Ideologie und Kategorie:Physikochemiker: Unterschied zwischen den Seiten

Aus AnthroWiki
(Unterschied zwischen Seiten)
imported>Joachim Stiller
 
imported>Joachim Stiller
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
Zeile 1: Zeile 1:
'''Ideologie''' (französisch ''idéologie''; zu griechisch ἰδέα ''idéa'' „Idee“ und λόγος ''lógos'' „Lehre“, „Wissenschaft“ – eigentlich „Ideenlehre“)<ref>Duden online: [http://www.duden.de/rechtschreibung/Ideologie ''Ideologie'']</ref> steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für [[Weltanschauung]]. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf [[Karl Marx]] zurückgehend das „falsche Bewusstsein“ einer [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen [[Wissenssoziologie]] jedes System von [[Soziale Norm|Normen]] als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden.<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref> Seit Marx und Engels bezieht sich der Ideologiebegriff auf „Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern“<ref>https://www.nzz.ch/feuilleton/gender-debatte-feminismus-ist-nicht-das-gegenteil-von-wissenschaft-ld.1307637</ref>.
[[Kategorie:Physikochemiker|!]]
 
[[Kategorie:Chemiker nach Fachgebiet]]
Der Ideologiebegriff [[marxistische Philosophie|nach Marx]], der im westlichen Marxismus eine zentrale Rolle spielt, geht davon aus, dass das herrschende Selbstbild vom objektiv möglichen Selbstbild der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verschieden ist. Da die materiellen Verhältnisse und Interessen das Denken bestimmen, wird nach Marx die Ideologie der Gesellschaft durch die Interessen dominanter gesellschaftlicher Gruppen, z. B. der [[Bourgeoisie]], beeinflusst, um diese zu rechtfertigen. Durch eine [[Ideologiekritik]] kann diesen Interessen entgegengewirkt werden, um im Sinne eines allgemeinen Interesses ein nach dem Stand der Erkenntlichkeit korrektes und vollständiges Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Eine wichtige Weiterentwicklung erfährt die Theorie der Ideologie bei [[Georg Lukács]], der sie mit einer Theorie des [[Totalitarismus]] verknüpft: Die vollständige Vereinnahmung des Individuums durch gesellschaftlich organisierte Aktivitäten und Strukturen führt dazu, dass sich das Individuum nur innerhalb dieser Strukturen verstehen kann und somit selbst eine passende Ideologie entwickelt.<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref>
[[Kategorie:Physiker nach Fachgebiet]]
 
In der Wissenssoziologie hat sich ''Ideologie'' hingegen als Bezeichnung für ausformulierte Leitbilder [[Soziale Gruppe|sozialer Gruppen]] oder [[Organisationssoziologie|Organisationen]] durchgesetzt, die zur Begründung und Rechtfertigung ihres Handelns dienen – ihre [[Idee]]n, [[Erkenntnis]]se, [[Kategorisierung (Kognitionswissenschaft)|Kategorien]] und [[Wertvorstellung]]en. Sie bilden demnach das notwendige „[[Kohäsion (Psychologie)|Wir-Gefühl]]“, das den inneren Zusammenhalt jeder menschlichen [[Gemeinschaft]] gewährleistet.<ref>[[Dieter Haller]]: ''Dtv-Atlas Ethnologie.'' 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage. dtv, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9, S. 175.</ref> Dieser Ideologie-Begriff wird auch auf die Ideensysteme von politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien etc. angewandt ''(→ [[politische Ideologie]])''.
 
Im gesellschaftlichen [[Diskurs]] werden die beiden Ideologiebegriffe oft nicht hinreichend voneinander unterschieden.
 
== Ideengeschichte ==
 
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte [[Antoine Louis Claude Destutt de Tracy]] den französischen Begriff ''idéologie'' als Bezeichnung für das Projekt einer „einheitlichen [[Wissenschaft]] der Vorstellungen und Wahrnehmungen“ (''science qui traite des idées ou perceptions''), das sich auf die Erkenntnistheorie von [[Étienne Bonnot de Condillac|Condillac]] berief. Die ''Idéologistes'' setzten zur Vorbeugung gegen eine neue Schreckensherrschaft ein pädagogisches Programm der Breitenaufklärung ins Werk.<ref>[[Brigitte Schlieben-Lange]]: ''Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozess.'' (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7, S. 3.</ref> Durch eine publizistische Kampagne von [[Napoleon Bonaparte]] wurde diese Schule jedoch als wirklichkeitsfremdes, spekulatives Systemgebäude angegriffen;<ref> NAPOLEON im Journal de Paris, 15 pluviôse an IX [= 4. 2. 1801] 815–817, zit. auch in: A. H. TAILLANDIER: Documents biogr. sur P. C. F. Daunou (Paris 21847) 197f.</ref> aus dieser Tradition leitet sich der Begriff der Ideologie als kohärentes Weltbild auf der Basis unzutreffender Prämissen ab. Erst durch Marx und Engels wurde dieser Begriff dann herrschaftskritisch angewandt. Zuvor war der Ausdruck ''Ideologen'' im deutschen Sprachraum für eine Orientierung an Ideen (anstatt der Realität), etwa der der Freiheit oder einer republikanischen Verfassung reserviert gewesen.<ref>U. Dierese, Eintrag: Ideologie (I) in: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'' Bd. 4, S. 161–164</ref>
 
Der Begriff der Ideologie ist, bis zum Versuch einer funktionalen Beschreibung in der Wissenssoziologie, immer eng mit dem Gedanken [[Ideologiekritik]] verbunden.
Neben den hier genannten Positionen sind zu den Ideologiebegriffen u.a. einschlägig:  [[Ferdinand Tönnies]], [[Hans Barth (Philosoph)|Hans Barth]], [[Ernst Topitsch]], [[Hans Albert]], [[Bertrand Russell]], [[Louis Althusser]], [[Theodor W. Adorno]], [[Hannah Arendt]] und [[Jürgen Habermas]].
 
Vorläufer des modernen Ideologiebegriffes ist die [[Idolenlehre]] von [[Francis Bacon]].<ref>{{UTB-Philosophie|Thomas Blume|426|Ideologie}}.</ref> Schon hier ist die Idee einer Aufdeckung von falschen Vorstellungen entscheidend: Die Reinigung des Denkens von ''Idolen'' (Trugbildern) ist für ihn die Voraussetzung von Wissenschaft. Quellen dieser Trugbilder können Tradition, Sprache, Herkunft und Sozialisation sein.
 
Eine besondere Rolle spielte die [[Ideologiekritik]] in der [[Aufklärung]]. Zentrales Ziel der Aufklärung war die Befreiung des Bewusstseins der Menschen von [[Aberglauben]], [[Irrtum|Irrtümern]] und [[Vorurteil]]en, die nach dieser Sichtweise den mittelalterlichen Machthabern zur [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Legitimation]] ihrer [[Herrschaft]] dienten. Die französischen [[Materialismus|Materialisten]], u.&nbsp;a. [[Paul Heinrich Dietrich von Holbach]] und [[Claude Adrien Helvétius]], kritisierten insbesondere die katholische Kirche und bezeichneten deren – ihrer Meinung nach im Interesse der Machterhaltung verbreiteten – Behauptungen als ''[[Priesterbetrug]]''. Die Aufklärung verlangte die politische Durchsetzung von [[Vernunft]], [[Wissenschaft]], [[Demokratie]] und [[Menschenrechte]]n.
 
Die Vorstellung des Aufrechterhaltens von für das Individuum oder die Gesellschaft zuträglichen Irrtümern über Selbst und Welt findet sich auch bei [[Arthur Schopenhauer]], [[Max Stirner]], [[Friedrich Nietzsche]], [[Vilfredo Pareto]] (dieser als „Derivation“).
 
=== Marxistische Philosophie ===
[[Datei:Marx and Engels.jpg|mini|Marx und Engels prägten den Ideologiebegriff entscheidend]]
Nach dem sozialistischen Utopisten [[Henri de Saint-Simon|Saint Simon]] griffen Mitte des 19. Jahrhunderts [[Karl Marx|Marx]] und [[Friedrich Engels|Engels]] den seit Napoleon [[Stigmatisierung|stigmatisierten]] Begriff wieder auf. Ideologie wird hier nicht als bewusste Verführung, sondern als ein sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ergebender objektiv notwendiger Schein konzipiert: Aus dem Klassencharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich nach Marx die Tendenz, dass die Gedanken der herrschenden Klasse, die mit den bestehenden Produktionsverhältnissen im Einklang stehen, auch die herrschenden Gedanken in der Gesellschaft sind. In seinem Hauptwerk, ''[[Das Kapital]]'', bestimmt Marx den [[Warenfetisch|Waren- und Geldfetisch]] als bestimmende Verkehrungsmomente in der kapitalistischen Produktion. Die Menschen nehmen ihre (arbeitsteiligen) Beziehungen zueinander als Beziehungen zwischen Waren wahr.
 
Im 20. Jahrhundert wurden von [[Westlicher Marxismus|westlichen Marxisten]] ideologische Momente der [[Verdinglichung]] diskutiert, so zum Beispiel von [[Ernst Bloch]] (''Geist der Utopie'', 1918) oder [[Georg Lukács]] ''([[Geschichte und Klassenbewußtsein]],'' 1923), für dessen Verdinglichungsanalyse die Idee einer ideologischen Verblendung zentral war. Demnach sei Ideologie „notwendig falsches Bewusstsein“. Die Bilder von der Wirklichkeit, die das [[Subjekt (Philosophie)|Subjekt]] sich schafft, sind von subjektiven Faktoren beeinflusst oder bestimmt. Daher sind sie nicht objektiv, sondern verfälschen die Wirklichkeit.
 
[[Antonio Gramsci]] entwickelt in den ''[[Gefängnishefte]]n'' einen Ideologiebegriff, der Ideologie als „gelebte, habituelle gesellschaftliche Praxis“ versteht.<ref>Terry Eagleton: ''Ideologie. Eine Einführung.'' Stuttgart/ Weimar 2000, S. 136.</ref> Ideologie ist bei ihm nicht mehr zu reduzieren auf die Ebene des Bewusstseins, sondern umfasst auch Handlungen der Menschen.
 
Nach [[Louis Althusser]] vermitteln Ideologien dem Individuum [[Bewusstsein]] und üben über das Individuum Macht aus, z.&nbsp;B. in Verbindung mit sogenannten [[Ideologische Staatsapparate|ideologischen Staatsapparaten]]. Zudem ermöglichen Ideologien es den Individuen, sich in der Gesellschaft als Subjekte wiederzuerkennen. Ideologie ist nach Althusser nicht nur [[Manipulation]], sondern konstituiert Subjekte – sie verstünden sich trotz bzw. wegen ihrer Unterwerfungen als frei. Ein wichtiger Gedanke von Althusser ist, dass Ideologien unbewusst sind.<ref>Louis Althusser: ''Für Marx.'' S. 183 ff.</ref> Ein zentrales Werk für Althussers Ideologietheorie ist sein Essay ''[[Ideologie und ideologische Staatsapparate]]'' aus dem Jahre 1970.
 
=== Frankfurter Schule ===
 
[[Max Horkheimer]] und [[Theodor W. Adorno]], die Begründer der [[Frankfurter Schule]], übernahmen und erweiterten das Konzept der Marx’schen Ideologiekritik (Kapitel ''[[Kulturwirtschaft|Kulturindustrie]]'' in der ''[[Dialektik der Aufklärung]],'' 1947). Anknüpfend an Georg Lukács’ [[Verdinglichung]]sthese sahen sie in [[Warenfetisch]] und kapitalistischem Tauschprinzip die Quellen des gesellschaftlich erzeugten [[Verblendungszusammenhang]]s. Ideologie ist für sie objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein, in dem sich Wahres und Unwahres verschränke, da Ideologie auf die Idee der Gerechtigkeit als [[Apologetik|apologetische]] Notwendigkeit nicht verzichten könne. So verdecke das Grundmodell bürgerlicher Ideologie, der „[[Äquivalenztausch|gerechte Tausch]]“, dass im kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis nur scheinbar Vergleichbares getauscht werde.<ref>Institut für Sozialforschung: ''Soziologische Exkurse.'' Stichwort: ''XII Ideologie.'' Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1956, S. 168.</ref>  In der Kulturindustrie nehme die Ideologie die Form des „Massenbetrugs“ an. Ein Veralten der Ideologie konstatierten die Frankfurter Ideologiekritiker für die Phase des postliberalen [[Spätkapitalismus]] und des [[Faschismus]]. Im Spätkapitalismus würden die faktischen Verhältnisse zu ihrer eigenen Ideologie,<ref>„Dasein wird zu seiner eigenen Ideologie“, heißt es in der ''Dialektik der Aufklärung.'' In: Max Horkheinmer, Theodor W. Adorno: ''Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.'' In: Theodor W. Adorno: ''Gesammelte Schriften.'' Band 3, 2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 301.</ref> das heißt die Realität rechtfertigt sich durch ihr So-und-nicht-anders-Sein.<ref>„Wo diese [die Ideologie] zum Seienden nicht mehr als Rechtfertigendes oder Komplementäres hinzugefügt wird, sondern in den Schein übergeht, was ist, sei unausweichlich und damit legitimiert, zielt Kritik daneben, die mit der eindeutigen Kausalrelation von Überbau und Unterbau operiert.“ Theodor W. Adorno: ''Negative Dialektik.'' In. ders.: ''Gesammelte Schriften.'' Band 6, 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 264f.</ref> Da der Faschismus in seinen Proklamationen auf jeden Wahrheitsanspruch verzichte, an dem Ideologie entlarvt werden könnte, triumphiere in seinem Herrschaftsbereich der blanke Zynismus des Machtstaates.
 
Ideologiekritik ist nach Adorno [[bestimmte Negation]] im Hegelschen Sinn, „Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung und hat zur Voraussetzung die Unterscheidung des Wahren und Unwahren im Urteil wie den Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten“<ref>Theodor W. Adorno: ''Beitrag zur Ideologienlehre.'' In: ders.: ''Gesammelte Schriften.'' Band 8: ''Soziologische Schriften I.'' 3. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 466.</ref>
 
=== Kritischer Rationalismus ===
In seinem Werk ''[[Die offene Gesellschaft und ihre Feinde]]'' kritisiert [[Karl R. Popper]] den [[Totalitarismus|totalitären]] Charakter bestimmter Ideologien, insbesondere des [[Nationalsozialismus]] und des [[Stalinismus]].
 
Totalitäre politische Ideologien mit umfassendem Wahrheitsanspruch weisen oftmals Elemente von [[Mythos|Mythen]]<nowiki />bildung, [[Geschichtsklitterung]], Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung konkurrierender Vorstellungen auf. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zusammenbruch des [[Real existierender Sozialismus|real existierenden Sozialismus]] ist die Skepsis gegenüber umfassenden und mit Heilsversprechungen durchsetzten Theoriengebäuden gewachsen, insbesondere wenn sie mit Handlungsaufforderungen oder mit der Unterdrückung abweichender Ideen verbunden sind.
Ideologiekritik im Sinne von [[Karl Popper]] umfasst dabei insbesondere die Analyse folgender Punkte:
* [[Dogma]]tisches Behaupten absoluter Wahrheiten
* Tendenz zur [[Immunisierungsstrategie|Immunisierung]] gegen Kritik
* Vorhandensein von [[Verschwörungstheorie]]n
* [[Utopie|utopische]] Harmonieideale
* die Behauptung von [[Werturteil]]en als Tatsachen.<ref>[[Kurt Salamun]]: ''Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des kritischen Rationalismus.'' In: ''Karl R. Popper und die Philosophie der kritischen Rationalismus: zum 85. Geburtstag von Karl R. Popper.'' (=&nbsp;Studien zur österreichischen Philosophie. Band 14). Verlag Rodopi, 1989, ISBN 90-5183-091-2, S. 263 f.</ref>
 
=== Ideologientypologie nach Kurt Lenk ===
Der Politikwissenschaftler [[Kurt Lenk]] schlug in seinem Aufsatz ''Zum Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert,'' den er in seinem Buch ''Rechts, wo die Mitte ist'' veröffentlichte, eine Klassifizierung der Ideologien vor. Er unterschied zwischen Rechtfertigungsideologien, Komplementärideologien, Verschleierungsideologien und Ausdrucksideologien.
 
Unter ''Rechtfertigungsideologien'' verstand Lenk modellbildende Ideologien, die sich auf die gesamten gesellschaftlichen Beziehungen erstrecken. Das zu Grunde liegende Modell ist meist eine auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit pochende Deutung der Realität.
Ideologisch sei ein solches Modell, weil es bestrebt ist, seinerseits ein verbindliches Verständnis von Realität – nicht selten unter dem Anspruch der unangreifbaren Anwendung rationaler Argumente und Argumentationsstrukturen – als einzig „vernünftigerweise“ vertretbares zu etablieren.
 
Lenk beschrieb demgegenüber ''Komplementärideologien'' als „für jene Gesellschaften lebensnotwendig, in denen der Mehrheit der Menschen ein relativ hohes Maß an Triebverzicht abverlangt werden muss, damit die Reproduktion der Gesellschaften gewährleistet ist.“ Komplementärideologien würden die benachteiligten Gesellschaftsmitglieder vertrösten. Zum einen beinhalte diese Ideologie eine die Realität verleugnende Verheißung auf einen objektiv unmöglichen besseren Zustand. Diese trostspendende Zukunftserwartung soll die eigenständige Interessendurchsetzung der benachteiligten Gesellschaftsmitglieder lähmen und sie zur Gefolgschaft mit ihren Bedrückern verpflichten. Komplementärideologien arbeiten auch mit dem Bezug zur „Ehrlichkeit“, wonach der Zustand der Welt Schicksal sei und menschliches Tun daran nichts ändern könne.
 
''Verschleierungs- oder Ablenkungsideologien'' seien nach Lenk die Erzeugung von [[Feindbild]]ern, um einer Diskussion über die objektiven Gründe gesellschaftlicher Probleme aus dem Weg zu gehen. Eng angelehnt an diesen Aspekt verwendete er den Begriff ''Ausdrucksideologie.'' Darunter verstand er eine Ideologie, die bei den seelisch tieferen Schichten der Menschen ansetze. Es werde ein Freund-Feind-Bild inszeniert und Behauptungen aufgestellt, an die die Massen fanatisch glauben sollen.
 
== Ideologie und Gesellschaft ==
=== Ideologie der Gegenwart ===
Die Gegenwart wird häufig als „nach-“ oder „postideologisches Zeitalter“ bezeichnet, in dem die Subjekte der Gesellschaft vorwiegend realistisch und pragmatisch – also frei von Ideologien – agieren würden.<ref>[[Herfried Münkler]]: ''Mythischer Zauber – Die großen Erzählungen und die Politik.'' In: Otto Depenheuer (Hrsg.): ''Erzählungen vom Staat: Ideen als Grundlage von Staatlichkeit.'' 1. Auflage. VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-18073-1, S. 146.</ref> Der französische Philosoph [[Jean-François Lyotard]] begründet dies mit dem heutigen Wissen über die Unmöglichkeit der Letztbegründung. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte ''(der [[Pluralismus (Politik)|Pluralismus]])'' [[postmoderne]]r, liberal demokratischer Gesellschaften, die sich permanent gegenseitig kontrollieren, verhindert nach dieser populären Auffassung die Bildung von Ideologien. Verfechter dieser Idee verweisen gern auf das Scheitern der großen ideologisch begründeten Systeme in der jüngeren Geschichte (Nationalsozialismus, Kommunismus). Auf diese Weise wird der Begriff ''Ideologie'' allein auf die abwertende [[Konnotation]] beschränkt und die damit assoziierten negativen Bilder legen den Schluss einer ''ideologiefreien'' Gegenwart nahe, die solche Entwicklungen überwunden hat. Durch die Transparenz der Politik, die angeblich keinen Fehler unerkannt lässt und umgehend korrigiert, versprechen die Beteiligten „Wahrheit und Ehrlichkeit“: Begriffe, die in einer Ideologie keinen Platz haben.<ref name="Distelhorst">Lars Distelhorst: ''Leistung: Das Endstadium der Ideologie.'' transcript Verlag, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-7328-2597-4, Abschnitt 7.</ref>
 
Mit dieser modernen „Anti-Ideologie“ werden alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen (Technologischer [[Fortschritt]], [[Demokratie|demokratische Systeme]], [[Kapitalismus|kapitalistische Gesellschaftsordnung]], stetig zunehmendes [[Wirtschaftswachstum]] u.&nbsp;a.) als „wahr und ehrlich“ legitimiert. Die Philosophen [[Slavoj Žižek]] und [[Herbert Schnädelbach]] weisen jedoch darauf hin, dass solch [[Technokratie|technokratisches]] Denken alles andere als nicht-ideologisch sei: Eine der idealen Grundbedingungen für eine Ideologie sei die Annahme, dass es keine Ideologie gäbe.
{{Zitat
|Text=Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.
|Autor=[[Herbert Schnädelbach]]
|ref=<ref>Lino Klevesath, Holger Zapf (Hrsg.): ''Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie.'' Oldenbourg Verlag, München 2011, ISBN 978-3-486-59653-3, S. 267.</ref>
}}
 
Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen: Despoten legitimieren Enteignung, Vertreibung, Gewalt usw. im Bewusstsein ihrer Machtfülle mit offensichtlichen Unwahrheiten. Demgegenüber ist im modernen Pluralismus ein Konsens der gesamten Gesellschaft notwendig: Tatsächlich ideologische Begründungen würden im alltäglichen [[Diskurs]] als unumstößliche Wahrheiten akzeptiert und bestimmten somit ohne offensichtlichen Zwang durch die Politik den [[Sozialer Prozess|sozialen Prozess]]. Je mehr sich die Bürger mit dieser versteckten Ideologie identifizierten, desto weniger brauche der Staat einzugreifen. Vordenker der Kritik dieser „diskursiven, alles durchdringenden, sich sozial organisierenden Ideologie der Gegenwart“ sind vor allem [[Ernesto Laclau]] und [[Chantal Mouffe]].<ref name="Distelhorst" /><ref>Peter Tepe: ''Ideologie.'' Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-019051-9. S. 6, 135–136.</ref>
 
=== Ideologie in der Wissenschaft ===
Die Abgrenzung von der Ideologie wurde im Zuge der Aufklärung zu einem Bestandteil der Wissenschaften, die sich im Gegensatz zu Ideologie und Glaube darum bemühen, [[wertfrei]], neutral und [[intersubjektiv]] vorzugehen und die Gültigkeit ihrer Theorien und Hypothesen anhand empirischer [[Erfahrung]]statsachen zu überprüfen ([[Wissenschaftstheorie]], [[Politische Theorie und Ideengeschichte#Empirisch-analytischer Ansatz|Empirisch-analytischer Ansatz]]).
 
Wissenschaftliche Denkmuster, [[Paradigma|Paradigmen]] bzw. Ideenschulen können auch einen ideologischen und abwehrenden Charakter entwickeln und damit wissenschaftlichen Fortschritt hemmen. [[Thomas Samuel Kuhn|Thomas Kuhn]] analysierte in seinem Buch ''Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen'' wissenschaftliche Paradigmen auch unter dem Aspekt als konkurrierende Ideenschulen. Diese legen fest:
 
* was beobachtet und überprüft wird
* die Art der Fragestellungen in Bezug auf ein Thema
* die Interpretationsrichtung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchung
 
Von einzelnen [[Wissenschaftstheorie|Wissenschaftstheoretikern]] (u.&nbsp;a. [[Bruno Latour]]) wird die Entgegensetzung von Ideologie und objektiver Wissenschaft als Machtmechanismus und Verschleierungstechnik betrachtet. Diese Position wird von Kritikern allerdings wiederum als zur totalen Irrationalität führend heftig kritisiert ([[Sokal-Affäre]]).
 
Auch wenn [[Naturwissenschaft]]en ideologiefrei sein können, gilt dies nicht unbedingt für [[Gesellschaftswissenschaft]]en. So finden sich beispielsweise in der [[Ethnologie|Völkerkunde]] und den [[Sozialwissenschaften]] um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etliche Beispiele für ideologisch geprägte Vorstellungen. Sehr deutlich wird dies bei den [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistischen]] Schulen, die [[Rassismus|rassistischen]] Ideen mit ihren Aufzeichnungen über angeblich „unterentwickelte [[Naturvölker]]“ nährten.
 
Einen Sonderfall stellt nach [[Hans Albert]] das Fach [[Wirtschaftswissenschaft|Ökonomie]] dar. Da die [[Volkswirtschaftslehre]] sich u.&nbsp;a. mit der Frage beschäftigt, wie die gesellschaftliche Arbeit möglichst optimal organisiert, gesteuert oder beeinflusst werden kann, muss der einzelne Wissenschaftler auch einen Standpunkt zur Frage haben, was gut für die [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] ist. Das ist, bedingt durch unterschiedliche Partialinteressen, zwangsläufig immer eine ideologische Position.<ref>[http://books.google.ch/books?id=ks9aBKF62HkC&printsec=frontcover&dq=%C3%96konomische+Theorie+als+politische+Ideologie&hl=fr&sa=X&ei=LjrLUueJFMK2hQfQqoCoCA&ved=0CDEQ6AEwAA#v=onepage&q=%C3%96konomische%20Theorie%20als%20politische%20Ideologie&f=false books.google.ch]</ref>
 
=== Ideologie und Politik ===
{{WikipediaDE|Politische Ideologie}}
Politik ist immer mit Ideologie verbunden, eine unideologische, rein [[Technokratie|technokratische]] Politik ist realitätsfremd. Politische Programme basieren auf bestimmten Wertesystemen.<ref>[[Klaus von Beyme]]: ''Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien: 1789–1945.'' VS Verlag, 2002, ISBN 3-531-13875-8, S. 49.</ref> Die grundlegenden politischen Ideologien sind [[Liberalismus]] (Betonung der Freiheit auf Grundlage der Marktwirtschaft), [[Sozialismus]] (Betonung der Gleichheit) und [[Konservatismus]] (Betonung von gesellschaftlichen Traditionen).
 
Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation findet sich häufig im politischen [[Diskurs]]. Damit wird unterstellt, dass ein Standpunkt deswegen nicht stichhaltig sei, weil er auf einer politischen Ideologie basiere. Der eigene Standpunkt wird demgegenüber implizit oder explizit so dargestellt, dass er auf einer nüchternen Analyse der [[Wahrheit]], dem [[Gesunder Menschenverstand|gesunden Menschenverstand]] oder auf einer nicht in Frage zu stellende [[Ethik]] beruhen würde. Dies könnte indes die jeweilige Gegenseite in vielen Fällen mit dem gleichen Recht für sich in Anspruch nehmen. Unausgesprochene [[Ideologem]]e (einzelne Elemente einer Ideologie) beherrschen oft die politische Debatte, ohne dass dies in der Diskussion immer bewusst wird.
 
=== Ideologie und Religion ===
Als analytische Kategorie findet neben dem Begriff der ''politischen Ideologie'' ebenso der Begriff der ''religiösen Ideologie'' Anwendung in der Wissenschaft. Eine religiöse Ideologie ist eine Ideologie mit [[Transzendenz|transzendentem]] Bezug, die das Konzept einer Gesamt[[existenz]] von [[Person]] und [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] umfasst und [[Integration (Soziologie)|Integrations]]- sowie Bindungskräfte in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen entwickeln kann.<ref name="Erberhard216">Winfried Eberhard: ''Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen.'' Oldenbourg, München 1985, ISBN 3-486-51881-X, S. 215 f.</ref> Die Entstehung einer religiösen Ideologie kann insbesondere darin begründet sein, dass in Verbindung mit einer [[Opposition (Politik)|oppositionellen]] politischen Haltung „[[Konfession]]“ eine bedeutsame Rolle zu spielen beginnt.<ref name="Erberhard216" /> Als populäre Beispiele für religiöse Ideologien werden in der Literatur Bezüge zu den [[Weltreligion]]en hergestellt<ref>Andreas Kött: ''Systemtheorie und Religion: mit einer Religionstypologie im Anschluss an Niklas Luhmann.'' Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2575-X. S.353–345.</ref> und insbesondere der [[Protestantismus]]<ref>James Samuel Coleman: ''Grundlagen der Sozialtheorie''. Band 2: ''Körperschaften und die moderne Gesellschaft.'' Oldenbourg, München 1992, ISBN 3-486-55909-5, S. 214.</ref> und der [[Katholizismus]]<ref>Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: ''Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit''. Band 12: ''Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau.'' Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-465-04047-7, S. 241; [[Joachim Bahlcke]], Rudolf Grulich (Hrsg.): ''Katholische Kirche und Kultur in Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen''. Münster/ Berlin u.&nbsp;a. 2005, ISBN 3-8258-6687-4, S. 110 f.</ref> als religiöse Ideologien bezeichnet; unabhängig davon, ob die ursprünglichen Motive politisch gewesen sind. Gemeint ist mit einer derartigen Kennzeichnung jeweils nicht eine Religion als Gesamtphänomen, sondern eine bestimmte religiöse und politische Lehre, die eine religiöse Bewegung zur Folge haben kann. In allgemeiner Hinsicht wird der Begriff religiöse Ideologie auch in Zusammenhang mit der [[Orthodoxie]]<ref>Philippe Büttgen, Christian Jouhaud: ''Zeitsprünge. Forschungen zur frühen Neuzeit''. Band 12: ''Lire Michel de Certeau – Michel de Certeau.'' Frankfurt am Main 2008, S. 19 und 241.</ref> und dem [[Fundamentalismus]] gebracht.<ref>[[Stefan von Hoyningen-Huene]]: ''Religiosität bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen''. Münster/ Hamburg 2003, ISBN 3-8258-6327-1, S. 49. (Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2002.)</ref>
 
Der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt, der den Begriff politische Ideologie als Fundamentalismus zu fassen versuchte, stellte den traditionalistischen Aspekt von spezifischen religiösen Strömungen innerhalb von [[Religion]]en als ein gemeinsames Merkmal heraus. Er schrieb: „Es wird der Anspruch erhoben, zu den ursprünglichen Quellen der eigenen [[Tradition]] zurückzukehren und sie von den Verfälschungen ihrer historischen Entwicklung zu befreien, die zumeist als ein [[Degeneration]]sprozess begriffen wird.“<ref name="HildebrandtAPuZ">Mathias Hildebrandt: ''Krieg der Religionen?'' In: ''[[Aus Politik und Zeitgeschichte]]''. Ausg. 6 (2007).</ref> Einher ginge diese Auffassung mit einer „''[[Essenzialismus|Essenzialisierung]] der eigenen Tradition, die den Anspruch erhebt, das wahre [[Wesen (Philosophie)|Wesen]] der eigenen Religion freigelegt zu haben''“. Das Paradoxe bei den religiösen Ideologien sei allerdings, dass im Gegensatz zum Anspruch, zur wahren Lehre zurückzukehren, „''in den meisten Fällen eine moderne religiöse Ideologie''“ entstehe.<ref name="HildebrandtAPuZ" />
 
Neben dem Begriff der religiösen Ideologie hat sich in der [[Religionspolitologie]] der Begriff ''[[politische Religion]]'' durchgesetzt. Der Akzent liegt bei diesem Begriff weder stark auf dem Politischen noch auf dem Religiösen von bestimmten Ideologien. Einerseits wird mit diesem Begriff die enge Verbindung zwischen religiösen und politischen Denkweisen hervorgehoben, andererseits die Verbindung zwischen Ideologien, die sowohl politische als auch religiöse Elemente und politisch-religiöse Bewegungen erfassen.
 
== Die Funktion der Ideologie ==
Ideologie ist – nach Karl Mannheim – „Funktionalisierung der noologischen Ebene“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.</ref> und somit Instrumentalisierung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit oder konkreter noch – nach Roland Barthes – „Verwandlung von Geschichte in Natur.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 129.</ref>
 
Ideologie sichert die eingeforderte Legitimation für die bestehende Ordnung und befriedigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Sinnhaftigkeit, die durch die Religion nicht mehr gewährleistet werden können: „Das Behagliche möchte allzu gern das zufällige Sosein des Alltags, wozu heutzutage romantisierte Gehalte (‚Mythen’) gehören, zum Absoluten hypostatieren und stabilisieren, damit es ihm ja nicht entgleitet. So vollzieht sich die unheimliche Wendung der Neuzeit, dass jene Kategorie des Absoluten, die einst das Göttliche einzufangen berufen war, zum Verdeckungsinstrument des Alltags wird, der durchaus bei sich bleiben möchte.“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.</ref>
 
Andererseits läuft die Ideologie Gefahr, als geschlossenes Sinnsystem einer komplexen Wirklichkeit letztlich nicht gerecht werden zu können und schlussendlich als Welterklärungsmodell zu scheitern. Da „Ideologie immer selbstreferentiell ist, das heißt sich immer durch die Distanznahme zu einem Anderen definiert, den sie als ‚ideologisch’ ablehnt und denunziert“<ref>Slavoj Žižek: ''Die Tücke des Subjekts.'' Frankfurt 2010, S. 492.</ref> löst sie „den Widerspruch des entfremdeten Wirklichen durch eine Amputation, nicht durch eine Synthese“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 150.</ref>
 
Karl Mannheims These von der Funktionalisierung der Erkenntnis  durch die Ideologie ergänzt Roland Barthes durch die Funktionalisierung des Mythos, den die Ideologie instrumentalisiert: „Die Semiologie hat uns gelehrt, dass der Mythos beauftragt ist, historische Intention als Natur zu gründen. Dieses Vorgehen ist genau das der bürgerlichen Ideologie. Wenn unsere Gesellschaft objektiv der privilegierte Bereich für mythische Bedeutung ist, so deshalb, weil der Mythos formal das am besten geeignete Instrument der ideologischen Umkehrung ist, durch die sie definiert wird. Auf allen Ebenen der menschlichen Kommunikation bewirkt der Mythos die Verkehrung der Antinatur in Pseudonatur.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 130.</ref>
 
Die Geschichte des Ideologiebegriffs ist eng verknüpft mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Ideologie nach heutigem Verständnis wird erst möglich nach dem „Verschwinden des göttlichen Bezugspunktes“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 65.</ref> das sich bereits ankündigt mit dem beginnenden Empirismus in Bacons „Idolae“, die als „Götzenbilder“ und „Täuschungsquellen“ den „Weg zur wahren Einsicht versperren“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 58.</ref> Kant – der seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ein Bacon-Zitat über die Idolae voranstellt – stellt dann das traditionelle Seinsverständnis mit der in den vier Antinomien und auch in der transzendentalen Dialektik ständig wiederkehrenden Mahnung, das Epistemische nicht als Ontologisches misszudeuten, endgültig infrage und schafft somit „nachdem die objektiv ontologische Einheit des Weltbildes zerfallen war“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 61.</ref> die Basis für Hegels dialektisches Weltbild, das „nur auf das Subjekt bezogen konzipierbar“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 62.</ref> und nur als „eine im historischen Werden sich transformierende Einheitlichkeit“(ibid.) Gültigkeit beanspruchen konnte. Erst jetzt, nach Beendigung der französischen Revolution, ergibt es einen Sinn, von ''bürgerlicher'' Ideologie oder generell von einem Ideologie''begriff'' zu sprechen, der dann auch sogleich von Napoleon pejorativ auf den eigentlich wertfrei als „Lehre von den Ideen“ von den Spätaufklärern in der Nachfolge Condillacs und der empirischen Tradition aufgebrachten Terminus angewandt wurde. Den wesentlichen Beitrag zum heutigen Ideologieverständnis dürfte schließlich Karl Marx geleistet haben, der im „Elend der Philosophie“ ausführt: „… dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen“.<ref>Karl Marx: ''Das Elend der Philosophie.'' Stuttgart-Berlin 1921, S. 91. Zitiert nach: Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 55.</ref>
 
Auch wenn Mannheim zunächst versucht, zwischen wertfreien und wertenden Ideologien zu unterscheiden, kommt er doch zu dem Fazit, dass der wertfreie Ideologiebegriff „letzten Endes in eine ontologisch-metaphysische Wertung“ „hinübergleitet“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.</ref> In diesem Zusammenhang spricht Mannheim dann auch vom „falschen Bewußtsein“, das die Ideologie zwangsläufig schafft: „Es sind also in erster Linie überholte und überlebte Normen und Denkformen, aber auch Weltauslegungsarten, die in diese ‚ideologische’ Funktion geraten können und vollzogenes Handeln, vorliegendes inneres und äußeres Sein nicht klären, sondern vielmehr verdecken.“<ref>Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 84.</ref>
 
Die derart resultierende verkürzte Sicht auf die Realität beklagt Roland Barthes denn auch als „Verarmung des Bewußtseins“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags''. Frankfurt 1976, S. 128.</ref> die durch die Ideologie als bürgerliche geleistet wird: „Es ist die bürgerliche Ideologie selbst, die Bewegung, durch die die Bourgeoisie die Realität der Welt in ein Bild der Welt, die Geschichte in Natur verwandelt.“<ref>Roland Barthes: ''Mythen des Alltags.'' Frankfurt 1976, S. 129.</ref>
 
== Siehe auch ==
* {{WikipediaDE|ideologie}}
* {{WikipediaDE|Ideologische Symbolisierung}}
* {{WikipediaDE|Ismus}}
* {{WikipediaDE|Menschenbild}}
* {{WikipediaDE|Politischer Mythos}}
* {{WikipediaDE|Religionskritik}}
 
== Literatur ==
* [[Theodor W. Adorno]]: ''Beitrag zur Ideologienlehre''. 1954, In: ''Soziologische Schriften I.'' Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1995, ISBN 3-518-27906-8.
* [[Louis Althusser]]: ''Ideologie und ideologische Staatsapparate.'' 1977, ISBN 3-87975-109-9.
* Hansjörg Bay, Christof Hamann (Hrsg.): ''Ideologie nach ihrem ‚Ende‘: Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne.'' Westdeutscher Verlag, 1995, ISBN 3-322-94214-7.
* Manuel Becker: ''Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im Dritten Reich und in der DDR.'' Bouvier, Bonn 2009, ISBN 978-3-416-03272-8.
* Terry Eagleton: ''Ideologie. Eine Einführung.'' Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01783-4.
* [[Jürgen Habermas]]: ''Wissenschaft und Technik als Ideologie.'' 18. Auflage. 2003, ISBN 3-518-10287-7.
* Stuart Hall: ''Ideologie, Identität, Repräsentation.'' Hamburg 2004, ISBN 3-88619-326-8.
* Gerhard Hauck: ''Einführung in die Ideologiekritik.'' ISBN 3-88619-209-1.
* [[Max Horkheimer]]: ''Ideologie und Handeln.'' In: ''Kritische Theorie der Gesellschaft.'' Band IV.
* Hans Kelsen: ''Aufsätze zur Ideologiekritik.'' (mit einer Einl. hrsg. von Ernst Topitsch). Neuwied 1964.
* Leo Kofler: ''Soziologie des Ideologischen.'' 1975, ISBN 3-17-001958-9.
* Jorge A. Larrain: ''The Concept of Ideology (Modern Revivals in Philosophy).'' 1992, ISBN 0-7512-0049-2.
* Kurt Lenk (Hrsg.): ''Ideologie – Ideologiekritik und Wissenschaftssoziologie.'' ISBN 3-593-33428-3.
* Hans-Joachim Lieber: ''Ideologie: eine historisch-systematische Einführung.'' Verlag F. Schöningh, 1985, ISBN 3-506-99232-5.
* [[Herbert Marcuse]]: ''Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.'' dtv, München 2004, ISBN 3-423-34084-3.
* Karl Mannheim: ''Ideologie und Utopie.'' 8. Auflage. 1995, ISBN 3-465-02822-8.
* [[Karl Marx]], [[Friedrich Engels]]: in ''Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Die Deutsche Ideologie.'' ISBN 3-05-003837-3.
* [[Karl Popper]]: ''Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde.'' ISBN 3-16-145951-2 (Band 1), ISBN 3-8252-1725-6 (Band 2).
* Jan Rehmann: ''Einführung in die Ideologietheorie.'' Hamburg 2008, ISBN 978-3-88619-337-0.
* Kurt Salamun: ''Ideologie und Aufklärung: Weltanschauungstheorie und Politik.'' Böhlau, 1988, ISBN 3-205-05126-2.
* Brigitte Schlieben-Lange: ''Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozeß.'' (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) C. Winter Universitätsverlag, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-0917-7.
* Ernst Topitsch: ''Vom Ursprung und Ende der Metaphysik.'' Wien 1958; ''Gottwerdung und Revolution.'' München 1973; ''Erkenntnis und Illusion.'' Hamburg 1979; ''Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse.'' Tübingen 1990.
* [[Slavoj Žižek]]: ''The Sublime Object of Ideology.'' Verso Books, London/ New York 1989, ISBN 0-86091-256-6.
* [[Slavoj Žižek]] (Hrsg.): ''Mapping Ideology.'' Verso, London/ New York 2012, ISBN 978-1-84467-554-8.
 
== Weblinks ==
{{Wikiquote}}
{{Wiktionary}}
* {{DHI|1=http://xtf.lib.virginia.edu/xtf/view?docId=DicHist/uvaGenText/tei/DicHist2.xml;chunk.id=dv2-60;toc.depth=1;toc.id=dv2-60;brand=default;query=ideology#1|2=Ideology|3=Mostafa Rejai}}
* Herbert Schnädelbach: [http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Schnadelbach_Ideologie.pdf ''Was ist Ideologie? Versuch einer Begriffsklärung.''] (PDF; 421&nbsp;kB) In: ''Das Argument.'' 50/1969.
* {{SEP|http://plato.stanford.edu/entries/law-ideology/|Law and Ideology|Christine Sypnowich}}
* Jochen Vogt: ''Ideologiekritik.'' In: Ders. (Hrsg.): ''Einladung zur Literaturwissenschaft.'' Essen 2003. [https://www.uni-due.de/einladung/index.php?option=com_content&view=article&id=109%3A3-1-ideologiekritik&catid=38%3Akapitel-3&Itemid=53 uni-due.de] abgerufen am 13. Februar 2016.
* Dieter Wolf: [http://www.dieterwolf.net/pdf/Warenfetisch_Geldfetisch_Sein_Bewusstsein.pdf ''Wie der Waren- und Geldfetisch den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein bestimmt.''] (PDF-Datei, 245 KB)
 
== Einzelnachweise ==
<references />
 
{{Normdaten|TYP=s|GND=4026486-5}}
 
[[Kategorie:Ideologie|!]]
[[Kategorie:Politische Philosophie]]
[[Kategorie:Soziologie]]
 
{{Wikipedia}}

Aktuelle Version vom 1. Juni 2022, 00:11 Uhr