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Johannes Müller (Physiologe)
Johannes Peter Müller (* 14. Juli 1801 in Koblenz; † 28. April 1858 in Berlin) war ein deutscher Mediziner, Physiologe und vergleichender Anatom bzw. Zoologe sowie Meeresbiologe und Naturphilosoph. Er gilt als der bedeutendste Physiologe des 19. Jahrhunderts.
Leben
In seinem Geburtsort besuchte Müller als Schüler von Joseph Görres das Gymnasium. Nach Beendigung der Schulzeit diente Müller ein Jahr bei den Pionieren in Koblenz, bevor er sich 1819 an der Bonner Universität für Medizin immatrikulierte. Dort war er u. a. Schüler des Anatomen und Physiologen August Franz Josef Karl Mayer.
Noch als Student erstellte er eine wissenschaftliche Arbeit über die Atmung des Fötus, die von der Universität preisgekrönt wurde und 1823 im Druck erschien. Müller schloss 1822 mit der Promotion ab und wechselte an die Universität Berlin, wo er die Vorlesungen des Anatomen Karl Asmund Rudolphi (1771–1832) besuchte. 1824 habilitierte Müller sich dann in Bonn für Physiologie und vergleichende Anatomie. Im gleichen Jahr wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt. 1826 erhielt er den Titel eines außerordentlichen Professors und wurde 1830 Ordinarius. Bereits während seiner Habilitation erschienen 1826 seine beiden umfangreichen Werke Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns und Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Trotz eines Rufs nach Freiburg blieb er bis 1833 an der Bonner Universität. Dann wurde er Nachfolger von Rudolphi in Berlin. Dort gab er von 1833 bis 1840 sein berühmt gewordenes Handbuch der Physiologie heraus, das zu einem Welterfolg wurde. Er forschte grundlegend zur Anatomie und Zoologie.
1849 wurde Müller in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Er erhielt 1853 den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst[1] und 1854 die Copley-Medaille der Royal Society in London und den Prix Cuvier der Pariser Akademie.
In den letzten Lebensjahren wurde Müller immer wieder von Depressionen befallen. Am Morgen des 28. April 1858 wurde er in seiner Berliner Wohnung tot aufgefunden; seine Todesursache blieb unbekannt. Rudolf Virchow hielt bei der Trauerfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität Berlin die Gedächtnisrede. Ernst Haeckel setzte die von Müller in seinem Todesjahr veröffentlichte Arbeit zur Beschreibung der Strahlentierchen (Radiolarien) fort.
Werk
Müller gilt als einer der großen Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk „von epochaler Bedeutung“[2] ist das Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, zwei Bände in drei Teilen (1833, 1834, 1840). Haeckel bezeichnete ihn als den „bedeutendsten deutschen Biologen des 19. Jahrhunderts“.[3] Eine 1872 publizierte Zoologiegeschichte nennt ihn namentlich im Titel: Geschichte der Zoologie bis auf Joh. Müller und Charl. Darwin.[4]
Müller begründete auch die Erforschung der im Meer treibenden Lebewesen, die er auf Zuraten von Jacob Grimm Auftrieb nannte (heute auf Vorschlag Victor Hensens als Plankton bezeichnet). 1832 machte er erste mikroskopische Untersuchungen.[5] Die daraus 1846 entstandene wissenschaftliche Disziplin der Planktonforschung auf der damals britischen Insel Helgoland mündete mit einer Schule von faunistisch arbeitenden Meeresbiologen und deren Arbeit 1892 in der Gründung der Königlich Preußischen Biologischen Anstalt auf Helgoland, der heutigen Biologischen Anstalt Helgoland. Die von Müller verwendeten und weiterentwickelten Fanggeräte für Plankton waren entscheidende Hilfsmittel, die der Meeresforschung einen methodischen Paradigmenwechsel bescherten, wie später erst wieder das Flaschentauchen. Er ist der Erstbeschreiber der Radiolaria, einer Gruppe mariner Einzeller, die mikroskopisch kleine Skelettstrukturen aufweisen. Seine Beschreibung der Regelhaftigkeit des Skelettaufbaus der Untergruppe Acantharia wurde später als Müllersches Gesetz bekannt: „Man erhält daher [..] für die Acanthometren mit 20 Stacheln dieselbe Formel, dass zwischen zwei stachellosen Polen 5 Gürtel von Stacheln stehen, jeder von 4 Stacheln, alle nach dem gemeinschaftlichen Centrum der ganzen Sphäre gerichtet, und dass die Stacheln jedes Gürtels mit dem vorhergehenden alterniren.“[6] Die im Plankton vorkommende Larvenform der Strudelwürmer wurde nach ihrer Entdeckung Müllersche Larve benannt.
1826 formulierte er das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, das ausdrückt, dass jedes Sinnesorgan auf Reize verschiedener Qualität nur in der ihm eigenen Weise reagiert. So reagiert das Auge auch auf Druck mit einer Lichtempfindung (Sternchen sehen). Hieraus zog er den Schluss, dass die uns umgebende objektive Realität nicht richtig erkannt oder widergespiegelt werden könne. Geradezu als Schlüsselwerk hierfür kann seine Synapta-Arbeit (1852) gelten, in der er die Entstehung von Schneckenlarven in einem Organ einer Seegurke als Generationswechsel (zwischen zwei Tierklassen!) deutet (statt als Parasitismus), womit ihm sein früher klar naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild unhaltbar zu werden schien. In letzter Instanz stellte er damit die Erkennbarkeit der Welt generell in Frage. Der Philosoph Ludwig Feuerbach kritisierte dies als physiologischen Idealismus. In jüngerer Zeit erhielt der physiologische Idealismus wieder Auftrieb in den Arbeiten der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela (siehe Autopoiesis), die ihrerseits die zeitgenössische Philosophie und Soziologie stark beeinflussten (Konstruktivismus, Postmoderne, Systemtheorie).
Müller starb im Jahr vor dem Erscheinen des Hauptwerkes von Charles Darwin. Das Thema der Entstehung der Arten wurde aber auch schon vorher manchmal thematisiert; Müllers Antwort auf eine diesbezügliche Frage von Haeckel kennzeichnet eine damals verbreitete Einschätzung:
- „Ja, da stehen wir vor lauter Rätseln! Vom Ursprung der Arten wissen wir gar nichts!“ (1854)[7]
Erstbeschreibungen
- Ordnung: Ophiurida MÜLLER & TROSCHEL 1840
Veröffentlichungen
Neben seinem Handbuch der Physiologie veröffentlichte er unter anderem folgende Arbeiten:
- Zur Physiologie des Fötus (1824; PDF; 3,0 MB)
- Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns (1826)
- Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen (1826) Digitalisat und Volltext
- Bildungsgeschichte der Genitalien (1830), in der er die Entwicklung des Müller-Gangs beschrieb
- De glandularum secernentium structura penitiori (1830)
- Beiträge zur Anatomie und Naturgeschichte der Amphibien (1832)
- Vergleichende Anatomie der Myxinoiden (1834–1843)
- Handbuch der Physiologie des Menschen, dritte verbesserte Auflage. 2 Bände. (1837-1840)
- Ueber den feinern Bau und die Formen der krankhaften Geschwülste (1838)
- Über die Compensation der physischen Kräfte am menschlichen Stimmorgan (1839)
- mit Franz Hermann Troschel: Über die Gattungen der Ophiuren. Archiv für Naturgeschichte, 6, Berlin 1840, S. 327–330
- Systematische Beschreibung der Plagiostomen (1841), mit Friedrich Gustav Jakob Henle
- mit Franz Hermann Troschel: System der Asteriden (1842)
- Horae ichthyologicae: Beschreibung und Abbildung neuer Fische, 2 T. (1845–1849), mit demselben
- Über Synapta digitata und über die Entstehung von Schnecken in Holothurien (1852).
Nach dem Tod von J. F. Meckel (1781–1833) editierte er das Archiv für Anatomie und Physiologie.
Schüler
Zu seinen Schülern und Mitarbeitern gehörten:
- Emil du Bois-Reymond
- Ernst Haeckel
- Hermann von Helmholtz
- Friedrich Gustav Jakob Henle
- Albert von Kölliker
- Wilhelm Peters
- Theodor Schwann
- Rudolf Virchow
- Wilhelm Wundt.
Ehrungen
- 1894: Benennung der Johannes-Müller-Straße in der Südlichen Vorstadt von Koblenz
- 1899: Johannes-Müller-Denkmal in Koblenz
- 2015: Benennung des Johannes-Müller-Jahrganges 2015/2016 in Humanmedizin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn[8]
Literatur
- Ilse Jahn: Müller, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 425 f. (Digitalisat).
- Hermann Munk: Müller, Johannes. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 22, Leipzig 1885, S. 625–628.
- Margit Ksoll: Müller, Johannes Peter In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 6, Bautz, Herzberg 1993, ISBN 3-88309-044-1, Sp. 271–274.
- Karl Post: Johannes Müller's philosophische Anschauungen. (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 21), Max Niemeyer, Halle/S. 1905 (Nachdruck Olms, Hildesheim 1999).
- Wilhelm Haberling: Johannes Müller. Das Leben des Rheinischen Naturforschers. Akad. Verlagsgesellschaft, Leipzig, 1924.
- H. W. Haggard: The Conception of Cancer Before and After Johannes Müller. In: Bulletin of the New York Academy of Medicine. Band 14, Nummer 4, April 1938, S. 183–197, ISSN 0028-7091. PMID 19312055. PMC 1911260 (freier Volltext).
- Gottfried Koller: Das Leben des Biologen Johannes Müller. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1958
- Laura Otis: Müller's Lab. New York 2007
- Karl Eduard Rothschuh: Geschichte der Physiologie. Göttingen/Berlin/Heidelberg 1953, S. 112–117.
- Peter Schmidt: Zu den geistigen Wurzeln von Johannes Müller (1801-1858). Eine quantitative Analyse der im Handbuch der Physiologie von J. Müller (1840–1844) zitierten und verwerteten Autoren. In: Münstersche Beiträge zur Geschichte und Theorie der Medizin Nr.9, 1973.
Siehe auch
Weblinks
- Literatur von und über Johannes Müller (Physiologe) im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Der 14. Juli 1801. Johannes Müller in Koblenz geboren. in: Landeshauptarchiv Koblenz
- Kurzbiografie und Verweise auf digitale Quellen im Virtual Laboratory des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (englisch)
Einzelnachweise
- ↑ Hans Körner: Der Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst und seine Mitglieder. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 47, 1984, S. 299–398. Online unter: http://periodika.digitale-sammlungen.de/zblg/kapitel/zblg47_kap28
- ↑ Holger Münzel: Max von Frey. Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung seiner sinnesphysiologischen Forschung. Würzburg 1992 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 53), ISBN 3-88479-803-0, insbesondere S. 175–207 (Kurzbiographien), hier: S. 197.
- ↑ Ernst Haeckel: Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken. 3 Vorträge. Reimer, Berlin 1905, S. 23.
- ↑ Julius Victor Carus: München 1872.
- ↑ Darmstädter, S. 852 (PDF; 2,6 MB)
- ↑ Johannes Müller: Über die Thalassicollen, Polycystinen und Acanthometren des Mittelmeeres, Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1858, S. 12
- ↑ So berichtet von Haeckel: Kampf, S. 24. Vgl. dazu [[Wikipedia:Franz Stuhlhofer|]]: Charles Darwin – Weltreise zum Agnostizismus. 1988, S. 110–133: „Aufnahme des Darwinismus in Deutschland“.
- ↑ Einladung der Fakultät zur Begrüßungsveranstaltung des Jahrganges
Dieser Artikel basiert auf einer für AnthroWiki adaptierten Fassung des Artikels Johannes Müller (Physiologe) aus der freien Enzyklopädie de.wikipedia.org und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar. |