABC des Islamischen Staats.''] In: ''[[Die Welt]]'', 26. September 2014.</ref><ref>So US-General Allen in [http://www.wsj.com/articles/joe-rago-inside-the-war-against-islamic-state-1419636790]; vgl. auch [http://theweek.com/speedreads/446139/france-says-name-isis-offensive-call-daesh-instead France says the name 'ISIS' is offensive, will call it 'Daesh’ instead]; so auch [[John Kerry]], kritisch: [[The Washington Post]]: [https://www.washingtonpost.com/posteverything/wp/2014/12/29/john-kerry-is-calling-the-islamic-state-by-the-wrong-name-and-its-helping-the-islamic-state/]</ref>
Eine besondere Rolle spielte die [[Ideologiekritik]] in der [[Aufklärung]]. Zentrales Ziel der Aufklärung war die Befreiung des Bewusstseins der Menschen von [[Aberglauben]], [[Irrtum|Irrtümern]] und [[Vorurteil]]en, die nach dieser Sichtweise den mittelalterlichen Machthabern zur [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Legitimation]] ihrer [[Herrschaft]] dienten. Die französischen [[Materialismus|Materialisten]], u.&nbsp;a. [[Paul Heinrich Dietrich von Holbach]] und [[Claude Adrien Helvétius]], kritisierten insbesondere die katholische Kirche und bezeichneten deren – ihrer Meinung nach im Interesse der Machterhaltung verbreiteten – Behauptungen als ''[[Priesterbetrug]]''. Die Aufklärung verlangte die politische Durchsetzung von [[Vernunft]], [[Wissenschaft]], [[Demokratie]] und [[Menschenrechte]]n.


Der IS spricht nicht von Grenzen, sondern von „Fronten“ und erfüllt damit ein wichtiges Merkmal eines offen angestrebten [[Weltreich|Imperiums]].<ref>{{YouTube|id=1ucAqS4Qodg|title=[[Jürgen Todenhöfer]] im Interview mit einem deutschen und anderen IS-Terrorists}}</ref> Weitere, ehemalige Namen der Organisation oder ihrer Vorläufer (JTJ, Az-Zarqawi-Netzwerk, TQJBR, AQI) sind im Abschnitt [[#Geschichte|Geschichte]] angegeben.
Die Vorstellung des Aufrechterhaltens von für das Individuum oder die Gesellschaft zuträglichen Irrtümern über Selbst und Welt findet sich auch bei [[Arthur Schopenhauer]], [[Max Stirner]], [[Friedrich Nietzsche]], [[Vilfredo Pareto]] (dieser als „Derivation“).  


== Finanzierung ==
=== Marxistische Philosophie ===
Der IS galt als die reichste Terrororganisation der Welt mit einem geschätzten Vermögen von zwei Milliarden US-Dollar (Stand Januar 2015).<ref name="autogenerated1">Wilfried Buchta: Terror vor Europas Toren. (2015) S. 311.</ref> Bei der Eroberung von [[Mossul]] und der Plünderung der Zentralbank gelangten im Juni 2014 allein 429&nbsp;Millionen US-Dollar in die Hände des IS.<ref>[http://www.ibtimes.com/mosul-bank-robbery-isnt-only-thing-funding-isis-1601124 ibtimes.com] ''Mosul Bank Robbery Isn't The Only Thing Funding ISIS'' (abgerufen am 5. Dezember 2015)</ref> Das „Geschäftsmodell“ IS basierte auf mehreren Säulen:<ref name="autogenerated1" />
[[Datei:Marx and Engels.jpg|mini|Marx und Engels prägten den Ideologiebegriff entscheidend]]
Nach dem sozialistischen Utopisten [[Henri de Saint-Simon|Saint Simon]] griffen Mitte des 19. Jahrhunderts [[Karl Marx|Marx]] und [[Friedrich Engels|Engels]] den seit Napoleon [[Stigmatisierung|stigmatisierten]] Begriff wieder auf. Ideologie wird hier nicht als bewusste Verführung, sondern als ein sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ergebender objektiv notwendiger Schein konzipiert: Aus dem Klassencharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich nach Marx die Tendenz, dass die Gedanken der herrschenden Klasse, die mit den bestehenden Produktionsverhältnissen im Einklang stehen, auch die herrschenden Gedanken in der Gesellschaft sind. In seinem Hauptwerk, ''[[Das Kapital]]'', bestimmt Marx den [[Warenfetisch|Waren- und Geldfetisch]] als bestimmende Verkehrungsmomente in der kapitalistischen Produktion. Die Menschen nehmen ihre (arbeitsteiligen) Beziehungen zueinander als Beziehungen zwischen Waren wahr.


* [[Erdöl]]: Der IS finanzierte sich größtenteils über die Einnahmen vom Verkauf des Rohöls aus eroberten Ölfeldern.<ref name="DW_03072014">[http://www.dw.com/de/isis-verkauft-roh%C3%B6l-aus-eroberten-%C3%B6lfeldern/a-17757159 ''ISIS verkauft Rohöl aus eroberten Ölfeldern.''] In: ''[[Deutsche Welle]]'', 3. Juli 2014.</ref><ref>[https://www.tagesschau.de/ausland/islamischer-staat-finanzen-100.html ''Die reichste Terrorgruppe der Welt''] tagesschau.de vom 9. September 2014.</ref> Bis zu den ersten Luftschlägen auf Erdölfelder im Oktober 2014 wurde täglich für 3&nbsp;Millionen US-Dollar Öl gefördert und verkauft. Ende 2014 sanken die Zahlen auf etwa 360.000&nbsp;US-Dollar je Tag.<ref>Wilfried Buchta: Terror vor Europas Toren. (2015) S. 313.</ref>
Im 20. Jahrhundert wurden von [[Westlicher Marxismus|westlichen Marxisten]] ideologische Momente der [[Verdinglichung]] diskutiert, so zum Beispiel von [[Ernst Bloch]] (''Geist der Utopie'', 1918) oder [[Georg Lukács]] ''([[Geschichte und Klassenbewußtsein]],'' 1923), für dessen Verdinglichungsanalyse die Idee einer ideologischen Verblendung zentral war. Demnach sei Ideologie „notwendig falsches Bewusstsein“. Die Bilder von der Wirklichkeit, die das [[Subjekt (Philosophie)|Subjekt]] sich schafft, sind von subjektiven Faktoren beeinflusst oder bestimmt. Daher sind sie nicht objektiv, sondern verfälschen die Wirklichkeit.
* [[Raub]]: Eine zusätzliche Einnahmequelle war der Verkauf antiker Fundstücke aus [[Raubgrabung]]en an archäologischen Fundstellen und der Plünderung von Museen. Bis Ende 2014 sollen archäologische Funde allein aus Syrien im Wert von 30&nbsp;Millionen US-Dollar in den Westen geschmuggelt und hier mit gefälschten Papieren in den Kunsthandel gebracht worden sein.<ref>[https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-32865.html ''Kunstraub für Kalaschnikows. Tagesschau 19. Oktober 2014'']</ref>
* [[Lösegeld]] und [[Sklaverei]]: Forderungen aus Entführungen sowie die „Versteigerung“ von Kindern und Frauen (insbesondere gefangengenommene [[Jesiden]] und [[Christentum im Irak|Christen]]) auf Sklavenmärkten stellten eine weitere Einnahmequelle dar. Mädchen und Frauen zwischen 10 und 20 Jahren wurden für umgerechnet 68&nbsp;Euro versteigert; Kinder bis zu 9&nbsp;Jahren erzielten Preise bis zu umgerechnet 135&nbsp;Euro. Entführte westliche Geiseln wurden für 3 bis 5&nbsp;Millionen US-Dollar freigelassen.<ref>Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren''. (2015) S. 312, 313.</ref><ref>[http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Das-Kalifat-handelt-mit-Frauen/story/12451736 ''Das Kalifat handelt mit Frauen.''] In: ''[[Tages-Anzeiger]]'', 30. August 2014.</ref><ref>{{Webarchiv | url=http://www.tagesschau.de/ausland/is-sexualisierte-gewalt-100.html | wayback=20140924003335 | text=''Kämpfen gegen „sexuellen Dschihad“''}}. Artikel vom 22. September 2014 im Portal ''tagesschau.de'', abgerufen am 22. September 2014.</ref><ref>[http://www.sueddeutsche.de/politik/terrormiliz-im-nahen-osten-so-finanziert-der-islamische-staat-sein-kalifat-1.2104658 ''Entführungsopfer nach der Farbe des Reisepasses ausgesucht.''] In: ''[[Süddeutsche Zeitung]]'', 27. August 2014.</ref>
* [[Spende]]n: Der IS finanzierte sich über Spenden vermögender Privatleute, religiöser Stiftungen und Moscheevereine,<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/islamischer-staat-gotteskrieger-finanzierung-syrien-irak ''Die Sponsoren der IS-Gotteskrieger'']</ref> vor allem aus [[Saudi-Arabien]] und [[Katar]].<ref name="MerkelEmirKatar">Matthias Gebauer, Christoph Sydow: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/merkel-empfaengt-emir-von-katar-in-berlin-und-beraet-kampf-gegen-den-is-a-991966.html ''Der zwielichtige Scheich besucht Berlin.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 17. September 2014.</ref>
* [[Steuer]]n: Der IS erhob Steuern von Gewerbetreibenden, die für Umsatz- und Vermögensteuer jeweils bei 10 % liegen, und erhob Zölle (zwischen 200 und 500&nbsp;US-Dollar je Lieferung). Daneben bezog der IS in Mossul Mieteinnahmen für über 20.000&nbsp;Wohnungen und Geschäfte in Höhe von 3&nbsp;Millionen US-Dollar monatlich.<ref name="geldgeber">{{Webarchiv | url=http://www.tagesschau.de/ausland/is-geldgeber-101.html | wayback=20140824123003 | text=''Die Geldgeber der IS-Terroristen.''}} In: ''[[tagesschau.de]]'', 22. August 2014.</ref><ref name="Geiselnahme">[[Hasnain Kazim]]: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-49-tuerkische-geiseln-wieder-frei-a-992812.html ''Die mysteriöse Geiselbefreiung von Mossul.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 20. September 2014.</ref><ref>Raniah Salloum: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/james-foley-islamischer-staat-im-irak-macht-jagd-auf-journalisten-a-987064.html ''Geiseln für den Gottesstaat.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 21. August 2014.</ref><ref>[https://www.welt.de/politik/ausland/article131469577/Das-eintraegliche-Geschaeft-mit-den-Entfuehrungen.html ''Das einträgliche Geschäft mit den Entführungen''], Welt Online, 21. August 2014.</ref> Der IS führte über alle Transaktionen genau Buch.<ref name="autogenerated1" />


Der Islamische Staat proklamierte auf seinen Internetseiten und in sozialen Netzwerken die Einführung eines [[Islamischer Dinar|Gold-Dinars]], der sukzessive in Umlauf gebracht wurde.<ref>[http://www.forbes.com/sites/timworstall/2014/11/14/this-will-be-fun-as-islamic-state-mints-its-own-gold-dinar/ forbes.com]</ref>
[[Antonio Gramsci]] entwickelt in den ''[[Gefängnishefte]]n'' einen Ideologiebegriff, der Ideologie als „gelebte, habituelle gesellschaftliche Praxis“ versteht.<ref>Terry Eagleton: ''Ideologie. Eine Einführung.'' Stuttgart/ Weimar 2000, S. 136.</ref> Ideologie ist bei ihm nicht mehr zu reduzieren auf die Ebene des Bewusstseins, sondern umfasst auch Handlungen der Menschen.


== Führungsstruktur ==
Nach [[Louis Althusser]] vermitteln Ideologien dem Individuum [[Bewusstsein]] und üben über das Individuum Macht aus, z.&nbsp;B. in Verbindung mit sogenannten [[Ideologische Staatsapparate|ideologischen Staatsapparaten]]. Zudem ermöglichen Ideologien es den Individuen, sich in der Gesellschaft als Subjekte wiederzuerkennen. Ideologie ist nach Althusser nicht nur [[Manipulation]], sondern konstituiert Subjekte – sie verstünden sich trotz bzw. wegen ihrer Unterwerfungen als frei. Ein wichtiger Gedanke von Althusser ist, dass Ideologien unbewusst sind.<ref>Louis Althusser: ''Für Marx.'' S. 183 ff.</ref> Ein zentrales Werk für Althussers Ideologietheorie ist sein Essay ''[[Ideologie und ideologische Staatsapparate]]'' aus dem Jahre 1970.
Neben dem selbsternannten, in der restlichen islamischen Welt nicht anerkannten „Kalifen“ [[Abu Bakr al-Baghdadi]] stand Adnan al-Sweidawi („[[Abu Ali al-Anbari]]“; † 12.&nbsp;Dezember 2015 in al-Ash, Syrien<ref name="aranews">{{Internetquelle |url=http://aranews.net/2015/12/baghdadis-advisor-killed-in-iraqi-raid/ |titel=Baghdadi’s advisor killed in Iraqi raid |autor=Salar Qassim |werk=aranews.net |datum=2015-12-13 |zugriff=2015-12-15 |sprache=en}}</ref>) als Vertreter für Syrien an der Spitze der Organisation IS. Der am 18.&nbsp;August 2015 in der Stadt Mossul durch einen Drohnenangriff getötete Fadel al-Hayali („[[Abu Muslim al-Turkmani]]“) war bis zu diesem Zeitpunkt al-Baghdadis Stellvertreter im Irak.<ref>[http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-islamischer-staat-bestaetigt-toetung-seines-vizechefs-a-1057657.html ''„Islamischer Staat“ bestätigt Tötung seines Vizechefs.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 13. Oktober 2015.</ref> Fünf „Gouverneure“ herrschen in Syrien, sieben weitere im Irak. Die Führung des IS besteht aus neun Räten: dem Führungsrat, dem [[Schūrā]]-Rat, dem Rechtsrat, dem Sicherheitsrat, dem Hilfsrat für Kämpfer, dem Militärrat, dem Geheimdienstrat, dem Medienrat und dem Finanzrat.<ref>Christoph Sydow: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/is-islamischer-staat-kalif-abu-bakr-al-baghdadi-und-die-is-spitze-a-993128.html ''Organigramm des Terrors.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 24. September 2014.</ref><ref name="diewelt20092014">Alfred Hackensberger: [https://www.welt.de/politik/ausland/article132433112/Das-Organigramm-des-Terrorkalifats.html ''Das Organigramm des Terrorkalifats''] In: ''[[Die Welt]]'', 20. September 2014.</ref>


Dokumente, die laut Angaben des Spiegel vom getöteten IS-Chefstrategen [[Hadschi Bakr]] stammen, legen nahe, dass es neben der oben beschriebenen Führungsstruktur eine parallele Geheim- bzw. Geheimdienststruktur gibt.<ref name="spon19042015" /> An deren Spitze steht das [[klandestin]]e Gremium ''Ahl al-Hall wa-l-ʿAqd'', das angeblich die tatsächlich relevanten Entscheidungen trifft. Im historischen [[Kalifat]] hatte ein Gremium dieses Namens die Aufgabe, den Kalifen zu wählen oder abzusetzen.<ref>[http://www.oxfordislamicstudies.com/article/opr/t125/e73?_hi=0&_pos=18 ''Ahl al-Hall wa’l-Aqd.''] In: ''Oxford Islamic Studies.'', abgerufen am 21. April 2015.</ref> Der Spiegel-Quelle zufolge haben Hadschi Bakr und dessen irakische Geheimdienstclique al-Baghdadi im Jahr 2010 tatsächlich als religiösen Frontmann an die Spitze des IS gebracht. Wie viel Macht der Kalif tatsächlich habe, sei daher unklar.
=== Frankfurter Schule ===


Von 25 Personen des obersten Führungskaders des IS waren 17 ab 2004 im US-amerikanischen Gefängnis [[Camp Bucca]] im Südirak inhaftiert.<ref>Martin Chulov: [https://www.theguardian.com/world/2014/dec/11/-sp-isis-the-inside-story ''Isis: the inside story.''] In: ''[[The Guardian]]'', 11. Dezember 2014 (englisch).</ref><ref>Raniah Salloum: [http://www.spiegel.de/politik/ausland/is-islamischer-staat-anfuehrer-kennen-sich-aus-us-gefaengnis-a-1000908.html ''Die Knastbrüder von Camp Bucca.''] In: ''[[Spiegel Online]]'', 5. November 2014.</ref> Durch die Zusammenlegung radikaler Dschihadisten, Militärs und Geheimdienstoffiziere in gemeinsame Zellenblöcke wurde nach Ansicht von westlichen Kommentatoren ein „verhängnisvoller Fehler“ begangen. Dort erfolgte die Anwerbung erfahrener Militärs der irakischen Armee für den Islamischen Staat. Irakische Beobachter sprechen in diesem Zusammenhang von der „Akademie Bucca“.<ref>Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren.'' S. 316.</ref>
[[Max Horkheimer]] und [[Theodor W. Adorno]], die Begründer der [[Frankfurter Schule]], übernahmen und erweiterten das Konzept der Marx’schen Ideologiekritik (Kapitel ''[[Kulturwirtschaft|Kulturindustrie]]'' in der ''[[Dialektik der Aufklärung]],'' 1947). Anknüpfend an Georg Lukács’ [[Verdinglichung]]sthese sahen sie in [[Warenfetisch]] und kapitalistischem Tauschprinzip die Quellen des gesellschaftlich erzeugten [[Verblendungszusammenhang]]s. Ideologie ist für sie objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, in dem sich Wahres und Unwahres verschränke, da Ideologie auf die Idee der Gerechtigkeit als [[Apologetik|apologetische]] Notwendigkeit nicht verzichten könne. So verdecke das Grundmodell bürgerlicher Ideologie, der „[[Äquivalenztausch|gerechte Tausch]]“, dass im kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis nur scheinbar Vergleichbares getauscht werde.<ref>Institut für Sozialforschung: ''Soziologische Exkurse.'' Stichwort: ''XII Ideologie.'' Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1956, S. 168.</ref> In der Kulturindustrie nehme die Ideologie die Form des „Massenbetrugs“ an. Ein Veralten der Ideologie konstatierten die Frankfurter Ideologiekritiker für die Phase des postliberalen [[Spätkapitalismus]] und des [[Faschismus]]. Im Spätkapitalismus würden die faktischen Verhältnisse zu ihrer eigenen Ideologie,<ref>„Dasein wird zu seiner eigenen Ideologie“, heißt es in der ''Dialektik der Aufklärung.'' In: Max Horkheinmer, Theodor W. Adorno: ''Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.'' In: Theodor W. Adorno: ''Gesammelte Schriften.'' Band 3, 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 301.</ref> das heißt die Realität rechtfertigt sich durch ihr So-und-nicht-anders-Sein.<ref>„Wo diese [die Ideologie] zum Seienden nicht mehr als Rechtfertigendes oder Komplementäres hinzugefügt wird, sondern in den Schein übergeht, was ist, sei unausweichlich und damit legitimiert, zielt Kritik daneben, die mit der eindeutigen Kausalrelation von Überbau und Unterbau operiert.“ Theodor W. Adorno: ''Negative Dialektik.'' In. ders.: ''Gesammelte Schriften.'' Band 6, 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 264f.</ref> Da der Faschismus in seinen Proklamationen auf jeden Wahrheitsanspruch verzichte, an dem Ideologie entlarvt werden könnte, triumphiere in seinem Herrschaftsbereich der blanke Zynismus des Machtstaates.
{{Zitat|Die US-Besatzer im Irak hatten ein tragisches Talent dafür, sich […]  ihre intelligentesten Feinde selbst zu schaffen und zu vereinen.|Christoph Reuter.<ref name="spon19042015" />}}


== Streitkräfte des IS ==
Ideologiekritik ist nach Adorno [[bestimmte Negation]] im Hegelschen Sinn, „Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung und hat zur Voraussetzung die Unterscheidung des Wahren und Unwahren im Urteil wie den Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten“<ref>Theodor W. Adorno: ''Beitrag zur Ideologienlehre.'' In: ders.: ''Gesammelte Schriften.'' Band 8: ''Soziologische Schriften I.'' 3. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 466.</ref>
=== Truppenstärke ===
Schätzungen des [[Außenministerium der Vereinigten Staaten|US-Außenministeriums]] vom Mai 2013 bezifferten die [[Truppenstärke]] des IS im Irak mit 1000 bis 2000 Mann.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.state.gov/j/ct/rls/crt/2012/209989.htm |titel=Country Reports on Terrorism 2012 |titelerg=Chapter 6 Foreign Terrorist Organizations |autor=Office of the Coordinator for Counterterrorism |hrsg=United States Department of State |datum=2013-05-30 |zugriff=2013-09-28}}</ref> Schätzungen eines Irak-Experten der [[Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit|Friedrich-Naumann-Stiftung]] vom Juni 2014 gehen jedoch von einer Stärke von 10.000 bis zu 15.000 Mann aus.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.tagesschau.de/ausland/irak-isis-102.html |titel=Irak-Experte Walde zum Machtkampf: „Bagdad ist auf der Kippe“ |autor=tagesschau.de |hrsg=ARD |datum=2014-06-12 |zugriff=2014-06-13}}</ref> In Syrien wurde die Anzahl der Kämpfer des IS je nach Quelle auf 3000 bis 8000 geschätzt.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.foreignpolicy.com/articles/2013/10/04/everyone_is_scared_of_isis_syria_rebels?page=full |archiv-url=https://web.archive.org/web/20131007160851/http://www.foreignpolicy.com/articles/2013/10/04/everyone_is_scared_of_isis_syria_rebels?page=full |titel='Everyone Is Scared of ISIS.' |autor=James Traub |hrsg=Foreign Policy |datum=2013-10-04 |archiv-datum=2013-10-07 |zugriff=2013-10-05}}</ref><ref name="FP131010">{{Internetquelle |url=http://www.foreignpolicy.com/articles/2013/10/10/al_qaeda_s_syrian_strategy?page=full |titel=Al Qaeda’s Syrian Strategy |autor=Barak Barfi, Aaron Y. Zelin |hrsg=Foreign Policy |datum=2013-10-10 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20131015090000/http://www.foreignpolicy.com/articles/2013/10/10/al_qaeda_s_syrian_strategy?page=full |archiv-datum=2013-10-15 |zugriff=2013-10-11}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-24403003 |titel=Syria crisis: Guide to armed and political opposition |werk=[[BBC News]] |datum=2013-10-17 |zugriff=2013-10-20}}</ref> Im August 2014 berichtete der Leiter der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, von 50.000 Mann, die mittlerweile in Syrien kämpfen – 20.000 davon seien aus dem Ausland,<ref>[http://www.stern.de/politik/ausland/islamischer-staat-immer-mehr-kaempfer-schliessen-sich-der-is-terrormiliz-an-2133384.html Immer mehr Kämpfer schließen sich der IS-Terrormiliz an] 25. August 2014.</ref> laut Schätzungen der EU-Kommission waren 2.000 davon aus Europa.<ref>{{Webarchiv | url=http://www.tagesschau.de/ausland/is-terroristen-eu-101.html | wayback=20150711193940 | text=Die EU als Rekrutierungszentrum für IS}} 28. August 2014.</ref> Der Sprecher des US-Auslandsgeheimdienstes [[Central Intelligence Agency|CIA]], Ryan Trapani, sagte im September 2014, man gehe von 20.000 bis 31.500 Kämpfern aus.<ref>{{Webarchiv | url=http://www.tagesschau.de/ausland/is-mehr-kaempfer-100.html | wayback=20140912134721 | text=IS verfügt über bis zu 31.500 Kämpfer}} 12. September 2014.</ref> Die Zahl der ausländischen Kämpfer beim IS wurde (September 2014) mit etwa 1000 Türken, 2000 Europäern und 100 US-Amerikanern angegeben. Die [[Tunesien|tunesische]] Regierung ging im Oktober 2014 von 2400 bis 3000 Tunesiern beim IS aus. Ein UNO-Bericht vom 29. September 2014 berichtet von 15.000 Kämpfern aus 80 Ländern. Ende Dezember 2014 wurden 550 Deutsche beim IS gezählt.<ref>Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren.'' S. 320.</ref> Bis Mitte 2015 wurden mindestens 20.000 Ausländer aus über 100 Ländern vermutet, unter den ausländischen Dschihadisten 3000 Tunesier, 2500 Saudis, 1400 Franzosen, jeweils 700 Deutsche und Briten, 400 Belgier und 220 Österreicher. Obwohl bei Luftschlägen der Anti-IS-Allianz bis Juni 2015 mehr als 10.000 IS-Kämpfer getötet wurden, ist die Kampfkraft des IS intakt geblieben, da monatlich 1000 neue Kämpfer zureisten.<ref>Petra Ramsauer: ''Die Dschihad Generation''. (2015), S. 25–26.</ref>


Im Dezember 2015 veröffentlichte die [[Denkfabrik]] Soufan Group einen Bericht, wonach die meisten ausländischen Kämpfer aus Tunesien (6.000), Saudi-Arabien (2.500), Russland (2.400), der Türkei (2.100) und Jordanien (2.000) stammen. Aus Westeuropa stammen demnach 5.000 Kämpfer, davon 1.700 aus Frankreich, 760 aus Großbritannien, 760 aus Deutschland und 470 aus Belgien. Hinzu kommen jeweils 300 Personen aus Österreich und Schweden. Aus den USA und Kanada kommen insgesamt etwa 280.<ref>[http://soufangroup.com/wp-content/uploads/2015/12/TSG_ForeignFightersUpdate4.pdf http://soufangroup.com/ FOREIGN FIGHTERS: An Updated Assessment of the Flow of Foreign Fighters into Syria and Iraq], abgerufen am 25. Dezember 2015.</ref>
=== Kritischer Rationalismus ===
In seinem Werk ''[[Die offene Gesellschaft und ihre Feinde]]'' kritisiert [[Karl R. Popper]] den [[Totalitarismus|totalitären]] Charakter bestimmter Ideologien, insbesondere des [[Nationalsozialismus]] und des [[Stalinismus]].


Im November 2017 gingen deutsche Sicherheitsbehörden davon aus, dass 950 deutsche Islamisten in das IS-Gebiet ausgereist sind. Von diesen 950 Personen waren zu diesem Zeitpunkt 150 Personen nicht mehr am Leben. Nach einer EU-Studie zogen weltweit 42.000 Menschen aus 120 Ländern ins IS-Gebiet.<ref>[https://www.abendblatt.de/politik/article212572747/Wie-gefaehrlich-sind-die-IS-Rueckkehrer-fuer-Deutschland.html Wie gefährlich sind die IS-Rückkehrer für Deutschland?] Hamburger Abendblatt vom 17. November 2017, abgerufen am 9. Dezember 2017.</ref>
Totalitäre politische Ideologien mit umfassendem Wahrheitsanspruch weisen oftmals Elemente von [[Mythos|Mythen]]<nowiki />bildung, [[Geschichtsklitterung]], Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung konkurrierender Vorstellungen auf. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zusammenbruch des [[Real existierender Sozialismus|real existierenden Sozialismus]] ist die Skepsis gegenüber umfassenden und mit Heilsversprechungen durchsetzten Theoriengebäuden gewachsen, insbesondere wenn sie mit Handlungsaufforderungen oder mit der Unterdrückung abweichender Ideen verbunden sind.
Ideologiekritik im Sinne von [[Karl Popper]] umfasst dabei insbesondere die Analyse folgender Punkte:
* [[Dogma]]tisches Behaupten absoluter Wahrheiten
* Tendenz zur [[Immunisierungsstrategie|Immunisierung]] gegen Kritik
* Vorhandensein von [[Verschwörungstheorie]]n
* [[Utopie|utopische]] Harmonieideale
* die Behauptung von [[Werturteil]]en als Tatsachen.<ref>[[Kurt Salamun]]: ''Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des kritischen Rationalismus.'' In: ''Karl R. Popper und die Philosophie der kritischen Rationalismus: zum 85. Geburtstag von Karl R. Popper.'' (=&nbsp;Studien zur österreichischen Philosophie. Band 14). Verlag Rodopi, 1989, ISBN 90-5183-091-2, S. 263 f.</ref>


Im Februar 2017 schloss sich die Miliz [[Liwa al-Aqsa]] offiziell dem IS an.
=== Ideologientypologie nach Kurt Lenk ===
Der Politikwissenschaftler [[Kurt Lenk]] schlug in seinem Aufsatz ''Zum Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert,'' den er in seinem Buch ''Rechts, wo die Mitte ist'' veröffentlichte, eine Klassifizierung der Ideologien vor. Er unterschied zwischen Rechtfertigungsideologien, Komplementärideologien, Verschleierungsideologien und Ausdrucksideologien.


Gemäß einem Bericht der [[Neue Zürcher Zeitung|NZZ]] vom April 2017 ist aufgrund der großen Zahl an Kämpfern aus dem Kaukasus und Zentralasien [[Russische Sprache|Russisch]] die zweitwichtigste Sprache beim IS.<ref>[https://www.nzz.ch/international/afghanistangespraeche-in-moskau-das-grosse-spiel-mit-den-taliban-ld.1085831 Das «Grosse Spiel» mit den Taliban] NZZ am 14. April 2017</ref>
Unter ''Rechtfertigungsideologien'' verstand Lenk modellbildende Ideologien, die sich auf die gesamten gesellschaftlichen Beziehungen erstrecken. Das zu Grunde liegende Modell ist meist eine auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit pochende Deutung der Realität.
Ideologisch sei ein solches Modell, weil es bestrebt ist, seinerseits ein verbindliches Verständnis von Realität – nicht selten unter dem Anspruch der unangreifbaren Anwendung rationaler Argumente und Argumentationsstrukturen – als einzig „vernünftigerweise“ vertretbares zu etablieren.


=== Inghemasijun ===
Lenk beschrieb demgegenüber ''Komplementärideologien'' als „für jene Gesellschaften lebensnotwendig, in denen der Mehrheit der Menschen ein relativ hohes Maß an Triebverzicht abverlangt werden muss, damit die Reproduktion der Gesellschaften gewährleistet ist.“ Komplementärideologien würden die benachteiligten Gesellschaftsmitglieder vertrösten. Zum einen beinhalte diese Ideologie eine die Realität verleugnende Verheißung auf einen objektiv unmöglichen besseren Zustand. Diese trostspendende Zukunftserwartung soll die eigenständige Interessendurchsetzung der benachteiligten Gesellschaftsmitglieder lähmen und sie zur Gefolgschaft mit ihren Bedrückern verpflichten. Komplementärideologien arbeiten auch mit dem Bezug zur „Ehrlichkeit“, wonach der Zustand der Welt Schicksal sei und menschliches Tun daran nichts ändern könne.
Der IS verfügt über eine militärische Spezial- beziehungsweise Eliteeinheit. [[Jürgen Todenhöfer]] berichtet in seinem Buch „Inside IS – 10 Tage im ‚Islamischen Staat‘“, dass diese für Terroranschläge und andere spezielle Operationen zuständig sei.<ref name="Todenhöfer_Inside_IS">Jürgen Todenhöfer: „Inside IS – 10 Tage im 'Islamischen Staat'“. C. Bertelsmann, München 2015, ISBN 978-3-570-10276-3.</ref> Laut dem deutschen Fernsehsender [[N24]] bereite sich die Inghemasijun (Arabisch: „die, die sich in etwas hinein vertiefen“) genannte Truppe mit einem speziellen Ritual auf ihre Operationen vor. Angeblich wickeln sie sich dabei blaue Tücher um den Kopf, stellten sich in einem Kreis auf und rufen „Sieg oder Märtyrertod“.<ref>[http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/6956234/die--inghemasijun--kommen--um-zu-sterben.html N24: „Die 'Inghemasijun' kommen, um zu sterben“, abgerufen am 6. Februar 2016.]</ref> Die Inghemasijun gilt zudem als die Einheit des IS, welche in den Kämpfen vorangeht. Ihr kommt dabei eine motivierende Funktion zu, da sie die Kampfmoral der nachfolgenden Kämpfer erhöht.<ref name="Todenhöfer_Inside_IS" />


== Kriegsgerät ==
''Verschleierungs- oder Ablenkungsideologien'' seien nach Lenk die Erzeugung von [[Feindbild]]ern, um einer Diskussion über die objektiven Gründe gesellschaftlicher Probleme aus dem Weg zu gehen. Eng angelehnt an diesen Aspekt verwendete er den Begriff ''Ausdrucksideologie.'' Darunter verstand er eine Ideologie, die bei den seelisch tieferen Schichten der Menschen ansetze. Es werde ein Freund-Feind-Bild inszeniert und Behauptungen aufgestellt, an die die Massen fanatisch glauben sollen.
Die Streitkräfte des IS verfügten zeitweise über umfangreiches Kriegsgerät, welches teilweise auf dem Schwarzmarkt gekauft und teilweise bei Beutezügen oder missglückten Waffenlieferungen erbeutet wurde. Die deutsche Tageszeitung [[Handelsblatt]] berichtete im Oktober 2014, dass jede vierte Waffe aus China und jede fünfte aus den USA käme.<ref name="Handelsblatt_28102014">Désirée Linde: [http://www.handelsblatt.com/politik/international/is-miliz-und-ihre-partner-wie-die-terroristen-an-waffen-kommen/10872432.html ''Wie die Terroristen an Waffen kommen.'']&nbsp;In: ''[[Handelsblatt]]'', 28. Oktober 2014.</ref> Insgesamt setzte der IS nach Schätzungen Waffen aus mehr als 25 verschiedenen Ländern ein.<ref name="Vice_11122015">[http://www.vice.com/de/read/der-islamische-staat-kaempft-mit-waffen-aus-deutschland-und-24-anderen-laendern-025 vice.com „Der Islamische Staat kämpft mit Waffen aus 25 Ländern“, abgerufen am 6. Februar 2016.]</ref>


Dazu gehörten laut der deutschen Tageszeitung [[Die Welt]] zum Beispiel schwere Artilleriegeschütze und Panzerabwehrraketen vom Typ [[HOT (Lenkflugkörper)|HOT]] aus der Produktion des deutsch-französischen Herstellers Euromissile und [[MILAN|MILAN-Raketen]].<ref>Florian Flade: [https://www.welt.de/politik/deutschland/article131810645/IS-Terroristen-erbeuten-in-Syrien-deutsche-Raketen.html ''IS-Terroristen erbeuten in Syrien deutsche Raketen.''] In: ''[[Die Welt]]'', 1. September 2014.</ref> Hinzu kommen amerikanische Kampfhubschrauber und Haubitzen des Typs [[M198]].<ref name="Handelsblatt_28102014" /> Zum Arsenal des IS gehören österreichische und russische [[Scharfschützengewehr]]e sowie Maschinengewehre aus Russland, China und Belgien.<ref name="Vice_11122015" />
== Ideologie und Gesellschaft ==
=== Ideologie der Gegenwart ===
Die Gegenwart wird häufig als „nach-“ oder „postideologisches Zeitalter“ bezeichnet, in dem die Subjekte der Gesellschaft vorwiegend realistisch und pragmatisch – also frei von Ideologien – agieren würden.<ref>[[Herfried Münkler]]: ''Mythischer Zauber – Die großen Erzählungen und die Politik.'' In: Otto Depenheuer (Hrsg.): ''Erzählungen vom Staat: Ideen als Grundlage von Staatlichkeit.'' 1. Auflage. VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-18073-1, S. 146.</ref> Der französische Philosoph [[Jean-François Lyotard]] begründet dies mit dem heutigen Wissen über die Unmöglichkeit der Letztbegründung. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte ''(der [[Pluralismus (Politik)|Pluralismus]])'' [[postmoderne]]r, liberal demokratischer Gesellschaften, die sich permanent gegenseitig kontrollieren, verhindert nach dieser populären Auffassung die Bildung von Ideologien. Verfechter dieser Idee verweisen gern auf das Scheitern der großen ideologisch begründeten Systeme in der jüngeren Geschichte (Nationalsozialismus, Kommunismus). Auf diese Weise wird der Begriff ''Ideologie'' allein auf die abwertende [[Konnotation]] beschränkt und die damit assoziierten negativen Bilder legen den Schluss einer ''ideologiefreien'' Gegenwart nahe, die solche Entwicklungen überwunden hat. Durch die Transparenz der Politik, die angeblich keinen Fehler unerkannt lässt und umgehend korrigiert, versprechen die Beteiligten „Wahrheit und Ehrlichkeit“: Begriffe, die in einer Ideologie keinen Platz haben.<ref name="Distelhorst">Lars Distelhorst: ''Leistung: Das Endstadium der Ideologie.'' transcript Verlag, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-7328-2597-4, Abschnitt 7.</ref>


Aus einem Artikel der [[Frankfurter Allgemeine Zeitung|FAZ]] geht hervor, dass der IS über Giftgas verfüge und diese chemische Waffe bereits eingesetzt habe. Demnach stamme das Gift entweder aus einem heimlichen Lager und wurde vom IS erbeutet oder der IS sei in der Lage, es selbst zu produzieren.<ref>[http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/islamischer-staat-soll-chemiewaffen-gegen-syrische-rebellen-eingesetzt-haben-13896799.html ''„Islamischer Staat“ soll Chemiewaffen eingesetzt haben.''] In: ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung]]'', 5. November 2015.</ref>
Mit dieser modernen „Anti-Ideologie“ werden alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (Technologischer [[Fortschritt]], [[Demokratie|demokratische Systeme]], [[Kapitalismus|kapitalistische Gesellschaftsordnung]], stetig zunehmendes [[Wirtschaftswachstum]] u.&nbsp;a.) als „wahr und ehrlich“ legitimiert. Die Philosophen [[Slavoj Žižek]] und [[Herbert Schnädelbach]] weisen jedoch darauf hin, dass solch [[Technokratie|technokratisches]] Denken alles andere als nicht-ideologisch sei: Eine der idealen Grundbedingungen für eine Ideologie sei die Annahme, dass es keine Ideologie gäbe.
{{Zitat
|Text=Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.
|Autor=[[Herbert Schnädelbach]]
|ref=<ref>Lino Klevesath, Holger Zapf (Hrsg.): ''Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie.'' Oldenbourg Verlag, München 2011, ISBN 978-3-486-59653-3, S. 267.</ref>
}}


=== Art und Herkunft von Waffen und Munition ===
Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen: Despoten legitimieren Enteignung, Vertreibung, Gewalt usw. im Bewusstsein ihrer Machtfülle mit offensichtlichen Unwahrheiten. Demgegenüber ist im modernen Pluralismus ein Konsens der gesamten Gesellschaft notwendig: Tatsächlich ideologische Begründungen würden im alltäglichen [[Diskurs]] als unumstößliche Wahrheiten akzeptiert und bestimmten somit ohne offensichtlichen Zwang durch die Politik den [[Sozialer Prozess|sozialen Prozess]]. Je mehr sich die Bürger mit dieser versteckten Ideologie identifizierten, desto weniger brauche der Staat einzugreifen. Vordenker der Kritik dieser „diskursiven, alles durchdringenden, sich sozial organisierenden Ideologie der Gegenwart“ sind vor allem [[Ernesto Laclau]] und [[Chantal Mouffe]].<ref name="Distelhorst" /><ref>Peter Tepe: ''Ideologie.'' Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-019051-9. S. 6, 135–136.</ref>
Nachdem der IS Ende 2017 weitgehend besiegt war, veröffentlichten Forscher der Gruppe [[Conflict Armament Research]] im Dezember 2017 einer Studie, die die Herkunft von Waffen und Munition des IS untersucht.<ref name="conflictarm"/>


Der überwiegende Teil der Waffen des IS waren Baumuster, die von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten noch im [[Kalter Krieg|Kalten Krieg]] vor 1989 entwickelt wurden. Sichergestellt wurden etwa Sturmgewehre und Maschinengewehre aus sowjetischer, chinesischer, polnischer, jugoslawischer, ungarischer und ostdeutscher Fertigung.<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 Seite 95</ref>
=== Ideologie in der Wissenschaft ===
Die Abgrenzung von der Ideologie wurde im Zuge der Aufklärung zu einem Bestandteil der Wissenschaften, die sich im Gegensatz zu Ideologie und Glaube darum bemühen, [[wertfrei]], neutral und [[intersubjektiv]] vorzugehen und die Gültigkeit ihrer Theorien und Hypothesen anhand empirischer [[Erfahrung]]statsachen zu überprüfen ([[Wissenschaftstheorie]], [[Politische Theorie und Ideengeschichte#Empirisch-analytischer Ansatz|Empirisch-analytischer Ansatz]]).


Weiter stellten die Forscher fest, dass der IS einen bedeutenden Teil der Bewaffnung beim Handstreich auf das irakische Mossul 2014 erbeutet hatte. Sichergestellte IS-Munition für Gewehre und Maschinengewehre der Kaliber [[7,62 × 39 mm|7,62×39]] und [[7,62 × 54 mm R|7,62×54]] aus russischer und serbischer Produktion, PG-7T Panzerfaust-Raketen für die [[RPG-7]] aus bulgarischer Fertigung ordneten die Forscher etwa Munitionslieferungen zu, die diese Staaten im Auftrag der Amerikaner vor 2014 legal an den Irak getätigt hatten.<ref name="conflictarm">[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017</ref>
Wissenschaftliche Denkmuster, [[Paradigma|Paradigmen]] bzw. Ideenschulen können auch einen ideologischen und abwehrenden Charakter entwickeln und damit wissenschaftlichen Fortschritt hemmen. [[Thomas Samuel Kuhn|Thomas Kuhn]] analysierte in seinem Buch ''Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen'' wissenschaftliche Paradigmen auch unter dem Aspekt als konkurrierende Ideenschulen. Diese legen fest:


Weiter stellte sich bei den Nachforschungen heraus, dass [[AT-4 Spigot|9M111 MB-1]] Lenkwaffen und PG-7T Raketen, die aus Lieferungen stammten, die von den USA ab 2015 in Bulgarien angekauft wurden, im Irak vom IS eingesetzt wurden. Weiter wurden Chargen rumänischer [[SPG-9|PG-9]] Raketen und rumänischer [[12,7 × 108 mm|12,7×108]] Munition vom IS eingesetzt, die das US-Verteidigungsministerium 2015 angekauft hatte. Die Forscher nehmen an, dass die Waffen einer der Freien Syrischen Armee zugeordneten Gruppe zuvor von den USA geliefert wurden und dann dem IS zufielen.<ref name="conflictarm"/> Weiter wurden Raketen, die Bulgarien 2014 unter dem Vorbehalt einer [[Endverbleibserklärung]] an Saudi-Arabien exportiert hatte, im Februar 2016 in [[Ramadi]] vom IS eingesetzt. Weitere Raketen aus der Charge, wurden im September 2017 bei Mossul noch in Originalverpackung von irakischen Soldaten vom IS erbeutet.<ref name="conflictarm"/> Weiter wurden Waffen und Munition bei IS Kämpfern gefunden, die zuvor Katar an Gruppen in Libyen geliefert hatte und solche, die von Belgien vor Jahrzehnten an die pakistanische Armee geliefert wurden. Modernere Gewehre der chinesischen [[Norinco CQ]] Serie im NATO-Kaliber 5,56×45 mm wurden bei IS Kämpfern in Kobane gefunden, es liess sich jedoch nicht aufklären, wie die Waffen mit unkenntlich gemachten Seriennummern zum IS gelangt waren.<ref name="conflictarm"/>
* was beobachtet und überprüft wird
* die Art der Fragestellungen in Bezug auf ein Thema
* die Interpretationsrichtung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchung


Nachweislich aus türkischen Beständen stammten geringe Mengen an IS Panzerfäusten, Maschinengewehren, Mörsergranaten und 5,56×45 mm Munition. Letztere war von Bosnien an die Türkei geliefert worden.<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 69</ref> Chemikalien, die der IS zur Herstellung von Sprengstoff nutzte, wurden an mehreren Orten in Syrien und dem Irak sichergestellt. Das verwendete [[Aluminium]]-Pulver stammte ausschliesslich von Vertriebsstellen in der Türkei,<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 98</ref> ebenso die Säcke mit sichergestelltem [[Ammoniumnitrat]]<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 103</ref> und solche mit [[Kaliumnitrat]]. Ursprünglich waren alle diese Chemikalien für den Verkauf innerhalb der Türkei produziert worden.<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 108 ff</ref> Sprengkapseln aus indischer Produktion wurden 2015 in Kobane beim IS gefunden, die zu einer Lieferung von drei Millionen Zündern gehörten, für die 2014 eine Behörde des Libanon die Importlizenz ausgestellt hatte.<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 134</ref>
Von einzelnen [[Wissenschaftstheorie|Wissenschaftstheoretikern]] (u.&nbsp;a. [[Bruno Latour]]) wird die Entgegensetzung von Ideologie und objektiver Wissenschaft als Machtmechanismus und Verschleierungstechnik betrachtet. Diese Position wird von Kritikern allerdings wiederum als zur totalen Irrationalität führend heftig kritisiert ([[Sokal-Affäre]]).


Improvisierte Giftgasbomben auf Basis von [[Aluminiumphosphid]] wurden in IS Werkstätten im Irak sichergestellt.<ref>[http://www.conflictarm.com/download-file/?report_id=2568&file_id=2574 "WEAPONS OF THE ISLAMIC STATE"] conflictarm.com vom Dezember 2017 S. 121 ff</ref>
Auch wenn [[Naturwissenschaft]]en ideologiefrei sein können, gilt dies nicht unbedingt für [[Gesellschaftswissenschaft]]en. So finden sich beispielsweise in der [[Ethnologie|Völkerkunde]] und den [[Sozialwissenschaften]] um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etliche Beispiele für ideologisch geprägte Vorstellungen. Sehr deutlich wird dies bei den [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistischen]] Schulen, die [[Rassismus|rassistischen]] Ideen mit ihren Aufzeichnungen über angeblich „unterentwickelte [[Naturvölker]]“ nährten.


== Zu weiteren Themen siehe auch ==
Einen Sonderfall stellt nach [[Hans Albert]] das Fach [[Wirtschaftswissenschaft|Ökonomie]] dar. Da die [[Volkswirtschaftslehre]] sich u.&nbsp;a. mit der Frage beschäftigt, wie die gesellschaftliche Arbeit möglichst optimal organisiert, gesteuert oder beeinflusst werden kann, muss der einzelne Wissenschaftler auch einen Standpunkt zur Frage haben, was gut für die [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] ist. Das ist, bedingt durch unterschiedliche Partialinteressen, zwangsläufig immer eine ideologische Position.<ref>[http://books.google.ch/books?id=ks9aBKF62HkC&printsec=frontcover&dq=%C3%96konomische+Theorie+als+politische+Ideologie&hl=fr&sa=X&ei=LjrLUueJFMK2hQfQqoCoCA&ved=0CDEQ6AEwAA#v=onepage&q=%C3%96konomische%20Theorie%20als%20politische%20Ideologie&f=false books.google.ch]</ref>
* {{WikipediaDE|Islamischer Staat (Organisation)}}
 
=== Ideologie und Politik ===
{{WikipediaDE|Politische Ideologie}}
Politik ist immer mit Ideologie verbunden, eine unideologische, rein [[Technokratie|technokratische]] Politik ist realitätsfremd. Politische Programme basieren auf bestimmten Wertesystemen.<ref>[[Klaus von Beyme]]: ''Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien: 1789–1945.'' VS Verlag, 2002, ISBN 3-531-13875-8, S. 49.</ref> Die grundlegenden politischen Ideologien sind [[Liberalismus]] (Betonung der Freiheit auf Grundlage der Marktwirtschaft), [[Sozialismus]] (Betonung der Gleichheit) und [[Konservatismus]] (Betonung von gesellschaftlichen Traditionen).
 
Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation findet sich häufig im politischen [[Diskurs]]. Damit wird unterstellt, dass ein Standpunkt deswegen nicht stichhaltig sei, weil er auf einer politischen Ideologie basiere. Der eigene Standpunkt wird demgegenüber implizit oder explizit so dargestellt, dass er auf einer nüchternen Analyse der [[Wahrheit]], dem [[Gesunder Menschenverstand|gesunden Menschenverstand]] oder auf einer nicht in Frage zu stellende [[Ethik]] beruhen würde. Dies könnte indes die jeweilige Gegenseite in vielen Fällen mit dem gleichen Recht für sich in Anspruch nehmen. Unausgesprochene [[Ideologem]]e (einzelne Elemente einer Ideologie) beherrschen oft die politische Debatte, ohne dass dies in der Diskussion immer bewusst wird.
 
=== Ideologie und Religion ===
Als analytische Kategorie findet neben dem Begriff der ''politischen Ideologie'' ebenso der Begriff der ''religiösen Ideologie'' Anwendung in der Wissenschaft. Eine religiöse Ideologie ist eine Ideologie mit [[Transzendenz|transzendentem]] Bezug, die das Konzept einer Gesamt[[existenz]] von [[Person]] und [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] umfasst und [[Integration (Soziologie)|Integrations]]- sowie Bindungskräfte in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen entwickeln kann.<ref name="Erberhard216">Winfried Eberhard: ''Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen.'' Oldenbourg, München 1985, ISBN 3-486-51881-X, S. 215 f.</ref> Die Entstehung einer religiösen Ideologie kann insbesondere darin begründet sein, dass in Verbindung mit einer [[Opposition (Politik)|oppositionellen]] politischen Haltung „[[Konfession]]“ eine bedeutsame Rolle zu spielen beginnt.<ref name="Erberhard216" /> Als populäre Beispiele für religiöse Ideologien werden in der Literatur Bezüge zu den [[Weltreligion]]en hergestellt<ref>Andreas Kött: ''Systemtheorie und Religion: mit einer Religionstypologie im Anschluss an Niklas Luhmann.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2575-X. S.353–345.</ref> und insbesondere der [[Protestantismus]]<ref>James Samuel Coleman: ''Grundlagen der Sozialtheorie''. Band 2: ''Körperschaften und die moderne Gesellschaft.'' Oldenbourg, München 1992, ISBN 3-486-55909-5, S. 214.</ref> und der [[Katholizismus]]<ref>Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: ''Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit''. Band 12: ''Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau.'' Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-465-04047-7, S. 241; [[Joachim Bahlcke]], Rudolf Grulich (Hrsg.): ''Katholische Kirche und Kultur in Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen''. Münster/ Berlin u.&nbsp;a. 2005, ISBN 3-8258-6687-4, S. 110 f.</ref> als religiöse Ideologien bezeichnet; unabhängig davon, ob die ursprünglichen Motive politisch gewesen sind. Gemeint ist mit einer derartigen Kennzeichnung jeweils nicht eine Religion als Gesamtphänomen, sondern eine bestimmte religiöse und politische Lehre, die eine religiöse Bewegung zur Folge haben kann. In allgemeiner Hinsicht wird der Begriff religiöse Ideologie auch in Zusammenhang mit der [[Orthodoxie]]<ref>Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: ''Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit''. Band 12: ''Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau.'' Frankfurt am Main 2008, S. 19 und 241.</ref> und dem [[Fundamentalismus]] gebracht.<ref>[[Stefan von Hoyningen-Huene]]: ''Religiosität bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen''. Münster/ Hamburg 2003, ISBN 3-8258-6327-1, S. 49. (Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2002.)</ref>
 
Der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt, der den Begriff politische Ideologie als Fundamentalismus zu fassen versuchte, stellte den traditionalistischen Aspekt von spezifischen religiösen Strömungen innerhalb von [[Religion]]en als ein gemeinsames Merkmal heraus. Er schrieb: „Es wird der Anspruch erhoben, zu den ursprünglichen Quellen der eigenen [[Tradition]] zurückzukehren und sie von den Verfälschungen ihrer historischen Entwicklung zu befreien, die zumeist als ein [[Degeneration]]sprozess begriffen wird.“<ref name="HildebrandtAPuZ">Mathias Hildebrandt: ''Krieg der Religionen?'' In: ''[[Aus Politik und Zeitgeschichte]]''. Ausg. 6 (2007).</ref> Einher ginge diese Auffassung mit einer „''[[Essenzialismus|Essenzialisierung]] der eigenen Tradition, die den Anspruch erhebt, das wahre [[Wesen (Philosophie)|Wesen]] der eigenen Religion freigelegt zu haben''“. Das Paradoxe bei den religiösen Ideologien sei allerdings, dass im Gegensatz zum Anspruch, zur wahren Lehre zurückzukehren, „''in den meisten Fällen eine moderne religiöse Ideologie''“ entstehe.<ref name="HildebrandtAPuZ" />
 
Neben dem Begriff der religiösen Ideologie hat sich in der [[Religionspolitologie]] der Begriff ''[[politische Religion]]'' durchgesetzt. Der Akzent liegt bei diesem Begriff weder stark auf dem Politischen noch auf dem Religiösen von bestimmten Ideologien. Einerseits wird mit diesem Begriff die enge Verbindung zwischen religiösen und politischen Denkweisen hervorgehoben, andererseits die Verbindung zwischen Ideologien, die sowohl politische als auch religiöse Elemente und politisch-religiöse Bewegungen erfassen.
 
== Die Funktion der Ideologie ==
Ideologie ist – nach Karl Mannheim – „Funktionalisierung der noologischen Ebene“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.</ref> und somit Instrumentalisierung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit oder konkreter noch – nach Roland Barthes – „Verwandlung von Geschichte in Natur.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 129.</ref>
 
Ideologie sichert die eingeforderte Legitimation für die bestehende Ordnung und befriedigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Sinnhaftigkeit, die durch die Religion nicht mehr gewährleistet werden können: „Das Behagliche möchte allzu gern das zufällige Sosein des Alltags, wozu heutzutage romantisierte Gehalte (‚Mythen’) gehören, zum Absoluten hypostatieren und stabilisieren, damit es ihm ja nicht entgleitet. So vollzieht sich die unheimliche Wendung der Neuzeit, dass jene Kategorie des Absoluten, die einst das Göttliche einzufangen berufen war, zum Verdeckungsinstrument des Alltags wird, der durchaus bei sich bleiben möchte.“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.</ref>
 
Andererseits läuft die Ideologie Gefahr, als geschlossenes Sinnsystem einer komplexen Wirklichkeit letztlich nicht gerecht werden zu können und schlussendlich als Welterklärungsmodell zu scheitern. Da „Ideologie immer selbstreferentiell ist, das heißt sich immer durch die Distanznahme zu einem Anderen definiert, den sie als ‚ideologisch’ ablehnt und denunziert“<ref>Slavoj Žižek: ''Die Tücke des Subjekts.'' Frankfurt 2010, S. 492.</ref> löst sie „den Widerspruch des entfremdeten Wirklichen durch eine Amputation, nicht durch eine Synthese“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 150.</ref>
 
Karl Mannheims These von der Funktionalisierung der Erkenntnis  durch die Ideologie ergänzt Roland Barthes durch die Funktionalisierung des Mythos, den die Ideologie instrumentalisiert: „Die Semiologie hat uns gelehrt, dass der Mythos beauftragt ist, historische Intention als Natur zu gründen. Dieses Vorgehen ist genau das der bürgerlichen Ideologie. Wenn unsere Gesellschaft objektiv der privilegierte Bereich für mythische Bedeutung ist, so deshalb, weil der Mythos formal das am besten geeignete Instrument der ideologischen Umkehrung ist, durch die sie definiert wird. Auf allen Ebenen der menschlichen Kommunikation bewirkt der Mythos die Verkehrung der Antinatur in Pseudonatur.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 130.</ref>
 
Die Geschichte des Ideologiebegriffs ist eng verknüpft mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Ideologie nach heutigem Verständnis wird erst möglich nach dem „Verschwinden des göttlichen Bezugspunktes“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 65.</ref> das sich bereits ankündigt mit dem beginnenden Empirismus in Bacons „Idolae“, die als „Götzenbilder“ und „Täuschungsquellen“ den „Weg zur wahren Einsicht versperren“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 58.</ref> Kant – der seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ein Bacon-Zitat über die Idolae voranstellt – stellt dann das traditionelle Seinsverständnis mit der in den vier Antinomien und auch in der transzendentalen Dialektik ständig wiederkehrenden Mahnung, das Epistemische nicht als Ontologisches misszudeuten, endgültig infrage und schafft somit „nachdem die objektiv ontologische Einheit des Weltbildes zerfallen war“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 61.</ref> die Basis für Hegels dialektisches Weltbild, das „nur auf das Subjekt bezogen konzipierbar“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 62.</ref> und nur als „eine im historischen Werden sich transformierende Einheitlichkeit“(ibid.) Gültigkeit beanspruchen konnte. Erst jetzt, nach Beendigung der französischen Revolution, ergibt es einen Sinn, von ''bürgerlicher'' Ideologie oder generell von einem Ideologie''begriff'' zu sprechen, der dann auch sogleich von Napoleon pejorativ auf den eigentlich wertfrei als „Lehre von den Ideen“ von den Spätaufklärern in der Nachfolge Condillacs und der empirischen Tradition aufgebrachten Terminus angewandt wurde. Den wesentlichen Beitrag zum heutigen Ideologieverständnis dürfte schließlich Karl Marx geleistet haben, der im „Elend der Philosophie“ ausführt: „… dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen“.<ref>Karl Marx: ''Das Elend der Philosophie.'' Stuttgart-Berlin 1921, S. 91. Zitiert nach: Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.</ref>
 
Auch wenn Mannheim zunächst versucht, zwischen wertfreien und wertenden Ideologien zu unterscheiden, kommt er doch zu dem Fazit, dass der wertfreie Ideologiebegriff „letzten Endes in eine ontologisch-metaphysische Wertung“ „hinübergleitet“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.</ref> In diesem Zusammenhang spricht Mannheim dann auch vom „falschen Bewußtsein“, das die Ideologie zwangsläufig schafft: „Es sind also in erster Linie überholte und überlebte Normen und Denkformen, aber auch Weltauslegungsarten, die in diese ‚ideologische’ Funktion geraten können und vollzogenes Handeln, vorliegendes inneres und äußeres Sein nicht klären, sondern vielmehr verdecken.“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 84.</ref>
 
Die derart resultierende verkürzte Sicht auf die Realität beklagt Roland Barthes denn auch als „Verarmung des Bewußtseins“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags''. Frankfurt 1976, S. 128.</ref> die durch die Ideologie als bürgerliche geleistet wird: „Es ist die bürgerliche Ideologie selbst, die Bewegung, durch die die Bourgeoisie die Realität der Welt in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur verwandelt.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 129.</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|Islamischer Staat (Organisation)}}
* {{WikipediaDE|ideologie}}
* {{WikipediaDE|Liste von Hinrichtungen durch den IS}}
* {{WikipediaDE|Ideologische Symbolisierung}}
* {{WikipediaDE|Liste terroristischer Ereignisse im Namen des Islamischen Staates}}
* {{WikipediaDE|Ismus}}
* {{WikipediaDE|Abu Bakr al-Baghdadi}} vs {{WikipediaDE|Abu Abdullah ar-Raschid al-Baghdadi}}
* {{WikipediaDE|Menschenbild}}
* {{WikipediaDE|Islamistischer Terrorismus}}
* {{WikipediaDE|Politischer Mythos}}
* {{WikipediaDE|al-Qaida auf der arabischen Halbinsel}}
* {{WikipediaDE|Religionskritik}}
* {{WikipediaDE|al-Qaida im Maghreb}}
* {{WikipediaDE|al-Shabaab (Somalia)}}
* {{WikipediaDE|Jemaah Islamiyah}}
* {{WikipediaDE|Kaukasus-Emirat}}
* {{WikipediaDE|Maktabat al-Himma}}


== Literatur ==
== Literatur ==
* Hassan Abu Hanieh: ''IS und Al-Qaida. Die Krise der Sunniten und die Rivalität im globalen Dschihad''. Deutsch von Günther Orth. Dietz, Bonn 2016, ISBN 978-3-8012-0483-9
* [[Theodor W. Adorno]]: ''Beitrag zur Ideologienlehre''. 1954, In: ''Soziologische Schriften I.'' Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1995, ISBN 3-518-27906-8.
* Wilfried Buchta: ''Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht.'' Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2015, ISBN 978-3-593-50290-8
* [[Louis Althusser]]: ''Ideologie und ideologische Staatsapparate.'' 1977, ISBN 3-87975-109-9.
* Patrick Cockburn: ''The Rise of Islamic State: ISIS and the New Sunni Revolution''.<ref>[https://www.theguardian.com/books/2015/feb/09/rise-of-islamic-state-patrick-cockburn-review-isis-new-sunni-revolution Rezension in The Guardian, 9. Februar 2015]</ref> Verso, London/Brooklyn 2015, ISBN 978-1-78478-040-1
* Hansjörg Bay, Christof Hamann (Hrsg.): ''Ideologie nach ihrem ‚Ende‘: Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne.'' Westdeutscher Verlag, 1995, ISBN 3-322-94214-7.
* Fawaz A. Gerges: ''Isis. A History''. Princeton University Press, Princeton, New Jersey, USA 2016, ISBN 978-0-691-17000-8
* Manuel Becker: ''Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR.'' Bouvier, Bonn 2009, ISBN 978-3-416-03272-8.
* Christoph Günther: ''Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des „Islamischen Staates Irak“''. Ergon, Würzburg 2014, ISBN 978-3-95650-036-7 (in der Schriftenreihe ''Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften.'' Band 28, zugleich Dissertation an der Universität Leipzig 2013)
* Terry Eagleton: ''Ideologie. Eine Einführung.'' Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01783-4.
* Rainer Hermann: ''Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt''. dtv, München 2015, ISBN 978-3-423-34861-4.
* [[Jürgen Habermas]]: ''Wissenschaft und Technik als Ideologie.'' 18. Auflage. 2003, ISBN 3-518-10287-7.
* [https://libcom.org/tags/tristan-leoni Tristan Leoni]: Kalifat und Barbarei – Wie funktioniert der Islamische Staat? Aus dem Französischen von Doc Sportello. bahoe books, Wien 2016, ISBN 978-3-903022-37-9.
* Stuart Hall: ''Ideologie, Identität, Repräsentation.'' Hamburg 2004, ISBN 3-88619-326-8.
* Hamideh Mohagheghi (Hrsg.): ''Frauen für den Dschihad''. Das Manifest der IS-Kämpferinnen; in arabischer und deutscher Sprache. Herder, Freiburg 2015, ISBN 978-3-451-34832-7.
* Gerhard Hauck: ''Einführung in die Ideologiekritik.'' ISBN 3-88619-209-1.
* Loretta Napoleoni: ''Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens.'' Aus dem Englischen von Peter Stäuber. Rotpunktverlag, Zürich 2015, ISBN 978-3-85869-640-3. (Orig.: ''The Islamist Phoenix. The Islamic State and the Redrawing of the Middle East.'' 2014)
* [[Max Horkheimer]]: ''Ideologie und Handeln.'' In: ''Kritische Theorie der Gesellschaft.'' Band IV.
* Petra Ramsauer: ''Die Dschihad Generation. Wie der apokalyptische Kult des islamischen Staats Europa bedroht.'' Styria Verlag, Wien 2015, ISBN 978-3-222-13516-3.
* Hans Kelsen: ''Aufsätze zur Ideologiekritik.'' (mit einer Einl. hrsg. von Ernst Topitsch). Neuwied 1964.
* Christoph Reuter: ''Die schwarze Macht. Der »Islamische Staat« und die Strategen des Terrors.'' Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, ISBN 978-3-421-04694-9.
* Leo Kofler: ''Soziologie des Ideologischen.'' 1975, ISBN 3-17-001958-9.
* Christoph Reuter und Maryam A.: ''Mein Leben im Kalifat. Eine deutsche IS-Aussteigerin erzählt''. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, ISBN 978-3-421-04819-6.
* Jorge A. Larrain: ''The Concept of Ideology (Modern Revivals in Philosophy).'' 1992, ISBN 0-7512-0049-2.
* Behnam T. Said: ''Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden''. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-67210-1. (auch als Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen, Band 1546, Bonn 2015)
* Kurt Lenk (Hrsg.): ''Ideologie – Ideologiekritik und Wissenschaftssoziologie.'' ISBN 3-593-33428-3.
* Bruno Schirra: ''ISIS – Der globale Dschihad. Wie der „Islamische Staat“ den Terror nach Europa trägt.'' Econ, Berlin 2015, ISBN 978-3-430-20193-3.
* Hans-Joachim Lieber: ''Ideologie: eine historisch-systematische Einführung.'' Verlag F. Schöningh, 1985, ISBN 3-506-99232-5.
* Thomas Carl Schwoerer: ''Mit dem IS verhandeln? Neue Lösungen für Syrien und den Terrorismus''. Redline Verlag, München 2016, ISBN 978-3-86881-652-5
* [[Herbert Marcuse]]: ''Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.'' dtv, München 2004, ISBN 3-423-34084-3.
* Guido Steinberg: ''Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror''.<ref>deutschlandfunk.de, ''Andruck'', Susanne El Khafif, 2. März 2015: [http://www.deutschlandfunk.de/neues-buch-ueber-den-is-von-der-terrorgruppe-zur.1310.de.html?dram:article_id=313106 ''Von der Terrorgruppe zur terroristischen Armee'']</ref> [[Knaur]], München 2015, ISBN 978-3-426-78772-4
* Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. 1995, ISBN 3-465-02822-8.
* Jessica Stern, J. M. Berger: ''ISIS: The State of Terror''. HarperCollins, New York City 2015, ISBN 978-0-06-239554-2
* [[Karl Marx]], [[Friedrich Engels]]: in ''Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Die Deutsche Ideologie.'' ISBN 3-05-003837-3.
* Jürgen Todenhöfer: ''Inside IS – 10 Tage im 'Islamischen Staat.' '' 17. Auflage. C. Bertelsmann, München 2015, ISBN 978-3-570-10276-3
* [[Karl Popper]]: ''Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde.'' ISBN 3-16-145951-2 (Band 1), ISBN 3-8252-1725-6 (Band 2).
* Joby Warrick: ''Schwarze Flaggen. Der Aufstieg des IS und die USA''.<ref>[[deutschlandfunk.de]], ''Andruck – Das Magazin für Politische Literatur'', 19. Juni 2017, Susanne El Khafif: [http://www.deutschlandfunk.de/terrorismus-die-geburtshelfer-des-islamischen-staates.1310.de.html?dram:article_id=388709 ''Die Geburtshelfer des „Islamischen Staates“''] (27. Juni 2017)</ref><ref>[[welt.de]], 7. Februar 2017, Marc Reichwein:
* Jan Rehmann: ''Einführung in die Ideologietheorie.'' Hamburg 2008, ISBN 978-3-88619-337-0.
[https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article161853311/So-kam-der-IS-Terror-ueber-uns-und-darum-bleibt-er.html ''So kam der IS-Terror über uns und darum bleibt er''] (27. Juni 2017)</ref> Deutsch von Cornelius Hartz. Theiss, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-8062-3477-0
* Kurt Salamun: ''Ideologie und Aufklärung: Weltanschauungstheorie und Politik.'' Böhlau, 1988, ISBN 3-205-05126-2.
* Michael Weiss, Hassan Hassan: ''ISIS: Inside the Army of Terror.'' Regan Arts 2015, ISBN 978-1-941393-57-4
* Brigitte Schlieben-Lange: ''Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozeß.'' (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7.
* Ernst Topitsch: ''Vom Ursprung und Ende der Metaphysik.'' Wien 1958; ''Gottwerdung und Revolution.'' München 1973; ''Erkenntnis und Illusion.'' Hamburg 1979; ''Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse.'' Tübingen 1990.
* [[Slavoj Žižek]]: ''The Sublime Object of Ideology.'' Verso Books, London/ New York 1989, ISBN 0-86091-256-6.
* [[Slavoj Žižek]] (Hrsg.): ''Mapping Ideology.'' Verso, London/ New York 2012, ISBN 978-1-84467-554-8.


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{Commonscat|Islamic State of Iraq and the Levant|Islamischer Staat im Irak und der Levante}}
{{Wikiquote}}
* Jonathan Masters, Zachary Laub: [http://www.cfr.org/iraq/islamic-state-iraq-syria/p14811 ''Islamic State in Iraq and Syria.''] Council on Foreign Relations.
{{Wiktionary}}
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* David Ignatius: [http://www.theatlantic.com/international/archive/2015/10/how-isis-started-syria-iraq/412042/ ''How ISIS Spread in the Middle East'']. The Atlantic, 29. Oktober 2015.
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* [http://www.politische-bildung.de/islamischer_staat_is-terror.html Islamischer Staat] auf dem Informationsportal zur politischen Bildung


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
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Version vom 25. Januar 2018, 18:18 Uhr

Ideologie (französisch idéologie; zu griechisch ἰδέα idéa „Idee“ und λόγος lógos „Lehre“, „Wissenschaft“ – eigentlich „Ideenlehre“)[1] steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für Weltanschauung. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf Karl Marx zurückgehend das „falsche Bewusstsein“ einer Gesellschaft bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen Wissenssoziologie jedes System von Normen als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden.[2] Seit Marx und Engels bezieht sich der Ideologiebegriff auf „Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern“[3].

Der Ideologiebegriff nach Marx, der im westlichen Marxismus eine zentrale Rolle spielt, geht davon aus, dass das herrschende Selbstbild vom objektiv möglichen Selbstbild der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verschieden ist. Da die materiellen Verhältnisse und Interessen das Denken bestimmen, wird nach Marx die Ideologie der Gesellschaft durch die Interessen dominanter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der Bourgeoisie, beeinflusst, um diese zu rechtfertigen. Durch eine Ideologiekritik kann diesen Interessen entgegengewirkt werden, um im Sinne eines allgemeinen Interesses ein nach dem Stand der Erkenntlichkeit korrektes und vollständiges Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Eine wichtige Weiterentwicklung erfährt die Theorie der Ideologie bei Georg Lukács, der sie mit einer Theorie des Totalitarismus verknüpft: Die vollständige Vereinnahmung des Individuums durch gesellschaftlich organisierte Aktivitäten und Strukturen führt dazu, dass sich das Individuum nur innerhalb dieser Strukturen verstehen kann und somit selbst eine passende Ideologie entwickelt.[4]

In der Wissenssoziologie hat sich Ideologie hingegen als Bezeichnung für ausformulierte Leitbilder sozialer Gruppen oder Organisationen durchgesetzt, die zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns dienen – ihre Ideen, Erkenntnisse, Kategorien und Wertvorstellungen. Sie bilden demnach das notwendige „Wir-Gefühl“, das den inneren Zusammenhalt jeder menschlichen Gemeinschaft gewährleistet.[5] Dieser Ideologie-Begriff wird auch auf die Ideensysteme von politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien etc. angewandt (→ politische Ideologie).

Im gesellschaftlichen Diskurs werden die beiden Ideologiebegriffe oft nicht hinreichend voneinander unterschieden.

Ideengeschichte

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte Antoine Louis Claude Destutt de Tracy den französischen Begriff idéologie als Bezeichnung für das Projekt einer „einheitlichen Wissenschaft der Vorstellungen und Wahrnehmungen“ (science qui traite des idées ou perceptions), das sich auf die Erkenntnistheorie von Condillac berief. Die Idéologistes setzten zur Vorbeugung gegen eine neue Schreckensherrschaft ein pädagogisches Programm der Breitenaufklärung ins Werk.[6] Durch eine publizistische Kampagne von Napoleon Bonaparte wurde diese Schule jedoch als wirklichkeitsfremdes, spekulatives Systemgebäude angegriffen;[7] aus dieser Tradition leitet sich der Begriff der Ideologie als kohärentes Weltbild auf der Basis unzutreffender Prämissen ab. Erst durch Marx und Engels wurde dieser Begriff dann herrschaftskritisch angewandt. Zuvor war der Ausdruck Ideologen im deutschen Sprachraum für eine Orientierung an Ideen (anstatt der Realität), etwa der der Freiheit oder einer republikanischen Verfassung reserviert gewesen.[8]

Der Begriff der Ideologie ist, bis zum Versuch einer funktionalen Beschreibung in der Wissenssoziologie, immer eng mit dem Gedanken Ideologiekritik verbunden. Neben den hier genannten Positionen sind zu den Ideologiebegriffen u.a. einschlägig: Ferdinand Tönnies, Hans Barth, Ernst Topitsch, Hans Albert, Bertrand Russell, Louis Althusser, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Jürgen Habermas.

Vorläufer des modernen Ideologiebegriffes ist die Idolenlehre von Francis Bacon.[9] Schon hier ist die Idee einer Aufdeckung von falschen Vorstellungen entscheidend: Die Reinigung des Denkens von Idolen (Trugbildern) ist für ihn die Voraussetzung von Wissenschaft. Quellen dieser Trugbilder können Tradition, Sprache, Herkunft und Sozialisation sein.

Eine besondere Rolle spielte die Ideologiekritik in der Aufklärung. Zentrales Ziel der Aufklärung war die Befreiung des Bewusstseins der Menschen von Aberglauben, Irrtümern und Vorurteilen, die nach dieser Sichtweise den mittelalterlichen Machthabern zur Legitimation ihrer Herrschaft dienten. Die französischen Materialisten, u. a. Paul Heinrich Dietrich von Holbach und Claude Adrien Helvétius, kritisierten insbesondere die katholische Kirche und bezeichneten deren – ihrer Meinung nach im Interesse der Machterhaltung verbreiteten – Behauptungen als Priesterbetrug. Die Aufklärung verlangte die politische Durchsetzung von Vernunft, Wissenschaft, Demokratie und Menschenrechten.

Die Vorstellung des Aufrechterhaltens von für das Individuum oder die Gesellschaft zuträglichen Irrtümern über Selbst und Welt findet sich auch bei Arthur Schopenhauer, Max Stirner, Friedrich Nietzsche, Vilfredo Pareto (dieser als „Derivation“).

Marxistische Philosophie

Marx und Engels prägten den Ideologiebegriff entscheidend

Nach dem sozialistischen Utopisten Saint Simon griffen Mitte des 19. Jahrhunderts Marx und Engels den seit Napoleon stigmatisierten Begriff wieder auf. Ideologie wird hier nicht als bewusste Verführung, sondern als ein sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ergebender objektiv notwendiger Schein konzipiert: Aus dem Klassencharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich nach Marx die Tendenz, dass die Gedanken der herrschenden Klasse, die mit den bestehenden Produktionsverhältnissen im Einklang stehen, auch die herrschenden Gedanken in der Gesellschaft sind. In seinem Hauptwerk, Das Kapital, bestimmt Marx den Waren- und Geldfetisch als bestimmende Verkehrungsmomente in der kapitalistischen Produktion. Die Menschen nehmen ihre (arbeitsteiligen) Beziehungen zueinander als Beziehungen zwischen Waren wahr.

Im 20. Jahrhundert wurden von westlichen Marxisten ideologische Momente der Verdinglichung diskutiert, so zum Beispiel von Ernst Bloch (Geist der Utopie, 1918) oder Georg Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923), für dessen Verdinglichungsanalyse die Idee einer ideologischen Verblendung zentral war. Demnach sei Ideologie „notwendig falsches Bewusstsein“. Die Bilder von der Wirklichkeit, die das Subjekt sich schafft, sind von subjektiven Faktoren beeinflusst oder bestimmt. Daher sind sie nicht objektiv, sondern verfälschen die Wirklichkeit.

Antonio Gramsci entwickelt in den Gefängnisheften einen Ideologiebegriff, der Ideologie als „gelebte, habituelle gesellschaftliche Praxis“ versteht.[10] Ideologie ist bei ihm nicht mehr zu reduzieren auf die Ebene des Bewusstseins, sondern umfasst auch Handlungen der Menschen.

Nach Louis Althusser vermitteln Ideologien dem Individuum Bewusstsein und üben über das Individuum Macht aus, z. B. in Verbindung mit sogenannten ideologischen Staatsapparaten. Zudem ermöglichen Ideologien es den Individuen, sich in der Gesellschaft als Subjekte wiederzuerkennen. Ideologie ist nach Althusser nicht nur Manipulation, sondern konstituiert Subjekte – sie verstünden sich trotz bzw. wegen ihrer Unterwerfungen als frei. Ein wichtiger Gedanke von Althusser ist, dass Ideologien unbewusst sind.[11] Ein zentrales Werk für Althussers Ideologietheorie ist sein Essay Ideologie und ideologische Staatsapparate aus dem Jahre 1970.

Frankfurter Schule

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Begründer der Frankfurter Schule, übernahmen und erweiterten das Konzept der Marx’schen Ideologiekritik (Kapitel Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung, 1947). Anknüpfend an Georg Lukács’ Verdinglichungsthese sahen sie in Warenfetisch und kapitalistischem Tauschprinzip die Quellen des gesellschaftlich erzeugten Verblendungszusammenhangs. Ideologie ist für sie objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, in dem sich Wahres und Unwahres verschränke, da Ideologie auf die Idee der Gerechtigkeit als apologetische Notwendigkeit nicht verzichten könne. So verdecke das Grundmodell bürgerlicher Ideologie, der „gerechte Tausch“, dass im kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis nur scheinbar Vergleichbares getauscht werde.[12] In der Kulturindustrie nehme die Ideologie die Form des „Massenbetrugs“ an. Ein Veralten der Ideologie konstatierten die Frankfurter Ideologiekritiker für die Phase des postliberalen Spätkapitalismus und des Faschismus. Im Spätkapitalismus würden die faktischen Verhältnisse zu ihrer eigenen Ideologie,[13] das heißt die Realität rechtfertigt sich durch ihr So-und-nicht-anders-Sein.[14] Da der Faschismus in seinen Proklamationen auf jeden Wahrheitsanspruch verzichte, an dem Ideologie entlarvt werden könnte, triumphiere in seinem Herrschaftsbereich der blanke Zynismus des Machtstaates.

Ideologiekritik ist nach Adorno bestimmte Negation im Hegelschen Sinn, „Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung und hat zur Voraussetzung die Unterscheidung des Wahren und Unwahren im Urteil wie den Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten“[15]

Kritischer Rationalismus

In seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde kritisiert Karl R. Popper den totalitären Charakter bestimmter Ideologien, insbesondere des Nationalsozialismus und des Stalinismus.

Totalitäre politische Ideologien mit umfassendem Wahrheitsanspruch weisen oftmals Elemente von Mythenbildung, Geschichtsklitterung, Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung konkurrierender Vorstellungen auf. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ist die Skepsis gegenüber umfassenden und mit Heilsversprechungen durchsetzten Theoriengebäuden gewachsen, insbesondere wenn sie mit Handlungsaufforderungen oder mit der Unterdrückung abweichender Ideen verbunden sind. Ideologiekritik im Sinne von Karl Popper umfasst dabei insbesondere die Analyse folgender Punkte:

Ideologientypologie nach Kurt Lenk

Der Politikwissenschaftler Kurt Lenk schlug in seinem Aufsatz Zum Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert, den er in seinem Buch Rechts, wo die Mitte ist veröffentlichte, eine Klassifizierung der Ideologien vor. Er unterschied zwischen Rechtfertigungsideologien, Komplementärideologien, Verschleierungsideologien und Ausdrucksideologien.

Unter Rechtfertigungsideologien verstand Lenk modellbildende Ideologien, die sich auf die gesamten gesellschaftlichen Beziehungen erstrecken. Das zu Grunde liegende Modell ist meist eine auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit pochende Deutung der Realität. Ideologisch sei ein solches Modell, weil es bestrebt ist, seinerseits ein verbindliches Verständnis von Realität – nicht selten unter dem Anspruch der unangreifbaren Anwendung rationaler Argumente und Argumentationsstrukturen – als einzig „vernünftigerweise“ vertretbares zu etablieren.

Lenk beschrieb demgegenüber Komplementärideologien als „für jene Gesellschaften lebensnotwendig, in denen der Mehrheit der Menschen ein relativ hohes Maß an Triebverzicht abverlangt werden muss, damit die Reproduktion der Gesellschaften gewährleistet ist.“ Komplementärideologien würden die benachteiligten Gesellschaftsmitglieder vertrösten. Zum einen beinhalte diese Ideologie eine die Realität verleugnende Verheißung auf einen objektiv unmöglichen besseren Zustand. Diese trostspendende Zukunftserwartung soll die eigenständige Interessendurchsetzung der benachteiligten Gesellschaftsmitglieder lähmen und sie zur Gefolgschaft mit ihren Bedrückern verpflichten. Komplementärideologien arbeiten auch mit dem Bezug zur „Ehrlichkeit“, wonach der Zustand der Welt Schicksal sei und menschliches Tun daran nichts ändern könne.

Verschleierungs- oder Ablenkungsideologien seien nach Lenk die Erzeugung von Feindbildern, um einer Diskussion über die objektiven Gründe gesellschaftlicher Probleme aus dem Weg zu gehen. Eng angelehnt an diesen Aspekt verwendete er den Begriff Ausdrucksideologie. Darunter verstand er eine Ideologie, die bei den seelisch tieferen Schichten der Menschen ansetze. Es werde ein Freund-Feind-Bild inszeniert und Behauptungen aufgestellt, an die die Massen fanatisch glauben sollen.

Ideologie und Gesellschaft

Ideologie der Gegenwart

Die Gegenwart wird häufig als „nach-“ oder „postideologisches Zeitalter“ bezeichnet, in dem die Subjekte der Gesellschaft vorwiegend realistisch und pragmatisch – also frei von Ideologien – agieren würden.[17] Der französische Philosoph Jean-François Lyotard begründet dies mit dem heutigen Wissen über die Unmöglichkeit der Letztbegründung. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte (der Pluralismus) postmoderner, liberal demokratischer Gesellschaften, die sich permanent gegenseitig kontrollieren, verhindert nach dieser populären Auffassung die Bildung von Ideologien. Verfechter dieser Idee verweisen gern auf das Scheitern der großen ideologisch begründeten Systeme in der jüngeren Geschichte (Nationalsozialismus, Kommunismus). Auf diese Weise wird der Begriff Ideologie allein auf die abwertende Konnotation beschränkt und die damit assoziierten negativen Bilder legen den Schluss einer ideologiefreien Gegenwart nahe, die solche Entwicklungen überwunden hat. Durch die Transparenz der Politik, die angeblich keinen Fehler unerkannt lässt und umgehend korrigiert, versprechen die Beteiligten „Wahrheit und Ehrlichkeit“: Begriffe, die in einer Ideologie keinen Platz haben.[18]

Mit dieser modernen „Anti-Ideologie“ werden alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (Technologischer Fortschritt, demokratische Systeme, kapitalistische Gesellschaftsordnung, stetig zunehmendes Wirtschaftswachstum u. a.) als „wahr und ehrlich“ legitimiert. Die Philosophen Slavoj Žižek und Herbert Schnädelbach weisen jedoch darauf hin, dass solch technokratisches Denken alles andere als nicht-ideologisch sei: Eine der idealen Grundbedingungen für eine Ideologie sei die Annahme, dass es keine Ideologie gäbe.

„Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.“

Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen: Despoten legitimieren Enteignung, Vertreibung, Gewalt usw. im Bewusstsein ihrer Machtfülle mit offensichtlichen Unwahrheiten. Demgegenüber ist im modernen Pluralismus ein Konsens der gesamten Gesellschaft notwendig: Tatsächlich ideologische Begründungen würden im alltäglichen Diskurs als unumstößliche Wahrheiten akzeptiert und bestimmten somit ohne offensichtlichen Zwang durch die Politik den sozialen Prozess. Je mehr sich die Bürger mit dieser versteckten Ideologie identifizierten, desto weniger brauche der Staat einzugreifen. Vordenker der Kritik dieser „diskursiven, alles durchdringenden, sich sozial organisierenden Ideologie der Gegenwart“ sind vor allem Ernesto Laclau und Chantal Mouffe.[18][20]

Ideologie in der Wissenschaft

Die Abgrenzung von der Ideologie wurde im Zuge der Aufklärung zu einem Bestandteil der Wissenschaften, die sich im Gegensatz zu Ideologie und Glaube darum bemühen, wertfrei, neutral und intersubjektiv vorzugehen und die Gültigkeit ihrer Theorien und Hypothesen anhand empirischer Erfahrungstatsachen zu überprüfen (Wissenschaftstheorie, Empirisch-analytischer Ansatz).

Wissenschaftliche Denkmuster, Paradigmen bzw. Ideenschulen können auch einen ideologischen und abwehrenden Charakter entwickeln und damit wissenschaftlichen Fortschritt hemmen. Thomas Kuhn analysierte in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen wissenschaftliche Paradigmen auch unter dem Aspekt als konkurrierende Ideenschulen. Diese legen fest:

  • was beobachtet und überprüft wird
  • die Art der Fragestellungen in Bezug auf ein Thema
  • die Interpretationsrichtung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchung

Von einzelnen Wissenschaftstheoretikern (u. a. Bruno Latour) wird die Entgegensetzung von Ideologie und objektiver Wissenschaft als Machtmechanismus und Verschleierungstechnik betrachtet. Diese Position wird von Kritikern allerdings wiederum als zur totalen Irrationalität führend heftig kritisiert (Sokal-Affäre).

Auch wenn Naturwissenschaften ideologiefrei sein können, gilt dies nicht unbedingt für Gesellschaftswissenschaften. So finden sich beispielsweise in der Völkerkunde und den Sozialwissenschaften um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etliche Beispiele für ideologisch geprägte Vorstellungen. Sehr deutlich wird dies bei den sozialdarwinistischen Schulen, die rassistischen Ideen mit ihren Aufzeichnungen über angeblich „unterentwickelte Naturvölker“ nährten.

Einen Sonderfall stellt nach Hans Albert das Fach Ökonomie dar. Da die Volkswirtschaftslehre sich u. a. mit der Frage beschäftigt, wie die gesellschaftliche Arbeit möglichst optimal organisiert, gesteuert oder beeinflusst werden kann, muss der einzelne Wissenschaftler auch einen Standpunkt zur Frage haben, was gut für die Gesellschaft ist. Das ist, bedingt durch unterschiedliche Partialinteressen, zwangsläufig immer eine ideologische Position.[21]

Ideologie und Politik

Politische Ideologie - Artikel in der deutschen Wikipedia Politik ist immer mit Ideologie verbunden, eine unideologische, rein technokratische Politik ist realitätsfremd. Politische Programme basieren auf bestimmten Wertesystemen.[22] Die grundlegenden politischen Ideologien sind Liberalismus (Betonung der Freiheit auf Grundlage der Marktwirtschaft), Sozialismus (Betonung der Gleichheit) und Konservatismus (Betonung von gesellschaftlichen Traditionen).

Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation findet sich häufig im politischen Diskurs. Damit wird unterstellt, dass ein Standpunkt deswegen nicht stichhaltig sei, weil er auf einer politischen Ideologie basiere. Der eigene Standpunkt wird demgegenüber implizit oder explizit so dargestellt, dass er auf einer nüchternen Analyse der Wahrheit, dem gesunden Menschenverstand oder auf einer nicht in Frage zu stellende Ethik beruhen würde. Dies könnte indes die jeweilige Gegenseite in vielen Fällen mit dem gleichen Recht für sich in Anspruch nehmen. Unausgesprochene Ideologeme (einzelne Elemente einer Ideologie) beherrschen oft die politische Debatte, ohne dass dies in der Diskussion immer bewusst wird.

Ideologie und Religion

Als analytische Kategorie findet neben dem Begriff der politischen Ideologie ebenso der Begriff der religiösen Ideologie Anwendung in der Wissenschaft. Eine religiöse Ideologie ist eine Ideologie mit transzendentem Bezug, die das Konzept einer Gesamtexistenz von Person und Gesellschaft umfasst und Integrations- sowie Bindungskräfte in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen entwickeln kann.[23] Die Entstehung einer religiösen Ideologie kann insbesondere darin begründet sein, dass in Verbindung mit einer oppositionellen politischen Haltung „Konfession“ eine bedeutsame Rolle zu spielen beginnt.[23] Als populäre Beispiele für religiöse Ideologien werden in der Literatur Bezüge zu den Weltreligionen hergestellt[24] und insbesondere der Protestantismus[25] und der Katholizismus[26] als religiöse Ideologien bezeichnet; unabhängig davon, ob die ursprünglichen Motive politisch gewesen sind. Gemeint ist mit einer derartigen Kennzeichnung jeweils nicht eine Religion als Gesamtphänomen, sondern eine bestimmte religiöse und politische Lehre, die eine religiöse Bewegung zur Folge haben kann. In allgemeiner Hinsicht wird der Begriff religiöse Ideologie auch in Zusammenhang mit der Orthodoxie[27] und dem Fundamentalismus gebracht.[28]

Der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt, der den Begriff politische Ideologie als Fundamentalismus zu fassen versuchte, stellte den traditionalistischen Aspekt von spezifischen religiösen Strömungen innerhalb von Religionen als ein gemeinsames Merkmal heraus. Er schrieb: „Es wird der Anspruch erhoben, zu den ursprünglichen Quellen der eigenen Tradition zurückzukehren und sie von den Verfälschungen ihrer historischen Entwicklung zu befreien, die zumeist als ein Degenerationsprozess begriffen wird.“[29] Einher ginge diese Auffassung mit einer „Essenzialisierung der eigenen Tradition, die den Anspruch erhebt, das wahre Wesen der eigenen Religion freigelegt zu haben“. Das Paradoxe bei den religiösen Ideologien sei allerdings, dass im Gegensatz zum Anspruch, zur wahren Lehre zurückzukehren, „in den meisten Fällen eine moderne religiöse Ideologie“ entstehe.[29]

Neben dem Begriff der religiösen Ideologie hat sich in der Religionspolitologie der Begriff politische Religion durchgesetzt. Der Akzent liegt bei diesem Begriff weder stark auf dem Politischen noch auf dem Religiösen von bestimmten Ideologien. Einerseits wird mit diesem Begriff die enge Verbindung zwischen religiösen und politischen Denkweisen hervorgehoben, andererseits die Verbindung zwischen Ideologien, die sowohl politische als auch religiöse Elemente und politisch-religiöse Bewegungen erfassen.

Die Funktion der Ideologie

Ideologie ist – nach Karl Mannheim – „Funktionalisierung der noologischen Ebene“[30] und somit Instrumentalisierung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit oder konkreter noch – nach Roland Barthes – „Verwandlung von Geschichte in Natur.“[31]

Ideologie sichert die eingeforderte Legitimation für die bestehende Ordnung und befriedigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Sinnhaftigkeit, die durch die Religion nicht mehr gewährleistet werden können: „Das Behagliche möchte allzu gern das zufällige Sosein des Alltags, wozu heutzutage romantisierte Gehalte (‚Mythen’) gehören, zum Absoluten hypostatieren und stabilisieren, damit es ihm ja nicht entgleitet. So vollzieht sich die unheimliche Wendung der Neuzeit, dass jene Kategorie des Absoluten, die einst das Göttliche einzufangen berufen war, zum Verdeckungsinstrument des Alltags wird, der durchaus bei sich bleiben möchte.“[32]

Andererseits läuft die Ideologie Gefahr, als geschlossenes Sinnsystem einer komplexen Wirklichkeit letztlich nicht gerecht werden zu können und schlussendlich als Welterklärungsmodell zu scheitern. Da „Ideologie immer selbstreferentiell ist, das heißt sich immer durch die Distanznahme zu einem Anderen definiert, den sie als ‚ideologisch’ ablehnt und denunziert“[33] löst sie „den Widerspruch des entfremdeten Wirklichen durch eine Amputation, nicht durch eine Synthese“[34]

Karl Mannheims These von der Funktionalisierung der Erkenntnis durch die Ideologie ergänzt Roland Barthes durch die Funktionalisierung des Mythos, den die Ideologie instrumentalisiert: „Die Semiologie hat uns gelehrt, dass der Mythos beauftragt ist, historische Intention als Natur zu gründen. Dieses Vorgehen ist genau das der bürgerlichen Ideologie. Wenn unsere Gesellschaft objektiv der privilegierte Bereich für mythische Bedeutung ist, so deshalb, weil der Mythos formal das am besten geeignete Instrument der ideologischen Umkehrung ist, durch die sie definiert wird. Auf allen Ebenen der menschlichen Kommunikation bewirkt der Mythos die Verkehrung der Antinatur in Pseudonatur.“[35]

Die Geschichte des Ideologiebegriffs ist eng verknüpft mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Ideologie nach heutigem Verständnis wird erst möglich nach dem „Verschwinden des göttlichen Bezugspunktes“[36] das sich bereits ankündigt mit dem beginnenden Empirismus in Bacons „Idolae“, die als „Götzenbilder“ und „Täuschungsquellen“ den „Weg zur wahren Einsicht versperren“[37] Kant – der seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ein Bacon-Zitat über die Idolae voranstellt – stellt dann das traditionelle Seinsverständnis mit der in den vier Antinomien und auch in der transzendentalen Dialektik ständig wiederkehrenden Mahnung, das Epistemische nicht als Ontologisches misszudeuten, endgültig infrage und schafft somit „nachdem die objektiv ontologische Einheit des Weltbildes zerfallen war“[38] die Basis für Hegels dialektisches Weltbild, das „nur auf das Subjekt bezogen konzipierbar“[39] und nur als „eine im historischen Werden sich transformierende Einheitlichkeit“(ibid.) Gültigkeit beanspruchen konnte. Erst jetzt, nach Beendigung der französischen Revolution, ergibt es einen Sinn, von bürgerlicher Ideologie oder generell von einem Ideologiebegriff zu sprechen, der dann auch sogleich von Napoleon pejorativ auf den eigentlich wertfrei als „Lehre von den Ideen“ von den Spätaufklärern in der Nachfolge Condillacs und der empirischen Tradition aufgebrachten Terminus angewandt wurde. Den wesentlichen Beitrag zum heutigen Ideologieverständnis dürfte schließlich Karl Marx geleistet haben, der im „Elend der Philosophie“ ausführt: „… dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen“.[40]

Auch wenn Mannheim zunächst versucht, zwischen wertfreien und wertenden Ideologien zu unterscheiden, kommt er doch zu dem Fazit, dass der wertfreie Ideologiebegriff „letzten Endes in eine ontologisch-metaphysische Wertung“ „hinübergleitet“[41] In diesem Zusammenhang spricht Mannheim dann auch vom „falschen Bewußtsein“, das die Ideologie zwangsläufig schafft: „Es sind also in erster Linie überholte und überlebte Normen und Denkformen, aber auch Weltauslegungsarten, die in diese ‚ideologische’ Funktion geraten können und vollzogenes Handeln, vorliegendes inneres und äußeres Sein nicht klären, sondern vielmehr verdecken.“[42]

Die derart resultierende verkürzte Sicht auf die Realität beklagt Roland Barthes denn auch als „Verarmung des Bewußtseins“[43] die durch die Ideologie als bürgerliche geleistet wird: „Es ist die bürgerliche Ideologie selbst, die Bewegung, durch die die Bourgeoisie die Realität der Welt in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur verwandelt.“[44]

Siehe auch

Literatur

  • Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre. 1954, In: Soziologische Schriften I. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1995, ISBN 3-518-27906-8.
  • Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1977, ISBN 3-87975-109-9.
  • Hansjörg Bay, Christof Hamann (Hrsg.): Ideologie nach ihrem ‚Ende‘: Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Westdeutscher Verlag, 1995, ISBN 3-322-94214-7.
  • Manuel Becker: Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR. Bouvier, Bonn 2009, ISBN 978-3-416-03272-8.
  • Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01783-4.
  • Jürgen Habermas: Wissenschaft und Technik als Ideologie. 18. Auflage. 2003, ISBN 3-518-10287-7.
  • Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Hamburg 2004, ISBN 3-88619-326-8.
  • Gerhard Hauck: Einführung in die Ideologiekritik. ISBN 3-88619-209-1.
  • Max Horkheimer: Ideologie und Handeln. In: Kritische Theorie der Gesellschaft. Band IV.
  • Hans Kelsen: Aufsätze zur Ideologiekritik. (mit einer Einl. hrsg. von Ernst Topitsch). Neuwied 1964.
  • Leo Kofler: Soziologie des Ideologischen. 1975, ISBN 3-17-001958-9.
  • Jorge A. Larrain: The Concept of Ideology (Modern Revivals in Philosophy). 1992, ISBN 0-7512-0049-2.
  • Kurt Lenk (Hrsg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenschaftssoziologie. ISBN 3-593-33428-3.
  • Hans-Joachim Lieber: Ideologie: eine historisch-systematische Einführung. Verlag F. Schöningh, 1985, ISBN 3-506-99232-5.
  • Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. dtv, München 2004, ISBN 3-423-34084-3.
  • Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. 1995, ISBN 3-465-02822-8.
  • Karl Marx, Friedrich Engels: in Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Die Deutsche Ideologie. ISBN 3-05-003837-3.
  • Karl Popper: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde. ISBN 3-16-145951-2 (Band 1), ISBN 3-8252-1725-6 (Band 2).
  • Jan Rehmann: Einführung in die Ideologietheorie. Hamburg 2008, ISBN 978-3-88619-337-0.
  • Kurt Salamun: Ideologie und Aufklärung: Weltanschauungstheorie und Politik. Böhlau, 1988, ISBN 3-205-05126-2.
  • Brigitte Schlieben-Lange: Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozeß. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7.
  • Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Wien 1958; Gottwerdung und Revolution. München 1973; Erkenntnis und Illusion. Hamburg 1979; Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse. Tübingen 1990.
  • Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology. Verso Books, London/ New York 1989, ISBN 0-86091-256-6.
  • Slavoj Žižek (Hrsg.): Mapping Ideology. Verso, London/ New York 2012, ISBN 978-1-84467-554-8.

Weblinks

 Wikiquote: Ideologie – Zitate
 Wiktionary: Ideologie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Duden online: Ideologie
  2. Thomas Blume: „Ideologie“ - Artikel im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie.
  3. https://www.nzz.ch/feuilleton/gender-debatte-feminismus-ist-nicht-das-gegenteil-von-wissenschaft-ld.1307637
  4. Thomas Blume: „Ideologie“ - Artikel im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie.
  5. Dieter Haller: Dtv-Atlas Ethnologie. 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage. dtv, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9, S. 175.
  6. Brigitte Schlieben-Lange: Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozess. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7, S. 3.
  7. NAPOLEON im Journal de Paris, 15 pluviôse an IX [= 4. 2. 1801] 815–817, zit. auch in: A. H. TAILLANDIER: Documents biogr. sur P. C. F. Daunou (Paris 21847) 197f.
  8. U. Dierese, Eintrag: Ideologie (I) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, S. 161–164
  9. Thomas Blume: „Ideologie“ - Artikel im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie.
  10. Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/ Weimar 2000, S. 136.
  11. Louis Althusser: Für Marx. S. 183 ff.
  12. Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Stichwort: XII Ideologie. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1956, S. 168.
  13. „Dasein wird zu seiner eigenen Ideologie“, heißt es in der Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheinmer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 3, 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 301.
  14. „Wo diese [die Ideologie] zum Seienden nicht mehr als Rechtfertigendes oder Komplementäres hinzugefügt wird, sondern in den Schein übergeht, was ist, sei unausweichlich und damit legitimiert, zielt Kritik daneben, die mit der eindeutigen Kausalrelation von Überbau und Unterbau operiert.“ Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In. ders.: Gesammelte Schriften. Band 6, 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 264f.
  15. Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre. In: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. 3. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 466.
  16. Kurt Salamun: Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des kritischen Rationalismus. In: Karl R. Popper und die Philosophie der kritischen Rationalismus: zum 85. Geburtstag von Karl R. Popper. (= Studien zur österreichischen Philosophie. Band 14). Verlag Rodopi, 1989, ISBN 90-5183-091-2, S. 263 f.
  17. Herfried Münkler: Mythischer Zauber – Die großen Erzählungen und die Politik. In: Otto Depenheuer (Hrsg.): Erzählungen vom Staat: Ideen als Grundlage von Staatlichkeit. 1. Auflage. VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-18073-1, S. 146.
  18. 18,0 18,1 Lars Distelhorst: Leistung: Das Endstadium der Ideologie. transcript Verlag, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-7328-2597-4, Abschnitt 7.
  19. Lino Klevesath, Holger Zapf (Hrsg.): Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie. Oldenbourg Verlag, München 2011, ISBN 978-3-486-59653-3, S. 267.
  20. Peter Tepe: Ideologie. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-019051-9. S. 6, 135–136.
  21. books.google.ch
  22. Klaus von Beyme: Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien: 1789–1945. VS Verlag, 2002, ISBN 3-531-13875-8, S. 49.
  23. 23,0 23,1 Winfried Eberhard: Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen. Oldenbourg, München 1985, ISBN 3-486-51881-X, S. 215 f.
  24. Andreas Kött: Systemtheorie und Religion: mit einer Religionstypologie im Anschluss an Niklas Luhmann. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2575-X. S.353–345.
  25. James Samuel Coleman: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 2: Körperschaften und die moderne Gesellschaft. Oldenbourg, München 1992, ISBN 3-486-55909-5, S. 214.
  26. Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit. Band 12: Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau. Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-465-04047-7, S. 241; Joachim Bahlcke, Rudolf Grulich (Hrsg.): Katholische Kirche und Kultur in Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen. Münster/ Berlin u. a. 2005, ISBN 3-8258-6687-4, S. 110 f.
  27. Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit. Band 12: Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau. Frankfurt am Main 2008, S. 19 und 241.
  28. Stefan von Hoyningen-Huene: Religiosität bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Münster/ Hamburg 2003, ISBN 3-8258-6327-1, S. 49. (Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2002.)
  29. 29,0 29,1 Mathias Hildebrandt: Krieg der Religionen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Ausg. 6 (2007).
  30. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.
  31. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1976, S. 129.
  32. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.
  33. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt 2010, S. 492.
  34. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1976, S. 150.
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  36. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 65.
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  39. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 62.
  40. Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Stuttgart-Berlin 1921, S. 91. Zitiert nach: Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.
  41. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.
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  43. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1976, S. 128.
  44. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt 1976, S. 129.


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