Bibliothek:Goethe/Naturwissenschaft/Allgemeines

Aus AnthroWiki

Allgemeines

Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andern ein Geheimnis.

Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das Eingreifen der lebendig- beweglichen Monas in die Umgebungen der Aussenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äusserlich Begrenztes gewahr wird. Über dieses Erlebte können wir, obgleich Anlage, Aufmerksamkeit und Glück dazu gehört, in uns selbst klar werden; andern bleibt aber auch dies immer ein Geheimnis.

Als Drittes entwickelt sich nun dasjenige, was wir als Handlung und Tat, als Wort und Schrift gegen die Aussenwelt richten; dieses gehört derselben mehr an als uns selbst, so wie sie sich darüber auch eher verständigen kann, als wir es selbst vermögen; jedoch fühlt sie, dass sie, um recht klar darüber zu werden, auch von unserm Erlebten soviel als möglich zu erfahren habe. Weshalb man auch auf Jugendanfänge, Stufen der Bildung, Lebenseinzelheiten, Anekdoten und dergleichen höchst begierig ist.

Dieser Wirkung nach aussen folgt unmittelbar eine Rückwirkung, es sei nun dass Liebe uns zu fördern suche, oder Hass uns zu hindern wisse. Dieser Konflikt bleibt sich im Leben ziemlich gleich, indem ja der Mensch sich gleich bleibt, und ebenso alles dasjenige, was Zuneigung oder Abneigung an seiner Art zu sein empfinden muss.

Was Freunde mit und für uns tun, ist auch ein Friebtes; denn es stärkt und fördert unsere Persönlichkeit. Was Feinde gegen uns unternehmen, erleben wir nicht, wir erfahrens nur, Ichnens ab, und schätzen uns dagegen, wie gegen Frost, Sturm, Regen und Schlossenwetter, oder sonst äussere Übel, die zu erwarten sind.

Man mag nicht mit jedem leben, und so kann man auch nicht für jeden leben; wer das recht einsieht, wird seine Freunde höchlich zu schätzen wissen, seine Feinde nicht hassen, noch verfolgen, vielmehr erlangt der Mensch nicht leicht einen grösseren Vorteil, als wenn er die Vorzüge seiner Widersacher gewahr werden kann; dies gibt ihm ein entschiedenes Übergewicht über sie.

Gehen wir in die Geschichte zurück, so finden wir überall Persönlichkeiten, mit denen wir uns vertrügen, andere, mit denen wir uns gewiss in Widerstreit befänden.

Das Wichtigste bleibt jedoch das Gleichzeitige, weil es sich in uns am reinsten abspiegelt, wir uns in ihm.

Cato ward in seinem Alter gerichtlich angeklagt, da er denn in seiner Verteidigungsrede hauptsächlich hervorhob, man könne sich vor niemand verteidigen, als vor denen, mit denen man gelebt habe. Und er hat vollkommen recht; wie will eine Jury aus Prämissen urteilen, die ihr ganz abgehen? wie will sie sich über Motive beraten, die schon längst hinter ihr liegen?

Das Erlebte weiss jeder zu schätzen, am meisten der Denkende und Nachsinnende im Alter; er fühlt, mit Zuversicht und Behaglichkeit, dass ihm das niemand rauben kann.

So ruhen meine Naturstudien auf der reinen Basis des Erlebten; wer kann mir nehmen, dass ich 1749 geboren bin, dass ich, (um vieles zu überspringen) mich aus Erxiebens Naturlehre erster Ausgabe treulich unterrichtet, dass ich den Zuwachs der übrigen Editionen, die sich durch Lichtenbergs Aufmerksamkeit grenzenlos anhäuften, nicht etwa im Druck zuerst gesehen, sondern jede neue Entdeckung im Fortschreiten sogleich vernommen und erfahren; dass ich, Schritt für Schritt folgend, die grossen Entdeckungen der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag wie einen Wunderstern nach dem andern vor mir aufgehen sehe. Wer kann mir die heimliche Freude nehrnen, wenn ich mir bewusst bin, durch fortwährendes aufmerksames Bestreben mancher grossen weltüberraschenden Entdeckung selbst so nahe gekommen zu sein, dass ihre Erscheinung gleichsam aus meinem eignen Innern hervorbrach und ich nun die wenigen Schritte klar vor mir liegen sah, welche zu wagen ich in düsterer Forschung versäumt

Wer die Entdeckung der Luftballone mit erlebt hat, wird ein Zeugnis geben, welche Weltbewegung daraus entstand, welcher Anteil die Luftschiffer begleitete, welche Sehnsucht in so viel tausend Gemütern hervordrang an solchen längst vorausgesetzten, vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen, gefahrvollen Wanderungen teilzunehmen; wie frisch und umständlich jeder einzelne glückliche Versuch die Zeitungen füllte, zu Tagesheften und Kupfern Anlass gab; welchen zarten Anteil man an den unglücklichen Opfern solcher Versuche genommen. Dies ist unmöglich selbst in der Erinnerung wiederherzustellen, sowenig als wie lebhaft man sich für einen vor dreissig Jahren ausgebrochenen höchst bedeutenden Krieg interessierte.

Und wäre es denn anders? Was der junge Freund an uns erlebt, ist ja gerade Handlung und Tat, Wort und Schrift, die von uns in glücklichen Momenten ausgegangen sind, zu denen wir uns immer gern bekennen.

Gar selten tun wir uns selbst genug, desto tröstender ist es, andern genuggetan zu haben.

Wir sehen in unser Leben doch nur als in ein zerstückeltes zurück, weil das Versäumte, Misslungene uns immer zuerst entgegentritt und das Geleistete, Erreichte in der Einbildungskraft überwiegt.

Davon kommt dem teilnehmenden Jüngling nichts zur Erscheinung; er sieht, geniesst, benutzt die Jugend eines Vorfahren und erbaut sich selbst daran aus dem Innersten heraus, als wenn er schon einmal gewesen wäre, was er ist.

Auf ähnliche, ja gleiche Weise erfreuen mich die mannigfaltigen Anklänge, die aus fremden Ländern zu mir gelangen. Fremde Nationen lernen erst später unsere Jugendarbeiten kennen; ihre Jünglinge, ihre Männer, strebend und tätig, sehen ihr Bild in unserm Spiegel, sie erfahren dass wir das, was sie wollen, auch wollten, ziehen uns in ihre Gemeinschaft und täuschen mit dem Schein einer rückkehrenden Jugend.

Die Wissenschaft wird dadurch sehr zurückgehalten, dass man sich abgibt mit dem, was nicht wissenswert, und mit dem, was nicht wissbar ist.

Die höhere Empirie verhält sich zur Natur wie der Menschenverstand zum praktischen Leben.