Marsilius von Padua

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Marsilius von Padua (unten Mitte) überreicht einer Gruppe von Gelehrten seinen Defensor pacis. Links oben der Kaiser, rechts oben der Papst. Buchmalerei in der Prachthandschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 14620, fol. 3r (15. Jahrhundert)

Marsilius von Padua (italienisch Marsilio da Padova, ursprünglich Marsiglio de’ Mainardini, mittellateinisch latinisiert Marsilius Paduanus; * um 1285/1290 in Padua; † 1342/1343 in München) war ein italienischer Staatstheoretiker, Politiker und Publizist.

Allgemeines

Marsilius studierte aristotelische Philosophie, Medizin und Theologie an der Pariser Universität, an der er anschließend eine Lehrtätigkeit aufnahm. In Paris verfasste er sein umfangreiches staatstheoretisches Hauptwerk, den 1324 vollendeten Defensor pacis (Verteidiger des Friedens), in dem er heftige Kritik am politischen Machtanspruch des Papsttums übte und den amtierenden Papst Johannes XXII. scharf angriff. Um die Mitte der 1320er Jahre übersiedelte er nach Bayern, um sich in den Dienst des römisch-deutschen Königs Ludwig IV. zu stellen, der mit Johannes XXII. im Streit lag. Nach dem Bekanntwerden der Ideen des Defensor pacis wurde er vom Papst exkommuniziert und als Häretiker verurteilt. Marsilius begleitete Ludwig auf dessen Romzug 1327–1328 als Berater und übernahm politische Aufträge. Nach der Rückkehr aus Italien verbrachte er seine restliche Lebenszeit in München, wo er seinen Kampf gegen die weltliche Macht der römischen Kirche fortsetzte.

In seiner politischen Theorie entwarf Marsilius das Modell eines von kirchlicher Bevormundung freien, autonomen Staates, in dem die Staatsgewalt letztlich vom Volk ausgeht und die Regierung mit der Vollstreckung des Volkswillens beauftragt ist und der Kontrolle durch das Volk oder dessen gewählte Beauftragte unterliegt. Ein solcher Staat kann dem Konzept zufolge eine Republik oder eine Monarchie sein; in letzterem Fall soll die Königswürde nicht vererbt, sondern durch Wahl erlangt werden, wobei das Wahlgremium durch ein Volksmandat legitimiert sein soll. Die Entscheidungsgewalt der Stimmbürger über die Gesetzgebung und die Ämterbesetzung unterliegt im Prinzip keiner Einschränkung, doch kann das Volk nach Belieben einzelne Funktionen delegieren. Bei Uneinigkeit in der Bürgerschaft soll der „gewichtigere Teil“ entscheiden.

Im Rückgriff auf die Staatstheorie des Aristoteles begründete Marsilius seine Thesen ausführlich mit den Mitteln der scholastischen Argumentationsweise. Den Zweck der staatlichen Gemeinschaft sah er darin, befriedigende Lebensverhältnisse zu gewährleisten und damit Wohlstand und „bürgerliches Glück“ zu ermöglichen. Die Voraussetzung dafür sei der auf Rechtssicherheit beruhende innere Frieden in der Bürgerschaft. Dieser sei hauptsächlich durch die Privilegierung des Priesterstandes bedroht, denn die Machtgier der Geistlichen, vor allem der Päpste, habe die schlimmsten Streitigkeiten und Kämpfe herbeigeführt, die Herrschaft des Gesetzes untergraben und Italien ins Elend gestürzt. Daher müsse die kirchliche Sonderjustiz beseitigt werden, der Klerus sei uneingeschränkt der staatlichen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Für die Kirche forderte Marsilius die Abschaffung der hierarchischen Herrschaftsstruktur, Wahl der Amtsträger durch die Gemeinden oder durch vom Volk eingesetzte Gremien, Gleichberechtigung der Bischöfe untereinander und Beschränkung der päpstlichen Befugnisse auf ausführende Funktionen. Strittige Glaubensfragen seien durch ein allgemeines Konzil zu klären.

Die Wirkung der neuen Staatslehre blieb zu Lebzeiten ihres Urhebers und in den folgenden Jahrzehnten bescheiden. In der Frühen Neuzeit lieferte der Defensor pacis protestantischen Publizisten Argumente gegen das Papsttum. Ein neues Interesse erwachte in der Moderne; man rühmte Marsilius oft als Vorläufer neuzeitlicher Errungenschaften, der für Volkssouveränität, repräsentative Demokratie und Laizismus eingetreten sei. Historiker warnen jedoch vor einer unreflektierten Übertragung neuzeitlicher Begriffe auf spätmittelalterliche Verhältnisse. Unabhängig davon gilt der Defensor pacis heute als Klassiker des politischen Denkens.

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Siehe auch

Ausgaben und Übersetzungen

  • Colette Jeudy, Jeannine Quillet (Hrsg.): Marsile de Padoue: Œuvres Mineures. Defensor minor, De translatione Imperii. Éditions du CNRS, Paris 1979, ISBN 2-222-01926-5 (kritische Edition mit französischer Übersetzung).
  • Jürgen Miethke, Horst Kusch (Hrsg.): Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-534-74281-3 (lateinischer Text nach der Ausgabe von Richard Scholz ohne den kritischen Apparat, Übersetzung von Walter Kunzmann und Horst Kusch. Neudruck der Ausgabe von 1958 mit neuer Einleitung von Miethke).
  • Cary J. Nederman (Übersetzer): Marsiglio of Padua: Writings on the Empire. Defensor minor and De translatione Imperii. Cambridge University Press, Cambridge 1993, ISBN 0-521-40846-6 (englische Übersetzung).
  • Carlo Pincin (Hrsg.): Marsilio da Padova: Defensor pacis nella traduzione in volgare fiorentino del 1363. Einaudi, Turin 1966 (kritische Edition).
  • Carlo Pincin: Marsilio. Giappichelli, Turin 1967 (enthält S. 261–283 eine kritische Edition der drei Schriften zum Eherecht).
  • Charles William Previté-Orton (Hrsg.): The Defensor Pacis of Marsilius of Padua. Cambridge University Press, Cambridge 1928 (kritische Edition).
  • Richard Scholz (Hrsg.): Marsilius von Padua: Defensor Pacis. Hahn, Hannover 1933 (kritische Edition; online).

Literatur

Übersichtsdarstellungen

Gesamtdarstellungen

  • Bernardo Bayona Aznar: Religión y poder. Marsilio de Padua: ¿La primera teoría laica del Estado? Biblioteca Nueva, Madrid 2007, ISBN 978-84-9742-736-4.
  • Carlo Dolcini: Introduzione a Marsilio da Padova. Laterza, Rom/Bari 1995, ISBN 88-420-4626-4
  • Carlo Pincin: Marsilio. Giappichelli, Turin 1967.

Aufsatzsammlungen

  • Gerson Moreno-Riaño, Cary J. Nederman (Hrsg.): A Companion to Marsilius of Padua. Brill, Leiden/Boston 2012, ISBN 978-90-04-18348-3.
  • Gerson Moreno-Riaño (Hrsg.): The World of Marsilius of Padua. Brepols, Turnhout 2006, ISBN 2-503-51515-0.
  • Marsilio da Padova. Convegno internazionale (Padova, 18–20 settembre 1980) (= Medioevo. Rivista di storia della filosofia medievale, Bände 5 [1979] und 6 [1980]). Antenore, Padua 1982.

Politische Philosophie

  • Alan Gewirth: Marsilius of Padua, The Defender of Peace. Band 1: Marsilius of Padua and Medieval Political Philosophy. Columbia University Press, New York 1951.
  • Jürgen Miethke: Marsilius von Padua. Die politische Philosophie eines lateinischen Aristotelikers des 14. Jahrhunderts. In: Hartmut Boockmann, Bernd Moeller, Karl Stackmann (Hrsg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 bis 1987 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse. Folge III, Nr. 179). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 3-525-82463-7, S. 52–76.
  • Cary J. Nederman: Community and Consent. The Secular Political Theory of Marsiglio of Padua’s Defensor Pacis. Rowman & Littlefield, Lanham 1995, ISBN 0-8476-7944-6.
  • Jeannine Quillet: La philosophie politique de Marsile de Padoue. Vrin, Paris 1970.
  • Vasileios Syros: Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. Eine Untersuchung zur ersten Diktion des Defensor pacis. Brill, Leiden/Boston 2007, ISBN 978-90-04-16874-9.

Politische Aktivität

  • Frank Godthardt: Marsilius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern. Politische Theorie und politisches Handeln (= Nova mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter. Bd. 6). V&R unipress, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89971-563-7.

Rezeption

  • Gregorio Piaia: Marsilio da Padova nella Riforma e nella Controriforma. Fortuna ed interpretazione. Antenore, Padua 1977.
  • Stefano Simonetta: Marsilio in Inghilterra. Stato e chiesa nel pensiero politico inglese fra XIV e XVII secolo. LED, Mailand 2000, ISBN 88-7916-138-5.

Weblinks

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