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Ganzheit

Aus AnthroWiki
(Weitergeleitet von Ganzheit (Philosophie))

Von einer Ganzheit (griech. ὅλον holon) kann man sprechen, insoferne die irreduzible Einheit des Ganzen mehr ist als die bloße Summe seiner Teile und auch die gesetzmäßige strukturelle und gegebenenfalls auch funktionelle Beziehung der Teile zueinander umfasst. Auf diese Übersummativität, die sich einem heute als Holismus bezeichneten ganzheitlichen Denken offenbart, hat erstmals schon Aristoteles in philosophischer Klarheit hingewiesen:

„Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloss die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.“

Aristoteles: Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: 8-10.

Eine höhere Form der Ganzheit liegt vor, wenn die Teile in spezifischer Weise derart Abbilder des Ganzen sind, dass sich in ihnen die Gesamtstruktur, als das Verhältnis aller Teile zueinander, in meist charakteristisch metamorphosierter Form widerspiegelt. So ist beispielsweise der menschliche Organismus mehr als die Summe seiner Organe und in jedem einzelnen Organ spiegelt sich der ganze Mensch wider, allerdings auf so spezifische Weise, dass das nicht immer leicht zu entdecken ist.

„Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.
Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf.“

Goethe: Zur Morphologie: Die Absicht eingeleitet.[1]

Auch einzelne untergeordnete Teile bilden wieder strukturelle und funktionelle Ganzheiten für sich, die besonders ins Auge zu fassen sind. Arthur Koestler (1905-1983) prägte dafür den Begriff Holon (von griech. ὅλος hólos und ὀν on „das Teil eines Ganzen Seiende“). So bilden etwa die Zellen eines Lebewesens relative Ganzheiten, denen die Organe übergeordnet sind, die sich ihrerseits in die umfassendere Ganzheit des Organismus eingliederen. So entsteht ein hierarchisch geordnetes System von Holons, eine sog. Holarchie.

Die weitere Zergliederung elementarer Ganzheiten ist zwar, wie schon Goethe betont, zu Forschungszwecken durchaus legitim, die Ganzheitlichkeit des lebendigen Systems geht dabei aber verloren.

„Wir betrachten den organischen Körper insofern, als seine Teile noch Form haben, eine gewisse entschiedene Bestimmung bezeichnen und mit andern Teilen in Verhältnis stehen. Alles, was die Form des Teils zerstört, was den Muskel in Muskelfasern zertrennt, was den Knochen in Gallerte auflöst, wird von uns nicht angewandt. Nicht als ob wir jene weitere Zergliederung nicht kennen wollten und nicht zu schätzen wüßten, sondern weil wir, schon indem wir unsern ausgesprochenen Endzweck verfolgen, ein großes und unbegrenztes Tagewerk vor uns sehen.“

Goethe: Fragmente zur vergleichenden Anatomie[2]

Die ganze Welt, der ganze Kosmos, war ursprünglich als Ganzheit ausgelegt; doch wäre es alleine dabei geblieben, hätten sich die Teile niemals selbstständig machen und zu eigenständigen Ganzheiten heranreifen können. Um namentlich dem Menschen den Raum zu geben, die eigene Individualität auszubilden, mußte die Ureinheit des Kosmos bis zu einem gewissen Grad zerbrochen werden und diese notwendige Arbeit haben die Widersachermächte übernommen.

„So bis ins 13., 14. Jahrhundert herein legte man gar keinen so großen Wert darauf, im menschlichen Denken ein Ganzes aus seinen Teilen zusammenzusetzen. Das kam erst später auf. Der Baumeister baute viel mehr aus der Idee des Ganzen heraus und gliederte in die Teile, als daß er aus Teilen ein Gebäude zusammengesetzt hätte. Das Zusammensetzen aus Teilen kam eigentlich erst später in die Menschheitszivilisation hinein. Und das hat dann dazu geführt, daß die Menschen überhaupt angefangen haben, alles aus kleinsten Teilen sich zusammengesetzt zu denken. Daraus kam die atomistische Theorie in der Physik. Die kommt nur aus der Erziehung. Unsere hohen Gelehrten würden gar nicht so sprechen von diesen winzigen kleinen Karikaturen von Dämonen - denn es sind Karikaturen von Dämonen -, von den Atomen, wenn man sich nicht in der Erziehung daran gewöhnt hätte, aus Teilen alles zusammenzusetzen. So ist der Atomismus gekommen. Wir kritisieren heute den Atomismus; aber eigentlich sind die Kritiken ziemlich überflüssig, weil die Menschen nicht loskommen von dem, was sie sich seit vier bis fünf Jahrhunderten angewöhnt haben verkehrt zu denken: Statt von dem Ganzen in die Teile hinein zu denken, von den Teilen auf das Ganze zu denken.“ (Lit.: GA 311, S. 84f)

Dass die Welt auch aus physikalischer Sicht letztlich als Ganzheit zu betrachten ist, hat der Physiker Hans-Peter Dürr nachdrücklich betont.

„So steht das Getrennte (etwa durch die Vorstellung isolierter Atome) nach neuer Sichtweise nicht am Anfang der Wirklichkeit, sondern näherungsweise Trennung ist mögliches Ergebnis einer Strukturbildung, nämlich: Erzeugung von Unverbundenheit durch Auslöschung im Zwischenbereich (Dürr 1992). Die Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen ergeben sich also nicht erst sekundär als Wechselwirkung von ursprünglich Isoliertem, sondern sind Ausdruck einer primären Identität von allem. Eine Beziehungsstruktur entsteht also nicht nur durch Kommunikation, einem wechselseitigen Austausch von Signalen, verstärkt durch Resonanz, sondern gewissermaßen auch durch Kommunion, durch Identifizierung...

Die holistischen Züge der Wirklichkeit, wie sie in der neuen fundamentalen Struktur der Materie zum Ausdruck kommen, bieten hierbei die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die für uns wesentlichen Merkmale des Lebendigen dabei nicht zu mechanistischen Funktionen verstümmelt werden.“ (Lit.: Dürr 1997)

Diese Aussage entspricht dem Konzept der modernen Quantentheorie. Der Chemiker Hans Primas betonte daher:

„Wenn wir die Quantenmechanik für eine gute Theorie der Materie halten, dann ist die Aussage «Die Materie ist aufgebaut aus elementaren Bausteinen» naturwissenschaftlich falsch. Entscheidend ist nicht die Tatsache, dass die Atome der Chemiker weiter teilbar sind – das wäre eine triviale Nomenklaturfrage –, sondern dass die materielle Realität ein Ganzes ist, das überhaupt nicht aus Teilen aufgebaut ist.“ (Lit.: Primas, S. 50)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Goethe-HA Bd. 13, S 56f
  2. Goethe: Fragmente zur vergeichenden Anatomie