Neuronale Plastizität

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Als Neuronale Plastizität oder Neuroplastizität bezeichnet man die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und zu verändern, indem es neue neuronale Verbindungen bildet oder bestehende Verbindungen modifiziert. Diese Fähigkeit ist entscheidend für die Entwicklung des Gehirns und ermöglicht es dem Organ, sich an neue Erfahrungen und Umgebungen anzupassen. Neuroplastizität spielt auch eine wichtige Rolle in der Genesung nach Verletzungen oder Krankheiten. Dabei wird das Gehirn so umgestaltet, dass es auf eine Weise funktioniert, die sich von seiner früheren Funktionsweise unterscheidet. Diese Veränderungen reichen von einzelnen Neuronenbahnen, die neue Verbindungen herstellen, bis hin zu systematischen Anpassungen wie dem kortikalen Re-Mapping.

Arten der Neuroplastizität

Es gibt verschiedene Arten von Neuroplastizität, die je nach Art der neuronalen Veränderung unterschieden werden können:

  • Strukturelle Neuroplastizität: Hierbei handelt es sich um die Veränderung der neuronalen Struktur des Gehirns, einschließlich der Größe und Form von Neuronen und synaptischen Verbindungen. Dies kann durch Faktoren wie Lernen, Training, oder Verletzungen induziert werden.
  • Funktionale Neuroplastizität: Bei dieser Art von Neuroplastizität ändern sich die Funktionsweisen von Neuronen oder neuronalen Netzwerken, um neue Aufgaben oder Verhaltensweisen zu unterstützen. Dies kann beispielsweise durch Veränderungen in der kortikalen Repräsentation von sensorischen oder motorischen Informationen geschehen.
  • Chemische Neuroplastizität: Diese Art der Neuroplastizität bezieht sich auf Veränderungen in der Verfügbarkeit oder Empfindlichkeit von Neurotransmittern, was dazu führen kann, dass neuronale Aktivität und -kommunikation moduliert werden.

Mechanismen der Neuroplastizität

Die Neuroplastizität wird durch eine Vielzahl von Mechanismen unterstützt, die zur Veränderung der neuronalen Aktivität und -kommunikation beitragen. Einige wichtige Mechanismen sind:

  • Synaptische Plastizität: Diese bezieht sich auf die Fähigkeit von Synapsen, ihre Stärke und Effektivität zu verändern, indem sie die Menge oder den Typ der Neurotransmitter, die sie freisetzen, ändern oder die Anzahl der Rezeptoren an der postsynaptischen Membran erhöhen oder verringern. Als ihr Entdecker gilt der kanadische Kognitionspsychologe Donald O. Hebb, der 1949 die Hebbsche Lernregel formulierte, die kurz gefasst besagt: „what fires together, wires together“, d.h. je öfter Neuronen gleichzeitig feuern, umso bevorzugter werden sie auch künftig durch Ausbildung entsprechender synaptischer Verbindungen miteinander aktiv werden.[1] Die Hebbsche Lernregel spielt auch im Bereich der künstlichen Intelligenz eine wichtige Rolle beim Training künstlicher neuronaler Netze.
  • Neurogenese: Dieser Mechanismus bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, neue Neuronen aus Stammzellen zu produzieren. Diese können in bestimmten Gehirnregionen, wie dem Hippocampus, gefunden werden.
  • Myelinisierung: Hierbei handelt es sich um den Prozess der Bildung von Myelin, einer Schicht aus Fett, die die Axone von Neuronen umgibt und ihre Geschwindigkeit und Effizienz erhöht.
  • Dendritische Verzweigung: Dendriten sind die Ausläufer von Neuronen, die Signale von anderen Neuronen empfangen. Sie können ihre Form und Länge verändern, um neue synaptische Verbindungen zu ermöglichen oder bestehende Verbindungen zu verstärken oder zu schwächen.

Anwendungen der Neuroplastizität

Einige Anwendungen der Neuroplastizität sind:

  • Rehabilitation: Nach einer Verletzung oder Erkrankung des Gehirns kann Neuroplastizität genutzt werden, um die Regeneration und Genesung des betroffenen Bereichs zu fördern. Ein Beispiel hierfür ist die Schlaganfallrehabilitation, bei der Übungen und Therapien zur Förderung der synaptischen Plastizität und der neuronalen Reorganisation eingesetzt werden.
  • Lernen und Gedächtnis: Neuroplastizität spielt eine entscheidende Rolle beim Lernen und Gedächtnis. Durch den Prozess der synaptischen Plastizität können neue neuronale Verbindungen gebildet werden, die die Speicherung von Informationen unterstützen.
  • Neurofeedback: Dies ist eine Technik, die darauf abzielt, die Gehirnaktivität durch Verhaltensänderungen zu modulieren. Neurofeedback basiert auf der Idee, dass das Gehirn in der Lage ist, sich selbst zu regulieren, indem es neuronale Aktivitätsmuster verändert. Durch das Verständnis der Neuroplastizität können Patienten in der Therapie dazu angeleitet werden, ihre Gehirnaktivität zu verändern und somit Symptome von Störungen wie ADHS, Depressionen und Angstzuständen zu reduzieren.
  • Neuroprothetik: Neuroplastizität kann auch in der Entwicklung von neuroprothetischen Geräten genutzt werden, die durch elektrische Stimulation neuronale Verbindungen neu aufbauen oder modifizieren können. Ein Beispiel hierfür ist das Cochlea-Implantat, das bei Gehörverlust eingesetzt wird, um auditive Informationen direkt an das Gehirn zu übermitteln.
  • Schmerztherapie: Durch die Veränderung der neuronalen Aktivität und -kommunikation können Techniken wie Meditation, Yoga und kognitive Verhaltenstherapie zur Schmerztherapie eingesetzt werden. Dies geschieht durch die Beeinflussung der synaptischen Plastizität und der Funktion der Schmerzrezeptoren im Gehirn.

Literatur

  • Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Vandenhoeck + Ruprecht 2010, ISBN 978-3525014646; eBook ASIN B00GB5L7C8 (12. Edition, 2016)
  • Lutz Jäncke: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. Huber Verlag, Bern 2013, ISBN 978-3-456-85004-7, S. 595–623.
  • Manfred Spitzer: Geist im Netz. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-8274-0109-7, S. 148–182.
  • R. Duman und andere: Neuronal plasticity and survival in mood disorders. In: Biol. Psychiatry. Band 48, 2000, S. 732–739.
  •  Johann Caspar Rüegg: Neuronale Plastizität und Psychosomatik (1). In: Wissenschaftlichkeit in der Medizin. Teil 2. Physiologie und Psychosomatik. Versuche einer Annäherung (= Brücken … Schriften zur Interdisziplinarität). VAS, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-88864-249-3, S. 82–120.
  •  Gerd Rudolf: Neuronale Plastizität und Psychosomatik (2). In: Wissenschaftlichkeit in der Medizin. Teil 2. Physiologie und Psychosomatik. Versuche einer Annäherung (= Brücken … Schriften zur Interdisziplinarität). VAS, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-88864-249-3, S. 121–130.
  • Uwe Hans Wiese: Neuroplastizität im Rückenmark. Springer, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-27360-6.

Einzelnachweise

  1. Manfred Spitzer: Geist im Netz, Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-8274-0109-7, S. 107.