Rudolf Steiner, Öffentliche Vorträge und Neurowissenschaften: Unterschied zwischen den Seiten

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* siehe auch -> [[Rudolf Steiner Gesamtausgabe]] und -> [[Rudolf Steiner über die Vortragsnachschriften]]
Als '''Neurowissenschaften''' (seltener auch im Singular: '''Neurowissenschaft''') werden die [[naturwissenschaft]]lichen Forschungsbereiche bezeichnet, in denen Aufbau und Funktionsweise von [[Nervensystem]]en untersucht werden. Aufgrund der vielfältigen verwendeten Methoden wird neurowissenschaftliche Forschung von Wissenschaftlern aus vielen verschiedenen Disziplinen wie etwa [[Physiologie]], [[Psychologie]], [[Medizin]], [[Informatik]], [[Robotik]] oder [[Mathematik]] betrieben.<ref name="Trappenberg">{{Literatur |Autor=Trappenberg, Thomas P.  |Titel=Fundamentals of Computational Neuroscience | Auflage=2|Verlag=Oxford University Press |Ort=Oxford |Datum=2010|ISBN=978-0-19-956841-3}}</ref>


Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts begann Rudolf Steiner «mit dem öffentlichen Mitteilen
Forschungsrichtungen, die hauptsächlich den Aufbau und die Leistungen des [[Gehirn]]s von [[Mensch]]en und [[Affen|Menschenaffen]] ([[Primaten]]) untersuchen, werden umgangssprachlich oftmals unter der Bezeichnung '''Hirn-''' oder '''Gehirnforschung''' zusammengefasst.  
dessen, was Anthroposophie als Wissen von der geistigen Welt enthält». Die Zeichen der Zeit erkennend, brach er mit der
alten Tradition, nach welcher esoterisches Wissen nur in besonderen Stätten an wenige, darauf vorbereitete Persönlichkeiten weitergegeben werden durfte und hielt bis zum Ende seines Lebens hielt viele hundert öffentlicher Vorträge in Deutschland
und anderen europäischen Ländern.


<div style="margin-left:20px">
== Geschichte der Hirnforschung ==
«Ich sah mich vor die Bedingungen des geistigen Lebens der Gegenwart gestellt. Denen gegenüber sind Geheimhaltungen, wie sie
in älteren Zeiten selbstverständlich waren, eine Unmöglichkeit. Wir leben in der Zeit, die Öffentlichkeit will, wo irgend ein Wissen auftritt.» ([[GA 28|«Mein Lebensgang»]])
</div>


<table width="100%">
Funde aus dem [[Ägyptisch-Chaldäische Kultur|frühen Ägypten]] belegen, dass schon vor 5000 Jahren operative Eingriffe in das Zentralnervensystem getätigt wurden. Etwa 70 Prozent der Schädel, bei welchen Hinweise auf derartige Eingriffe vorhanden sind, haben sich nach dem Eingriff biologisch verändert, was darauf hinweist, dass der Patient den Eingriff um Monate oder Jahre überlebt hat.
    <tr>
 
      <td align="left">Bibl.-Nr.</td>
Um 500 v. Chr. soll [[Wikipedia:Alkmaion (Philosoph)|Alkmaion von Kroton]] als Erster die Sehnerven und andere sensorische Nerven entdeckt haben. Alkmaion entwickelte die Vorstellung, dass Nerven hohl seien und ein Medium (''kenon'') umhüllten, das den Sinneseindruck zum Gehirn leitet<ref name="Lloyd1952">Lloyd, 1975.: ''Alcmeon and the early history of dissection'', Sudhoffs Archiv, 59: 113–47</ref>[[Hippokrates von Kos]] (ca. 460–370 v. Chr.) erkannte, dass das Gehirn als Sitz der Empfindung und Intelligenz fungiert. [[Aristoteles]] (384–322 v. Chr.) ging im Gegensatz dazu davon aus, dass die [[Empfindung]]en und der [[Verstand]] ihren Sitz im [[Herz]]en haben; das Gehirn sei nur ein Kühlorgan für das [[Blut]]. Die [[Seele]] ({{ELSalt|ψυχή}}, ''[[Psyche|psychḗ]]'') sei eine eigenständige [[Substanz]], die dem [[leben]]digen [[Körper]] ihre [[Form]] gebe<ref>Aristoteles, Klaus Corcilius (Übers.): ''Über die Seele. De Anima.'' Griechisch-Deutsch, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017, ISBN 978-3-7873-2789-8, Buch II, Kapitel 1, 412<sup>a</sup>20.</ref>. Diese Lehre wurde später von [[Thomas von Aquin]] (um 1225-1274) im [[Christentum|christlichen]] Sinn weiter ausgeführt (''anima unica forma corporis''<ref>Richard Heinzmann: ''Anima unica forma corporis. Thomas von Aquin als Überwinder des platonisch-neuplatonischen Dualismus.'' in: ''Philosophisches Jahrbuch'', 93. Jahrgang 1986, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1986, S. 236ff. [https://epub.ub.uni-muenchen.de/10042/1/10042.pdf]</ref><ref>Tobias Kläden: ''Anima forma corporis. Zur Aktualität der nichtdualistischen Sicht des Menschen bei Thomas von Aquin.'' in: ''Natur und Geist: von der Einheit der Wissenschaften im Mittelalter'', Ostfildern 2008, S. 11-30 [http://www.kamp-erfurt.de/level9_cms/download_user/Gesellschaft/Anima%20forma%20corporis.pdf]</ref>).
      <td align="left">Titel</td>
 
    </tr>
[[Wikipedia:Herophilos von Chalkedon|Herophilos von Chalkedon]] (um 325–255 v. Chr.) führte erste Autopsien durch und beschrieb korrekt die grobe Anatomie des Gehirns. Den Sitz der [[Seelenkräfte]] und der menschlichen [[Intelligenz]] sah er aber nicht im Hirngewebe, sondern in den von ihm erstmals entdeckten drei flüssigkeitsgefüllten  [[Hirnventrikel]]n<ref name="Diels1952">H. Diels, W. Kranz: ''Die Fragmente der Vorsokratiker.'' 6th ed., Band 1, S. 210–216. Weidmann, Dublin, Ireland 1952.</ref>. [[Wikipedia:Erasistratos|Erasistratos]] (um 305–250 v. Chr.) unterschied bereits [[Motorische Nerven|motorische]] und [[sensorische Nerven]] und zählte wegen der Aufteilung des erten Ventrikels in einen rechten und linken Ventrikel vier Hirnventrikel. Die Seele lokalisierte er in den Hirnwindungen bzw. Hirnhäuten<ref>Bernhard D. Haage: ''Ventrikellehre.'' In: [[Wikipedia:Werner E. Gerabek|Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Wikipedia:Gundolf Keil|Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' De Gruyter, Berlin/ New York 2007, ISBN 978-3-11-019703-7, eBook ISBN 978-3-11-097694-6, S. 1439.</ref>
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 51|GA 51]]</td>
Um 129–216 n. Chr. wurden die Funktionen einzelner Nervenbahnen durch [[Galenos|Galen]] und erstmals auch das [[Sympathisches Nervensystem|sympathische Nervensystem]] beschrieben, dessen eigentliche Funktion er aber nicht erfasste. Herophilus folgend nahm er an, dass sich in den Hirnventrikeln eine Substanz befinde, das ''[[pneuma]] psychikon'' (lat. ''spiritus animalis''), welche durch die als hohl angenommenen Nerven einerseits [[Sinneswahrnehmung]]en zum Gehirn transportiere, andererseits aber auch die [[Muskel]]n in [[Tätigkeit]] setze.
      <td>[[GA 51|Über Philosophie,
 
          Geschichte und Literatur.]]</td>
Die Kenntnisse der westeuropäischen [[Hirnforschung]] fielen im Mittelalter hinter das Niveau der Antike zurück. Die Forschung im europäischen Raum beschäftigte sich primär mit der klösterlichen [[Heilkräuter]]kunde. Einzig [[Albertus Magnus]] (um 1200-1280) baute um 1250 die Ventrikellehre weiter aus und stellte sich vor, dass der ''spiritus animalis'' ähnlich einem römischen Brunnen von einem Ventrikel in den nächsten fließe und so den Prozess von der [[Wahrnehmung]] über das [[Denken]] zur [[Erinnerung]] führe.
    </tr>
 
    <tr>
In der [[Renaissance]] wurden erstmals wieder [[Obduktion]]en durchgeführt. Der Italiener [[Wikipedia:Giovanni Alfonso Borelli|Giovanni Alfonso Borelli]] (1608–1679) stellte erstmals die Existenz eines gasförmigen ''spiritus animalis'' in Frage. Er vermutete stattdessen die Existenz einer Flüssigkeit, des ''succus nerveus'', die durch die hohlen Nerven in die Extremitäten gepresst werden und so nach pneumatischen Prinzipien die Handlungen hervorrufen solle.
      <td valign="top" colspan="2">''Die Berliner öffentlichen Vortragsreihen («Architektenhaus-Vorträge»)''</td>
 
    </tr>
Dass elektrische Impulse über Nerven strömen, wurde im 18. Jahrhundert erstmals beschrieben. Eine zweite wichtige Erkenntnis des 18. Jahrhunderts war, dass die [[Großhirnrinde]] funktionell gegliedert ist. Ab dem 19. Jahrhundert schritt auch die Erforschung der Hirnanatomie schnell voran. Im noch jungen 21. Jahrhundert entwickelt sich die Neurowissenschaft primär methodologisch weiter.
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 52|GA 52]]</td>
== Neurowissenschaften und Materialismus ==
      <td>[[GA 52|Spirituelle Seelenlehre
 
          und Weltbetrachtung]]</td>
In den Neurowissenschaften ist ein starker Hang zum [[Naturalismus]], [[Materialismus]], [[Determinismus]], [[Reduktionismus]] und [[Physikalismus]] zu bemerken. So meint etwa [[Wikipedia:Gerhard Roth|Gerhard Roth]]: „''Wir müssen also davon ausgehen, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art mit vielen speziellen Gesetzen ist.''“<ref>„Wir müssen also davon ausgehen, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art mit vielen speziellen Gesetzen ist. Dies ist insofern kein Problem, als der Bereich der Physik stets offen war und ist für Erweiterungen: Was zur Physik gehört und was nicht, hat sich über die Jahrhunderte stark geändert und wird sich weiter ändern. Warum aber sehen wir Geist überhaupt als physikalischen Zustand an und sind nicht einfach Dualisten, für die sich Geist grundlegend vom Materiell-Physikalischen unterscheidet?<br>
    </tr>
Der Grund hierfür ist, dass Geist – welcher physikalischen Natur er auch immer ist - eindeutig im Rahmen der Naturgesetze auftritt und unabdingbar an physikalische und im engeren Sinne an chemische und physiologische Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. Dies ist mit einem Dualismus unvereinbar. Wie oben bereits beschrieben, geht geistige Aktivität im Gehirn mit einem hohen Sauerstoff- und Glukoseverbrauch und vielen anderen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einher, und nach bisheriger Kenntnis sind die Beziehungen mehr oder weniger linear; d.h. je intensiver die geistigen Aktivitäten, desto höher der Hirnstoffwechsel, der Transmitterausstoß, die Entladungsraten der Neurone usw. Hinzu kommt, dass es keine geistigen Zustände gibt, die physikalischen Gesetzen eklatant widersprechen. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn geistige Zustände überhaupt nicht an neuronale Prozesse gebunden wäre. Das Gegenteil ist aber der Fall: Geistige Zustände hängen aufs Engste mit neuronalen Zuständen zusammen, die wiederum klar physikalisch-chemisch-physiologischen Gesetzen gehorchen.<br>
    <tr valign="top">
Wir müssen also auf der einen Seite zugeben, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art ist, der sich aber in das Gesamtgefüge physikalischer Zustände einfügt und dieses nicht im dualistischen Sinne „transzendiert". Zugleich gibt es ganz offensichtlich zahlreiche Eigengesetzlichkeiten des Geistigen, die durch die bisherige Physik nicht erklärt werden können - aber das ist bei vielen Eigenschaften biologischer Systeme der Fall. So findet die biologische Evolution zweifellos im Rahmen der Physik statt, aber es gibt keine physikalische, sondern nur eine spezielle biologische Theorie der Evolution. Wie die „Physik des Geistes" einmal aussehen wird, ist unklar. Die Tatsache, dass Geist im Gehirn nur bei hohem Energie- und Materiedurchsatz auftritt, stellt ihn in die Nähe komplexer physikalischer und chemischer Systeme, die man „selbstorganisierend" nennt und die sich durch „spontane" Muster- und Ordnungsbildung raumzeitlicher Art auszeichnen. Die Gestaltpsychologie hat viele Merkmale von Wahrnehmungs- und Denkvorgängen beschrieben, die ebenfalls eine große Nähe zu Merkmalen
      <td>[[GA 53|GA 53]]</td>
selbstorganisierender physiko-chemischer Systeme haben.“<br>Gerhard Roth: ''Die Physik des Geistes'' in: Konrad Sandhoff, Wolfgang Donner (Hrsg.): ''Vom Urknall zum Bewusstsein - Selbstorganisation der Materie'', 2007, S. 309</ref> Diese Haltung ist auch nicht weiter verwunderlich, denn in der [[Nerven]]tätigkeit und insbesondere im physischen Bau des [[Gehirn]]s spiegelt sich die [[geist]]ige Tätigkeit des [[Mensch]]en als ein sogar in gewissem Sinn selbsttätiges [[Abbild]] wider, denn „''alles das, was das übersinnliche Seelenorgan vorstellungsgemäß kann, kann das Gehirn auch.''“ {{GZ||314|90}}
      <td>[[GA 53|Ursprung und Ziel des Menschen.
 
          Grundbegriffe der Geisteswissenschaft.]]</td>
{{Zitat|Wir haben herausgefunden, dass im
    </tr>
menschlichen Gehirn neuronale Prozesse
    <tr valign="top">
und bewusst erlebte geistig-psychische
      <td>[[GA 54|GA 54]]</td>
Zustände aufs Engste miteinander
      <td>[[GA 54|Die Welträtsel und
zusammenhängen und unbewusste Prozesse
          die Anthroposophie.]]</td>
bewussten in bestimmter Weise vorausgehen.
    </tr>
Die Daten, die mit modernen
    <tr valign="top">
bildgebenden Verfahren gewonnen
      <td>[[GA 55|GA 55]]</td>
wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche
      <td>[[GA 55|Die Erkenntnis des Übersinnlichen
innerpsychischen Prozesse mit neuronalen
          in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben.]]</td>
Vorgängen in bestimmten Hirnarealen
    </tr>
einhergehen – zum Beispiel Imagination,
    <tr valign="top">
Empathie, das Erleben von
      <td>[[GA 56|GA 56]]</td>
Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen
      <td>[[GA 56|Die Erkenntnis der Seele
beziehungsweise die absichtsvolle
          und des Geistes]]</td>
Planung von Handlungen.
    </tr>
Auch wenn wir die genauen Details
    <tr valign="top">
noch nicht kennen, können wir davon
      <td>[[GA 57|GA 57]]</td>
ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich
      <td>[[GA 57|Wo und wie findet man den
durch physikochemische Vorgänge
          Geist? ]]</td>
beschreibbar sind. Diese näher zu
    </tr>
erforschen ist die Aufgabe der Hirnforschung
    <tr valign="top">
in den kommenden Jahren und
      <td>[[GA 58|GA 58]]</td>
Jahrzehnten.
      <td>[[GA 58|Metamorphosen des Seelenlebens,
 
          Bd.1, Neun Vorträge, Berlin 1909 ]]</td>
Geist und Bewusstsein – wie einzigartig
    </tr>
sie von uns auch empfunden werden
    <tr valign="top">
– fügen sich also in das Naturgeschehen
      <td>[[GA 59|GA 59]]</td>
ein und übersteigen es nicht. Und:
      <td>[[GA 59|Metamorphosen des Seelenlebens,
Geist und Bewusstsein sind nicht vom
          Bd.2, Neun Vorträge, Berlin 1910 ]]</td>
Himmel gefallen, sondern haben sich in
    </tr>
der Evolution der Nervensysteme allmählich
    <tr valign="top">
herausgebildet. Das ist vielleicht
      <td>[[GA 60|GA 60]]</td>
die wichtigste Erkenntnis der modernen
      <td>[[GA 60|Antworten der Geisteswissenschaft
Neurowissenschaften.|Das Manifest|''Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung'', in: GEHIRN & GEIST 6/2004, S. 33 [https://www.spektrum.de/pdf/gug-04-06-s030-pdf/834924]}}
          auf die großen Fragen des Daseins ]]</td>
 
    </tr>
Viele Neuro- und [[Kognitionswissenschaftler]] gehen auch grundsätzlich davon aus, dass das [[mensch]]liche [[Gehirn]] im Prinzip wie ein [[Computer]] funktioniert und alle geistige und seelische Tätigkeit letztlich auf Verrechnungsprozessen beruht - eine These, die allerdings von Wissenschaftlern wie [[Wikipedia:John Searle|John Searle]] (* 1932) oder [[Wikipedia:Roger Penrose|Roger Penrose]] (* 1931) energisch bestritten wird.
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 61|GA 61]]</td>
Der Mensch wird dadurch vielfach geradezu als gehirngesteuerter [[Automat]] angesehen, dem der [[Freier Wille|freie Wille]] abgesprochen und das [[Ich]] und die [[Seele]] zu wesenlosen [[Illusionen]] erklärt werden. So behauptet etwa der [[Neurophysiologe]] [[Wikipedia:Wolf Singer|Wolf Singer]] ganz dezidiert: „''Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen''“<ref>Wolf Singer in:  Christian Geyer (Hrsg.): ''Hirnforschung und Willensfreiheit'', 2004, S. 30ff.</ref> und fordert entsprechende [[Ethik|ethische]] und [[Rechtsleben|juristische]] Konsequenzen bezüglich der [[Schuld]]fähigkeit des Menschen. [[Thomas Metzinger]], der in die gleiche Richtung denkt, warnt zugleich aber auch vor den nachweislichen Folgen einer solchen Anschauung:
      <td>[[GA 61|Menschengeschichte im Lichte
 
          der Geistesforschung. ]]</td>
{{LZ|Was viele
    </tr>
Geisteswissenschaftler häufig noch nicht wissen, ist, dass es mittlerweile erste
    <tr valign="top">
empirische Studien gibt, die tatsächlich zeigen wie ein verringerter Glaube an
      <td>[[GA 62|GA 62]]</td>
die eigene Willensfreiheit bei Versuchspersonen nachweislich zu einer
      <td>[[GA 62|Ergebnisse der Geistesforschung ]]</td>
Abschwächung von Hilfsbereitschaft, zu einer Erhöhung der Bereitschaft zum
    </tr>
Betrügen, zu geringerer Selbstkontrolle, einer schwächeren Reaktion auf
    <tr valign="top">
eigene Fehler und zu einer Verstärkung von Aggressivität führt. Objektive
      <td>[[GA 63|GA 63]]</td>
Veränderungen können experimentell sogar bis in die neuronalen Korrelate
      <td>[[GA 63|Geisteswissenschaft als
der unbewussten Vorstufen von Willkürhandlungen nachgewiesen werden.|Metzinger, S. 186}}
          Lebensgut ]]</td>
 
    </tr>
Gemeinsam mit dem [[England|englischen]] [[Philosoph]]en [[Peter Hacker]] hat der [[Wikipedia:Australien|australische]] Neurowissenschaftler und [[Physiologe]] [[Maxwell Bennett]] wesentlich zur begrifflichen Klärung der Grundlagen der Neurowissenschaften beigetragen. Beide Forscher wenden sich entschieden gegen die eben genannte Missdeutung, dass der [[Geist]] des [[Mensch]]en bzw. seine [[Individualität]] ''identisch'' mit seinem [[Gehirn]] sei. Die sei ein „[[mereologischer Fehlschluss]]“, d.h. ein falscher [[Schluss]] von den [[Teil]]en auf das [[Ganzheit|Ganze]]. Hacker schließt unmittelbar an Wittgenstein an, der gemeint hatte „''man könne nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist, (sich ähnlich benimmt) sagen, es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewußtsein, oder bewußtlos.''“<ref>Ludwig Wittgenstein: ''Philosophische Untersuchungen'' (1953), § 281, in: Ludwig Wittgenstein: ''Werkausgabe'', Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3-518-28101-7, S.231-485</ref> Es ist der Mensch als Ganzes, als [[psychophysisch]]e Einheit (aus [[Anthroposophie|anthroposophischer]] Sicht die Einheit von [[Leib]], [[Seele]] und [[Geist]]), der wahrnimmt, denkt, fühlt, will usw.
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 64|GA 64]]</td>
{{Zitat|Der Geist ist jedoch, wie wir geltend machen, weder
      <td>[[GA 64|Aus schicksaltragender
eine vom Gehirn verschiedene noch eine mit dem Gehirn
          Zeit ]]</td>
identische Substanz. Außerdem zeigen wir, daß es ungereimt
    </tr>
ist, dem Gehirn psychologische Eigenschaften zuzuschreiben.
    <tr valign="top">
Wir Menschen verfügen über eine Vielzahl psychischer Fähigkeiten,
      <td>[[GA 65|GA 65]]</td>
die im Leben zum Einsatz gebracht werden, wenn wir
      <td>[[GA 65|Aus dem mitteleuropäischen
wahrnehmen, denken und Überlegungen anstellen, Emotionen
          Geistesleben ]]</td>
empfinden, Dinge haben wollen, Pläne schmieden und Entscheidungen
    </tr>
treffen. Daß wir diese Fähigkeiten haben, definiert
    <tr valign="top">
uns als die Lebewesen, die wir tatsächlich sind. Die Bedingungen
      <td>[[GA 66|GA 66]]</td>
und Begleitumstände des Vorhandenseins und der
      <td>[[GA 66|Geist und Stoff, Leben
Ausübung dieser Vermögen kann man erforschen. Das ist die
          und Tod ]]</td>
Aufgabe der Neurowissenschaft, die immer mehr darüber herausfindet.
    </tr>
Doch ihre Entdeckungen ändern gar nichts an der begrifflichen Wahrheit, daß diese Fähigkeiten und deren Ausübung
    <tr valign="top">
in der Wahrnehmung wie im Denken und Fühlen ''Eigenschaften von Menschen sind'', nicht Eigenschaften ihrer Teile,
      <td>[[GA 67|GA 67]]</td>
insbesondere ''nicht des Gehirns''. Der Mensch ist nicht ein in
      <td>[[GA 67|Das Ewige in der Menschenseele ]]</td>
den Schädel eines Körpers eingebettetes Gehirn, sondern eine
    </tr>
psychophysische Einheit, ein Lebewesen, das wahrnehmen,
    <tr>
absichtlich handeln, Überlegungen anstellen und Emotionen
      <td valign="top" colspan="2">''Öffentliche Vorträge außerhalb Berlins und Hochschulkurse''</td>
empfinden kann, ein die Sprache gebrauchendes Lebewesen,
    </tr>
das nicht nur Bewußtsein, sondern auch Selbstbewußtsein hat...
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 72|GA 72]]</td>
Es hat nämlich keinen Sinn, solche psychologischen
      <td>[[GA 72|Freiheit, Unsterblichkeit,
Attribute irgendeiner kleineren Einheit zuzuschreiben als dem
          Soziales Leben ]]</td>
Lebewesen als Ganzem. Es sind nicht Teile des Gehirns, die
    </tr>
wahrnehmen, sondern das Lebewesen nimmt wahr; es ist nicht
    <tr valign="top">
das Gehirn, das denkt und Überlegungen anstelle, sondern der
      <td>[[GA 73|GA 73]]</td>
Mensch. Das Gehirn und seine Tätigkeiten ''ermöglichen es uns'' -
      <td>[[GA 73|Die Ergänzung heutiger
nicht ''ihm'' -, wahrzunehmen und zu denken, Emotionen zu
          Wissenschaften durch Anthroposophie ]]</td>
empfinden sowie Projekte zu ersinnen und in die Tat umzusetzen.|M. Bennett, P. Hacker|''Neurowissenschaft und Philosophie'', S. 19ff.}}
    </tr>
 
    <tr valign="top">
Warum die Missdeutung, den Geist mit dem Gehirn und dessen Funktionen gleichzusetzen, sehr naheliegend ist, hat [[Rudolf Steiner]] wie folgt begründet:
      <td>[[GA 73a|GA 73a]]</td>
 
      <td>[[GA 73a|Fachwissenschaften und Anthroposophie]]</td>
{{GZ|Ich war einmal in einer
    </tr>
Versammlung — es ist schon viele Jahre her —, da sprach zuerst
    <tr valign="top">
ein Arzt über den Gehirnbau, setzte den Gehirnbau auseinander im
      <td>[[GA 74|GA 74]]</td>
Zusammenhang mit dem Seelenleben des Menschen, nach einer Anschauung,
      <td>[[GA 74|Die Philosophie des Thomas
die man ganz mit Recht materialistisch nennen kann. Es
          von Aquino. ]]</td>
war ein ganz waschechter Materialist, der da den Gehirnbau ganz gut
    </tr>
auseinandersetzte, soweit er heute durchforscht ist, und der also das
    <tr valign="top">
Seelenleben im Zusammenhang mit diesem Gehirnbau erklärte. Der
      <td>[[GA 76|GA 76]]</td>
Vorsitzende dieser Versammlung war ein Herbartianer, und der konstruierte
      <td>[[GA 76|Die befruchtende Wirkung
sich nun nicht den Gehirnbau, aber dasjenige, was das Vorstellungsleben
          der Anthroposophie auf die Fachwissenschaften ]]</td>
ist, so wie es der Philosoph Herhart einmal gemacht
    </tr>
hat. Der sagte dann: Ja, es ist doch merkwürdig, der Physiologe, der
    <tr valign="top">
Arzt, der zeichnet das Gehirn auf und macht da Figuren; wenn ich
      <td>[[GA 77a|GA 77a]]</td>
als Herbartianer, sagte er, die komplizierten Vorstellungsassoziationen
      <td>[[GA 77a|Die Aufgaben der Anthroposophie
aufzeichne, wobei ich bloß ein Bild meine von dem, was sich als
          gegenüber Wissenschaft und Leben ]]</td>
Vorstellungen vergesellschaftet, nicht etwa Nervenfäden, die eine
    </tr>
Nervenzelle mit der anderen verbinden, wenn ich als richtiger
    <tr valign="top">
Herbartianer, der sich nicht um das Gehirn kümmert, dasjenige, was
      <td>[[GA 77b|GA 77b]]</td>
ich mir vorstelle über die Art, wie sich Vorstellungen verketten und
      <td>[[GA 77b|Kunst und Anthroposophie]]</td>
so weiter, nur ganz symbolisch zeichne, so sieht das ganz ähnlich aus
    </tr>
wie die Zeichnungen des Physiologen über den physischen Gehirnbau.
    <tr valign="top">
 
      <td>[[GA 78|GA 78]]</td>
Das ist nicht ohne Grund, daß das ähnlich ausschaut. Indem wir
      <td>[[GA 78|Anthroposophie, ihre Erkenntniswurzeln
immer mehr und mehr auf den Bau des Gehirnes naturwissenschaftlich
          und Lebensfrüchte ]]</td>
gekommen sind, hat sich nämlich immer mehr und mehr gezeigt,
    </tr>
daß eigentlich der äußere Bau des Gehirnes in einer ganz wunderbaren
    <tr valign="top">
Weise dem Bau unseres Vorstellungslebens entspricht. Man
      <td>[[GA 79|GA 79]]</td>
kann alles, was man im Vorstellungsleben findet, im Gehirnbau
      <td>[[GA 79|Die Wirklichkeit der höheren
wiederfinden. Es ist einfach — bitte nehmen Sie das cum grano
          Welten ]]</td>
salis —, wie wenn die Natur selber im Gehirn ein plastisches Abbild
    </tr>
unseres Vorstellungslebens hätte schaffen wollen. So etwas fällt
    <tr valign="top">
einem ganz besonders auf, wenn man, sagen wir, solche Darstellungen
      <td>[[GA 81|GA 81]]</td>
wie die von Meynert liest. Jetzt sind sie schon etwas veraltet.
      <td>[[GA 81|Erneuerungs- Impulse für
Meynert ist Materialist gewesen, aber ausgezeichneter Gehirnphysiologe,
          Kultur und Wissenschaft. Berliner Hochschulkurs. ]]</td>
Psychiater, und man möchte sagen: Ja, der ist Materialist,
    </tr>
aber dasjenige, was er einem als Materialist gibt, das ist eine
    <tr valign="top">
wunderbare Abschlagszahlung für dasjenige, was man auch herauskriegt,
      <td>[[GA 82|GA 82]]</td>
auch wenn man sich gar nicht kümmert um das menschliche
      <td>[[GA 82|Damit der Mensch ganz Mensch
Gehirn, sondern bloß darum, wie sich Vorstellungen verknüpfen und
          werde. ]]</td>
trennen und so weiter und bloß diese Symbole hinzeichnen will. —
    </tr>
Kurz, es ist so, daß man, wenn man durch irgend etwas Materialist
    <tr valign="top">
werden könnte, man es durch den Bau des menschlichen Gehirnes
      <td>[[GA 83|GA 83]]</td>
ganz besonders werden könnte. Jedenfalls muß man sagen, wenn es
      <td>[[GA 83|Westliche und östliche
ein Geistig-Seelisches gibt, so hat dieses Geistig-Seelische im menschlichen
          Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch
Gehirn einen so adäquaten Ausdruck gefunden, daß man nun
          Anthroposophie. ]]</td>
gar nicht weit von der Behauptung ist: Ja, was braucht man noch
    </tr>
ein Geistig-Seelisches für das Vorstellungsleben? Wenn man noch eine
    <tr valign="top">
Seele verlangen würde, die noch denken kann! Da das Gehirn eine so
      <td>[[GA 84|GA 84]]</td>
genaue Abbildung ist des Geistig-Seelischen, warum soll das Gehirn
      <td>[[GA 84|Was wollte das Goetheanum
nicht denken können? -
          und was soll die Anthroposophie? ]]</td>
 
    </tr>  
Alle diese Dinge müssen Sie natürlich mit dem bekannten Gran
</table>
Salz verstehen. Ich will nur auf den Sinn der ganzen Auseinandersetzung
heute hinweisen. Das menschliche Gehirn kann einen schon,
besonders wenn man in die Detailforschung eingeht, zum Materialisten
machen. Und was da so eigentlich für ein Geheimnis obwaltet,
was da eigentlich zugrunde liegt, das wird einem doch erst klar,
wenn man zur imaginativen Erkenntnis kommt. In der imaginativen
Erkenntnis nämlich zeigen sich einem Bilder, Bilder für nur wirklich
Geistiges, Bilder, die man früher nicht gesehen hat. Aber man möchte
sagen, diese Bilder erinnern einen an die durch die Nervenzellen
und Nervenfäden geformten Bilder im menschlichen Gehirn. Und ich
möchte sagen, wenn ich Ihnen eine Erklärung geben sollte für die
Frage: Was ist eigentlich dieses imaginative Erkennen, das natürlich
ganz im Übersinnlichen verläuft, was ist es? Wenn ich Ihnen gleichsam
versinnbildlichen sollte die imaginative Erkenntnis, wie der
Mathematiker es mit seinen Figuren macht, indem er mathematische
Probleme aufzeichnet, dann könnte ich auch sagen: Man stelle sich
vor, daß man in der Welt mehr erkennt, als was die Sinneserkenntnis
gibt, dadurch, daß man aufsteigen kann zu Bildern, die eine Realität
so geben, wie das menschliche Gehirn die menschliche Seelenrealität
gibt. Die Natur selber stellt das hin als eine reale, als eine sinnlichreale
Imagination im Gehirn, was man eigentlich in der imaginativen
Erkenntnis auf einem höheren Gebiete erlangt.
 
Aber dadurch kommt man tiefer jetzt hinein in die menschliche
Konstitution. Wir werden das in den nächsten Tagen sehen: Man
kommt immer zu einer Möglichkeit, diesen Wunderbau des menschlichen
Gehirns nicht isoliert für sich zu sehen, sondern ich möchte
sagen: Während man eine Welt, eine übersinnliche Welt oben durch
Imagination sieht, ist es so, wie wenn ein Teil dieser Welt sich
herunterrealisiert hätte und im menschlichen Gehirn eine realisierte
imaginative Welt vor uns dastehen würde. Und in der Tat, ich glaube
nicht, daß irgend jemand adäquat über das menschliche Gehirn
sprechen kann, der nicht in dem menschlichen Gehirnbau eine imaginative
Darstellung des Seelenlebens sieht. Das ist auch dasjenige, was
uns immer wiederum in eine Zwickmühle führt, wenn wir von der
bloßen Gehirnphysiologie ausgehen und zum Seelenleben hinüberkommen
wollen. Nämlich, wenn man beim Gehirn stehenbleiben
will, braucht man gar nicht das Seelenleben. Nur derjenige hat ein
Recht, gegenüber dem Bau des menschlichen Gehirnes noch von einem
Seelenleben zu sprechen, der dieses Seelenleben außerdem noch anders
kennt, als man es kennt auf dem gewöhnlichen Wege dieser Welt.
Denn wenn man in der geistigen Welt dieses Seelenleben kennenlernt:
im Bau des menschlichen Gehirnes hat es sein adäquates Abbild, und
alles das, was das übersinnliche Seelenorgan vorstellungsgemäß kann,
kann das Gehirn auch. Denn bis in die Funktionen hinein ist das
Gehirn ein Abbild; so daß niemand Materialismus belegen oder
widerlegen kann von der Gehirnphysiologie aus. Das gibt es einfach
nicht. Wenn der Mensch bloß Gehirnwesen wäre, so würde man gar
nicht daraufzukommen brauchen, daß er noch eine Seele hat.|314|88ff}}
 
== Siehe auch ==
 
* [[Gehirn]]
* {{WikipediaDE|Neurowissenschaften}}
* {{WikipediaDE|Geschichte der Hirnforschung}}
 
== Literatur ==
 
* ''Das Manifest - Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung'' in: ''[[Wikipedia:Gehirn&Geist|Gehirn & Geist]]'' 2004/6, S. 30ff. [https://www.spektrum.de/pdf/gug-04-06-s030-pdf/834924 spektrum.de (pdf)]
* Jean Pierre Changeux: ''Der neuronale Mensch. Wie die Seele funktioniert - die Entdeckungen der neuen Gehirnforschung'', Rowohlt-Verlag 1984, ISBN 978-3498008659
* [[Wikipedia:Francis Crick|Francis Crick]]: ''Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins'', Rowohlt Taschenbuch Verlag 1997, ISBN 978-3499602573
* [[Patricia Churchland]]: ''Neurophilosophy: Toward a Unified Science of the Mind-Brain (Computational Models of Cognition and Perception)'', Neurophilosophy 1989, ISBN 978-0262530859
* [[Paul Churchland]]: ''Die Seelenmaschine: Eine philosophische Reise ins Gehirn'', Spektrum Verlag 2001, ISBN 978-3827410207
* Christian Geyer (Hrsg.): ''Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente'', 9. Auflage, Suhrkamp Verlag 2004, ISBN 978-3518123874
* Tobias Kläden: ''Mit Leib und Seele: Die mind-brain-Debatte in der Philosophie des Geistes und die anima-forma-corporis Lehre des Thomas von Aquin (ratio fidei)'', Verlag Friedrich Pustet 2005, ISBN 978-3791719603
* [[Wikipedia:Klaus-Jürgen Grün|Klaus-Jürgen Grün]] (Hrsg.), [[Wikipedia:Gerhard Roth|Gerhard Roth]] (Hrsg.): ''Das Gehirn und seine Freiheit'', 3. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht 2006, ISBN 978-3525490853
* Ernst Pöppel (Hrsg.): ''Gehirn und Bewusstsein'', Wiley Verlag Chemie 1989, ISBN 978-3527279012
* [[Wikipedia:Peter Bieri|Peter Bieri]]: ''[http://www.denkabende.de/kognition/bieri.rtf Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?]'' (rtf; 56&nbsp;kB), veröffentlicht in ''„Gehirn und Bewusstsein“'' (Hrsg. [[Wikipedia:Wolf Singer|Wolf Singer]]), Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1994, ISBN 978-3860252208, S. 172–180
* Konrad Sandhoff, Wolfgang Donner (Hrsg.): ''Vom Urknall zum Bewusstsein - Selbstorganisation der Materie'', Thieme-Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3131481917
*  Maxwell Bennett, [[Daniel C. Dennett]], Peter Hacker, John R. Searle: ''Neurowissenschaft und Philosophie: Gehirn, Geist und Sprache'', Suhrkamp Verlag 2010, ISBN 978-3518585429
*  Maxwell R. Bennett , Peter M. Hacker, Axel Walter (Übers.): ''Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) 2010, ISBN 978-3534228775, eBook ASIN B01A16QLUA
* [[Wikipedia:Michael Gazzaniga|Michael Gazzaniga]], Dagmar Mallett (Übers.): ''Die Ich-Illusion: Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen'', Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 2012, ISBN 978-3446430112, eBook ASIN B007ADU5R8
*[[Thomas Metzinger]]: ''Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik'', Piper Taschenbuch 2014, ISBN 978-3492305334, eBook ASIN B00GZL6ZT8
*[[Wikipedia:Wolfgang Prinz|Wolfgang Prinz]]: ''Selbst im Spiegel: Die soziale Konstruktion von Subjektivität'', Suhrkamp Verlag 2013, ISBN 978-3518585948, eBook ASIN B00BJ3KW3C
* Frank Rösler: ''Psychophysiologie der Kognition: Eine Einführung in die Kognitive Neurowissenschaft'', Springer-Verlag 2012, ISBN 978-3827425997
*[[Peter Heusser]]: ''Anthroposophie und Wissenschaft: Eine Einführung. Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie, Genetik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Philosophie des Geistes, Anthropologie, Anthroposophie, Medizin'', Verlag am Goetheanum, Dornach 2016, ISBN 978-3723515686
*Rudolf Steiner: ''Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene'', [[GA 314]] (1989), ISBN 3-7274-3141-5 {{Vorträge|314}}


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== Einzelnachweise ==
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<references />
# [http://www.rudolf-steiner.com/fileadmin/user_upload/Verlag/Steiner-Katalog.pdf Katalog der Rudolf Steiner Gesamtausgabe]
 
# [http://rsv.arpa.ch/cgi-bin/auth.cgi Volltextsuche in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe]
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Version vom 10. Juni 2018, 19:10 Uhr

Als Neurowissenschaften (seltener auch im Singular: Neurowissenschaft) werden die naturwissenschaftlichen Forschungsbereiche bezeichnet, in denen Aufbau und Funktionsweise von Nervensystemen untersucht werden. Aufgrund der vielfältigen verwendeten Methoden wird neurowissenschaftliche Forschung von Wissenschaftlern aus vielen verschiedenen Disziplinen wie etwa Physiologie, Psychologie, Medizin, Informatik, Robotik oder Mathematik betrieben.[1]

Forschungsrichtungen, die hauptsächlich den Aufbau und die Leistungen des Gehirns von Menschen und Menschenaffen (Primaten) untersuchen, werden umgangssprachlich oftmals unter der Bezeichnung Hirn- oder Gehirnforschung zusammengefasst.

Geschichte der Hirnforschung

Funde aus dem frühen Ägypten belegen, dass schon vor 5000 Jahren operative Eingriffe in das Zentralnervensystem getätigt wurden. Etwa 70 Prozent der Schädel, bei welchen Hinweise auf derartige Eingriffe vorhanden sind, haben sich nach dem Eingriff biologisch verändert, was darauf hinweist, dass der Patient den Eingriff um Monate oder Jahre überlebt hat.

Um 500 v. Chr. soll Alkmaion von Kroton als Erster die Sehnerven und andere sensorische Nerven entdeckt haben. Alkmaion entwickelte die Vorstellung, dass Nerven hohl seien und ein Medium (kenon) umhüllten, das den Sinneseindruck zum Gehirn leitet[2]. Hippokrates von Kos (ca. 460–370 v. Chr.) erkannte, dass das Gehirn als Sitz der Empfindung und Intelligenz fungiert. Aristoteles (384–322 v. Chr.) ging im Gegensatz dazu davon aus, dass die Empfindungen und der Verstand ihren Sitz im Herzen haben; das Gehirn sei nur ein Kühlorgan für das Blut. Die Seele (griech. ψυχή, psychḗ) sei eine eigenständige Substanz, die dem lebendigen Körper ihre Form gebe[3]. Diese Lehre wurde später von Thomas von Aquin (um 1225-1274) im christlichen Sinn weiter ausgeführt (anima unica forma corporis[4][5]).

Herophilos von Chalkedon (um 325–255 v. Chr.) führte erste Autopsien durch und beschrieb korrekt die grobe Anatomie des Gehirns. Den Sitz der Seelenkräfte und der menschlichen Intelligenz sah er aber nicht im Hirngewebe, sondern in den von ihm erstmals entdeckten drei flüssigkeitsgefüllten Hirnventrikeln[6]. Erasistratos (um 305–250 v. Chr.) unterschied bereits motorische und sensorische Nerven und zählte wegen der Aufteilung des erten Ventrikels in einen rechten und linken Ventrikel vier Hirnventrikel. Die Seele lokalisierte er in den Hirnwindungen bzw. Hirnhäuten[7]

Um 129–216 n. Chr. wurden die Funktionen einzelner Nervenbahnen durch Galen und erstmals auch das sympathische Nervensystem beschrieben, dessen eigentliche Funktion er aber nicht erfasste. Herophilus folgend nahm er an, dass sich in den Hirnventrikeln eine Substanz befinde, das pneuma psychikon (lat. spiritus animalis), welche durch die als hohl angenommenen Nerven einerseits Sinneswahrnehmungen zum Gehirn transportiere, andererseits aber auch die Muskeln in Tätigkeit setze.

Die Kenntnisse der westeuropäischen Hirnforschung fielen im Mittelalter hinter das Niveau der Antike zurück. Die Forschung im europäischen Raum beschäftigte sich primär mit der klösterlichen Heilkräuterkunde. Einzig Albertus Magnus (um 1200-1280) baute um 1250 die Ventrikellehre weiter aus und stellte sich vor, dass der spiritus animalis ähnlich einem römischen Brunnen von einem Ventrikel in den nächsten fließe und so den Prozess von der Wahrnehmung über das Denken zur Erinnerung führe.

In der Renaissance wurden erstmals wieder Obduktionen durchgeführt. Der Italiener Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679) stellte erstmals die Existenz eines gasförmigen spiritus animalis in Frage. Er vermutete stattdessen die Existenz einer Flüssigkeit, des succus nerveus, die durch die hohlen Nerven in die Extremitäten gepresst werden und so nach pneumatischen Prinzipien die Handlungen hervorrufen solle.

Dass elektrische Impulse über Nerven strömen, wurde im 18. Jahrhundert erstmals beschrieben. Eine zweite wichtige Erkenntnis des 18. Jahrhunderts war, dass die Großhirnrinde funktionell gegliedert ist. Ab dem 19. Jahrhundert schritt auch die Erforschung der Hirnanatomie schnell voran. Im noch jungen 21. Jahrhundert entwickelt sich die Neurowissenschaft primär methodologisch weiter.

Neurowissenschaften und Materialismus

In den Neurowissenschaften ist ein starker Hang zum Naturalismus, Materialismus, Determinismus, Reduktionismus und Physikalismus zu bemerken. So meint etwa Gerhard Roth: „Wir müssen also davon ausgehen, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art mit vielen speziellen Gesetzen ist.[8] Diese Haltung ist auch nicht weiter verwunderlich, denn in der Nerventätigkeit und insbesondere im physischen Bau des Gehirns spiegelt sich die geistige Tätigkeit des Menschen als ein sogar in gewissem Sinn selbsttätiges Abbild wider, denn „alles das, was das übersinnliche Seelenorgan vorstellungsgemäß kann, kann das Gehirn auch.“ (Lit.:GA 314, S. 90)

„Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen. Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind. Diese näher zu erforschen ist die Aufgabe der Hirnforschung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.

Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften.“

Das Manifest: Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: GEHIRN & GEIST 6/2004, S. 33 [3]

Viele Neuro- und Kognitionswissenschaftler gehen auch grundsätzlich davon aus, dass das menschliche Gehirn im Prinzip wie ein Computer funktioniert und alle geistige und seelische Tätigkeit letztlich auf Verrechnungsprozessen beruht - eine These, die allerdings von Wissenschaftlern wie John Searle (* 1932) oder Roger Penrose (* 1931) energisch bestritten wird.

Der Mensch wird dadurch vielfach geradezu als gehirngesteuerter Automat angesehen, dem der freie Wille abgesprochen und das Ich und die Seele zu wesenlosen Illusionen erklärt werden. So behauptet etwa der Neurophysiologe Wolf Singer ganz dezidiert: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen[9] und fordert entsprechende ethische und juristische Konsequenzen bezüglich der Schuldfähigkeit des Menschen. Thomas Metzinger, der in die gleiche Richtung denkt, warnt zugleich aber auch vor den nachweislichen Folgen einer solchen Anschauung:

„Was viele Geisteswissenschaftler häufig noch nicht wissen, ist, dass es mittlerweile erste empirische Studien gibt, die tatsächlich zeigen wie ein verringerter Glaube an die eigene Willensfreiheit bei Versuchspersonen nachweislich zu einer Abschwächung von Hilfsbereitschaft, zu einer Erhöhung der Bereitschaft zum Betrügen, zu geringerer Selbstkontrolle, einer schwächeren Reaktion auf eigene Fehler und zu einer Verstärkung von Aggressivität führt. Objektive Veränderungen können experimentell sogar bis in die neuronalen Korrelate der unbewussten Vorstufen von Willkürhandlungen nachgewiesen werden.“ (Lit.: Metzinger, S. 186)

Gemeinsam mit dem englischen Philosophen Peter Hacker hat der australische Neurowissenschaftler und Physiologe Maxwell Bennett wesentlich zur begrifflichen Klärung der Grundlagen der Neurowissenschaften beigetragen. Beide Forscher wenden sich entschieden gegen die eben genannte Missdeutung, dass der Geist des Menschen bzw. seine Individualität identisch mit seinem Gehirn sei. Die sei ein „mereologischer Fehlschluss“, d.h. ein falscher Schluss von den Teilen auf das Ganze. Hacker schließt unmittelbar an Wittgenstein an, der gemeint hatte „man könne nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist, (sich ähnlich benimmt) sagen, es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewußtsein, oder bewußtlos.[10] Es ist der Mensch als Ganzes, als psychophysische Einheit (aus anthroposophischer Sicht die Einheit von Leib, Seele und Geist), der wahrnimmt, denkt, fühlt, will usw.

„Der Geist ist jedoch, wie wir geltend machen, weder eine vom Gehirn verschiedene noch eine mit dem Gehirn identische Substanz. Außerdem zeigen wir, daß es ungereimt ist, dem Gehirn psychologische Eigenschaften zuzuschreiben. Wir Menschen verfügen über eine Vielzahl psychischer Fähigkeiten, die im Leben zum Einsatz gebracht werden, wenn wir wahrnehmen, denken und Überlegungen anstellen, Emotionen empfinden, Dinge haben wollen, Pläne schmieden und Entscheidungen treffen. Daß wir diese Fähigkeiten haben, definiert uns als die Lebewesen, die wir tatsächlich sind. Die Bedingungen und Begleitumstände des Vorhandenseins und der Ausübung dieser Vermögen kann man erforschen. Das ist die Aufgabe der Neurowissenschaft, die immer mehr darüber herausfindet. Doch ihre Entdeckungen ändern gar nichts an der begrifflichen Wahrheit, daß diese Fähigkeiten und deren Ausübung in der Wahrnehmung wie im Denken und Fühlen Eigenschaften von Menschen sind, nicht Eigenschaften ihrer Teile, insbesondere nicht des Gehirns. Der Mensch ist nicht ein in den Schädel eines Körpers eingebettetes Gehirn, sondern eine psychophysische Einheit, ein Lebewesen, das wahrnehmen, absichtlich handeln, Überlegungen anstellen und Emotionen empfinden kann, ein die Sprache gebrauchendes Lebewesen, das nicht nur Bewußtsein, sondern auch Selbstbewußtsein hat...

Es hat nämlich keinen Sinn, solche psychologischen Attribute irgendeiner kleineren Einheit zuzuschreiben als dem Lebewesen als Ganzem. Es sind nicht Teile des Gehirns, die wahrnehmen, sondern das Lebewesen nimmt wahr; es ist nicht das Gehirn, das denkt und Überlegungen anstelle, sondern der Mensch. Das Gehirn und seine Tätigkeiten ermöglichen es uns - nicht ihm -, wahrzunehmen und zu denken, Emotionen zu empfinden sowie Projekte zu ersinnen und in die Tat umzusetzen.“

M. Bennett, P. Hacker: Neurowissenschaft und Philosophie, S. 19ff.

Warum die Missdeutung, den Geist mit dem Gehirn und dessen Funktionen gleichzusetzen, sehr naheliegend ist, hat Rudolf Steiner wie folgt begründet:

„Ich war einmal in einer Versammlung — es ist schon viele Jahre her —, da sprach zuerst ein Arzt über den Gehirnbau, setzte den Gehirnbau auseinander im Zusammenhang mit dem Seelenleben des Menschen, nach einer Anschauung, die man ganz mit Recht materialistisch nennen kann. Es war ein ganz waschechter Materialist, der da den Gehirnbau ganz gut auseinandersetzte, soweit er heute durchforscht ist, und der also das Seelenleben im Zusammenhang mit diesem Gehirnbau erklärte. Der Vorsitzende dieser Versammlung war ein Herbartianer, und der konstruierte sich nun nicht den Gehirnbau, aber dasjenige, was das Vorstellungsleben ist, so wie es der Philosoph Herhart einmal gemacht hat. Der sagte dann: Ja, es ist doch merkwürdig, der Physiologe, der Arzt, der zeichnet das Gehirn auf und macht da Figuren; wenn ich als Herbartianer, sagte er, die komplizierten Vorstellungsassoziationen aufzeichne, wobei ich bloß ein Bild meine von dem, was sich als Vorstellungen vergesellschaftet, nicht etwa Nervenfäden, die eine Nervenzelle mit der anderen verbinden, wenn ich als richtiger Herbartianer, der sich nicht um das Gehirn kümmert, dasjenige, was ich mir vorstelle über die Art, wie sich Vorstellungen verketten und so weiter, nur ganz symbolisch zeichne, so sieht das ganz ähnlich aus wie die Zeichnungen des Physiologen über den physischen Gehirnbau.

Das ist nicht ohne Grund, daß das ähnlich ausschaut. Indem wir immer mehr und mehr auf den Bau des Gehirnes naturwissenschaftlich gekommen sind, hat sich nämlich immer mehr und mehr gezeigt, daß eigentlich der äußere Bau des Gehirnes in einer ganz wunderbaren Weise dem Bau unseres Vorstellungslebens entspricht. Man kann alles, was man im Vorstellungsleben findet, im Gehirnbau wiederfinden. Es ist einfach — bitte nehmen Sie das cum grano salis —, wie wenn die Natur selber im Gehirn ein plastisches Abbild unseres Vorstellungslebens hätte schaffen wollen. So etwas fällt einem ganz besonders auf, wenn man, sagen wir, solche Darstellungen wie die von Meynert liest. Jetzt sind sie schon etwas veraltet. Meynert ist Materialist gewesen, aber ausgezeichneter Gehirnphysiologe, Psychiater, und man möchte sagen: Ja, der ist Materialist, aber dasjenige, was er einem als Materialist gibt, das ist eine wunderbare Abschlagszahlung für dasjenige, was man auch herauskriegt, auch wenn man sich gar nicht kümmert um das menschliche Gehirn, sondern bloß darum, wie sich Vorstellungen verknüpfen und trennen und so weiter und bloß diese Symbole hinzeichnen will. — Kurz, es ist so, daß man, wenn man durch irgend etwas Materialist werden könnte, man es durch den Bau des menschlichen Gehirnes ganz besonders werden könnte. Jedenfalls muß man sagen, wenn es ein Geistig-Seelisches gibt, so hat dieses Geistig-Seelische im menschlichen Gehirn einen so adäquaten Ausdruck gefunden, daß man nun gar nicht weit von der Behauptung ist: Ja, was braucht man noch ein Geistig-Seelisches für das Vorstellungsleben? Wenn man noch eine Seele verlangen würde, die noch denken kann! Da das Gehirn eine so genaue Abbildung ist des Geistig-Seelischen, warum soll das Gehirn nicht denken können? -

Alle diese Dinge müssen Sie natürlich mit dem bekannten Gran Salz verstehen. Ich will nur auf den Sinn der ganzen Auseinandersetzung heute hinweisen. Das menschliche Gehirn kann einen schon, besonders wenn man in die Detailforschung eingeht, zum Materialisten machen. Und was da so eigentlich für ein Geheimnis obwaltet, was da eigentlich zugrunde liegt, das wird einem doch erst klar, wenn man zur imaginativen Erkenntnis kommt. In der imaginativen Erkenntnis nämlich zeigen sich einem Bilder, Bilder für nur wirklich Geistiges, Bilder, die man früher nicht gesehen hat. Aber man möchte sagen, diese Bilder erinnern einen an die durch die Nervenzellen und Nervenfäden geformten Bilder im menschlichen Gehirn. Und ich möchte sagen, wenn ich Ihnen eine Erklärung geben sollte für die Frage: Was ist eigentlich dieses imaginative Erkennen, das natürlich ganz im Übersinnlichen verläuft, was ist es? Wenn ich Ihnen gleichsam versinnbildlichen sollte die imaginative Erkenntnis, wie der Mathematiker es mit seinen Figuren macht, indem er mathematische Probleme aufzeichnet, dann könnte ich auch sagen: Man stelle sich vor, daß man in der Welt mehr erkennt, als was die Sinneserkenntnis gibt, dadurch, daß man aufsteigen kann zu Bildern, die eine Realität so geben, wie das menschliche Gehirn die menschliche Seelenrealität gibt. Die Natur selber stellt das hin als eine reale, als eine sinnlichreale Imagination im Gehirn, was man eigentlich in der imaginativen Erkenntnis auf einem höheren Gebiete erlangt.

Aber dadurch kommt man tiefer jetzt hinein in die menschliche Konstitution. Wir werden das in den nächsten Tagen sehen: Man kommt immer zu einer Möglichkeit, diesen Wunderbau des menschlichen Gehirns nicht isoliert für sich zu sehen, sondern ich möchte sagen: Während man eine Welt, eine übersinnliche Welt oben durch Imagination sieht, ist es so, wie wenn ein Teil dieser Welt sich herunterrealisiert hätte und im menschlichen Gehirn eine realisierte imaginative Welt vor uns dastehen würde. Und in der Tat, ich glaube nicht, daß irgend jemand adäquat über das menschliche Gehirn sprechen kann, der nicht in dem menschlichen Gehirnbau eine imaginative Darstellung des Seelenlebens sieht. Das ist auch dasjenige, was uns immer wiederum in eine Zwickmühle führt, wenn wir von der bloßen Gehirnphysiologie ausgehen und zum Seelenleben hinüberkommen wollen. Nämlich, wenn man beim Gehirn stehenbleiben will, braucht man gar nicht das Seelenleben. Nur derjenige hat ein Recht, gegenüber dem Bau des menschlichen Gehirnes noch von einem Seelenleben zu sprechen, der dieses Seelenleben außerdem noch anders kennt, als man es kennt auf dem gewöhnlichen Wege dieser Welt. Denn wenn man in der geistigen Welt dieses Seelenleben kennenlernt: im Bau des menschlichen Gehirnes hat es sein adäquates Abbild, und alles das, was das übersinnliche Seelenorgan vorstellungsgemäß kann, kann das Gehirn auch. Denn bis in die Funktionen hinein ist das Gehirn ein Abbild; so daß niemand Materialismus belegen oder widerlegen kann von der Gehirnphysiologie aus. Das gibt es einfach nicht. Wenn der Mensch bloß Gehirnwesen wäre, so würde man gar nicht daraufzukommen brauchen, daß er noch eine Seele hat.“ (Lit.:GA 314, S. 88ff)

Siehe auch

Literatur

  • Das Manifest - Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung in: Gehirn & Geist 2004/6, S. 30ff. spektrum.de (pdf)
  • Jean Pierre Changeux: Der neuronale Mensch. Wie die Seele funktioniert - die Entdeckungen der neuen Gehirnforschung, Rowohlt-Verlag 1984, ISBN 978-3498008659
  • Francis Crick: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, Rowohlt Taschenbuch Verlag 1997, ISBN 978-3499602573
  • Patricia Churchland: Neurophilosophy: Toward a Unified Science of the Mind-Brain (Computational Models of Cognition and Perception), Neurophilosophy 1989, ISBN 978-0262530859
  • Paul Churchland: Die Seelenmaschine: Eine philosophische Reise ins Gehirn, Spektrum Verlag 2001, ISBN 978-3827410207
  • Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente, 9. Auflage, Suhrkamp Verlag 2004, ISBN 978-3518123874
  • Tobias Kläden: Mit Leib und Seele: Die mind-brain-Debatte in der Philosophie des Geistes und die anima-forma-corporis Lehre des Thomas von Aquin (ratio fidei), Verlag Friedrich Pustet 2005, ISBN 978-3791719603
  • Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.), Gerhard Roth (Hrsg.): Das Gehirn und seine Freiheit, 3. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht 2006, ISBN 978-3525490853
  • Ernst Pöppel (Hrsg.): Gehirn und Bewusstsein, Wiley Verlag Chemie 1989, ISBN 978-3527279012
  • Peter Bieri: Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel? (rtf; 56 kB), veröffentlicht in „Gehirn und Bewusstsein“ (Hrsg. Wolf Singer), Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1994, ISBN 978-3860252208, S. 172–180
  • Konrad Sandhoff, Wolfgang Donner (Hrsg.): Vom Urknall zum Bewusstsein - Selbstorganisation der Materie, Thieme-Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3131481917
  • Maxwell Bennett, Daniel C. Dennett, Peter Hacker, John R. Searle: Neurowissenschaft und Philosophie: Gehirn, Geist und Sprache, Suhrkamp Verlag 2010, ISBN 978-3518585429
  • Maxwell R. Bennett , Peter M. Hacker, Axel Walter (Übers.): Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) 2010, ISBN 978-3534228775, eBook ASIN B01A16QLUA
  • Michael Gazzaniga, Dagmar Mallett (Übers.): Die Ich-Illusion: Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 2012, ISBN 978-3446430112, eBook ASIN B007ADU5R8
  • Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Piper Taschenbuch 2014, ISBN 978-3492305334, eBook ASIN B00GZL6ZT8
  • Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel: Die soziale Konstruktion von Subjektivität, Suhrkamp Verlag 2013, ISBN 978-3518585948, eBook ASIN B00BJ3KW3C
  • Frank Rösler: Psychophysiologie der Kognition: Eine Einführung in die Kognitive Neurowissenschaft, Springer-Verlag 2012, ISBN 978-3827425997
  • Peter Heusser: Anthroposophie und Wissenschaft: Eine Einführung. Erkenntniswissenschaft, Physik, Chemie, Genetik, Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Philosophie des Geistes, Anthropologie, Anthroposophie, Medizin, Verlag am Goetheanum, Dornach 2016, ISBN 978-3723515686
  • Rudolf Steiner: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene, GA 314 (1989), ISBN 3-7274-3141-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1.  Trappenberg, Thomas P.: Fundamentals of Computational Neuroscience. 2 Auflage. Oxford University Press, Oxford 2010, ISBN 978-0-19-956841-3.
  2. Lloyd, 1975.: Alcmeon and the early history of dissection, Sudhoffs Archiv, 59: 113–47
  3. Aristoteles, Klaus Corcilius (Übers.): Über die Seele. De Anima. Griechisch-Deutsch, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017, ISBN 978-3-7873-2789-8, Buch II, Kapitel 1, 412a20.
  4. Richard Heinzmann: Anima unica forma corporis. Thomas von Aquin als Überwinder des platonisch-neuplatonischen Dualismus. in: Philosophisches Jahrbuch, 93. Jahrgang 1986, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1986, S. 236ff. [1]
  5. Tobias Kläden: Anima forma corporis. Zur Aktualität der nichtdualistischen Sicht des Menschen bei Thomas von Aquin. in: Natur und Geist: von der Einheit der Wissenschaften im Mittelalter, Ostfildern 2008, S. 11-30 [2]
  6. H. Diels, W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. 6th ed., Band 1, S. 210–216. Weidmann, Dublin, Ireland 1952.
  7. Bernhard D. Haage: Ventrikellehre. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2007, ISBN 978-3-11-019703-7, eBook ISBN 978-3-11-097694-6, S. 1439.
  8. „Wir müssen also davon ausgehen, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art mit vielen speziellen Gesetzen ist. Dies ist insofern kein Problem, als der Bereich der Physik stets offen war und ist für Erweiterungen: Was zur Physik gehört und was nicht, hat sich über die Jahrhunderte stark geändert und wird sich weiter ändern. Warum aber sehen wir Geist überhaupt als physikalischen Zustand an und sind nicht einfach Dualisten, für die sich Geist grundlegend vom Materiell-Physikalischen unterscheidet?
    Der Grund hierfür ist, dass Geist – welcher physikalischen Natur er auch immer ist - eindeutig im Rahmen der Naturgesetze auftritt und unabdingbar an physikalische und im engeren Sinne an chemische und physiologische Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. Dies ist mit einem Dualismus unvereinbar. Wie oben bereits beschrieben, geht geistige Aktivität im Gehirn mit einem hohen Sauerstoff- und Glukoseverbrauch und vielen anderen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einher, und nach bisheriger Kenntnis sind die Beziehungen mehr oder weniger linear; d.h. je intensiver die geistigen Aktivitäten, desto höher der Hirnstoffwechsel, der Transmitterausstoß, die Entladungsraten der Neurone usw. Hinzu kommt, dass es keine geistigen Zustände gibt, die physikalischen Gesetzen eklatant widersprechen. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn geistige Zustände überhaupt nicht an neuronale Prozesse gebunden wäre. Das Gegenteil ist aber der Fall: Geistige Zustände hängen aufs Engste mit neuronalen Zuständen zusammen, die wiederum klar physikalisch-chemisch-physiologischen Gesetzen gehorchen.
    Wir müssen also auf der einen Seite zugeben, dass Geist ein physikalischer Zustand eigener Art ist, der sich aber in das Gesamtgefüge physikalischer Zustände einfügt und dieses nicht im dualistischen Sinne „transzendiert". Zugleich gibt es ganz offensichtlich zahlreiche Eigengesetzlichkeiten des Geistigen, die durch die bisherige Physik nicht erklärt werden können - aber das ist bei vielen Eigenschaften biologischer Systeme der Fall. So findet die biologische Evolution zweifellos im Rahmen der Physik statt, aber es gibt keine physikalische, sondern nur eine spezielle biologische Theorie der Evolution. Wie die „Physik des Geistes" einmal aussehen wird, ist unklar. Die Tatsache, dass Geist im Gehirn nur bei hohem Energie- und Materiedurchsatz auftritt, stellt ihn in die Nähe komplexer physikalischer und chemischer Systeme, die man „selbstorganisierend" nennt und die sich durch „spontane" Muster- und Ordnungsbildung raumzeitlicher Art auszeichnen. Die Gestaltpsychologie hat viele Merkmale von Wahrnehmungs- und Denkvorgängen beschrieben, die ebenfalls eine große Nähe zu Merkmalen selbstorganisierender physiko-chemischer Systeme haben.“
    Gerhard Roth: Die Physik des Geistes in: Konrad Sandhoff, Wolfgang Donner (Hrsg.): Vom Urknall zum Bewusstsein - Selbstorganisation der Materie, 2007, S. 309
  9. Wolf Singer in: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 30ff.
  10. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953), § 281, in: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3-518-28101-7, S.231-485


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