Höhlengleichnis

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Das Höhlengleichnis ist wohl das berühmteste Gleichnis Platons und durch seine dichterische Kraft und Ausdrucksform das berühmteste Lehrstück der Philosophie und der Lehre der Philosophie. Es steht am Beginn des siebten Buches der Politeia, die um 380 v. Chr. entstanden ist. Platons Lehrer Sokrates verdeutlicht darin gegenüber dem Dialogpartner Glaukon den Bildungsweg des Philosophen, der gemäß dem Dialog als einziger den Staat führen könne. Eingebettet ist dieses Gleichnis in die Frage Glaukons nach dem Wesen des Guten und den beiden vorhergehenden Gleichnissen, dem Sonnengleichnis und dem Liniengleichnis, die beide das Höhlengleichnis vorbereiten.

Inhalt des Gleichnisses

Jan Saenredam: Antrum Platonicum („Die platonische Höhle“), Kupferstich (1604) nach dem nicht erhaltenen Ölgemälde von Cornelis van Haarlem (1598).

Sokrates beschreibt eine unterirdische, höhlenartige Behausung, von der aus ein rauer und steiler Gang nach oben zur Erdoberfläche führt. Der Gang ist ein Schacht, der in Höhe und Breite der Höhle entspricht.[1] In der Höhle leben Menschen, die dort ihr ganzes Leben als Gefangene verbracht haben. Sie sind sitzend an Schenkeln und Nacken so festgebunden, dass sie immer nur nach vorn auf die Höhlenwand blicken und ihre Köpfe nicht drehen können. Daher können sie den Ausgang, der sich hinter ihren Rücken befindet, nie erblicken und von seiner Existenz nichts wissen. Auch sich selbst und die anderen Gefangenen können sie nicht sehen; das Einzige, was sie je zu Gesicht bekommen, ist die Wand, der sie zugedreht sind. Erhellt wird ihre Behausung von einem Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt. Die Gefangenen sehen nur dieses Licht, das die Wand beleuchtet, nicht aber dessen Quelle. Auf der Wand sehen sie Schatten.[2]

Zwischen dem Inneren des Gefängnisses und dem Feuer befindet sich eine kleine Mauer, die nicht so hoch ist, dass sie das Licht des Feuers abschirmt. Längs der Mauer tragen Menschen unterschiedliche Gegenstände hin und her, Nachbildungen menschlicher Gestalten und anderer Lebewesen aus Stein und aus Holz.[3] Diese Gegenstände ragen über die Mauer hinaus, ihre Träger aber nicht. Manche Träger unterhalten sich miteinander, andere schweigen.[4]

Da die bewegten Gegenstände auf die Höhlenwand, der die Gefangenen zugewendet sind, Schatten werfen, können die Höhlenbewohner die bewegten Formen schattenhaft wahrnehmen. Von den Trägern ahnen sie aber nichts. Wenn jemand spricht, hallt das Echo von der Höhlenwand so zurück, als ob die Schatten sprächen. Daher meinen die Gefangenen, die Schatten könnten sprechen. Sie betrachten die Schatten als Lebewesen und deuten alles, was geschieht, als deren Handlungen. Das, was sich auf der Wand abspielt, ist für sie die gesamte Wirklichkeit und schlechthin wahr. Sie entwickeln eine Wissenschaft von den Schatten und versuchen in deren Auftreten und Bewegungen Gesetzmäßigkeiten festzustellen und daraus Prognosen abzuleiten. Lob und Ehre spenden sie dem, der die besten Voraussagen macht.[5]

Nun bittet Sokrates Glaukon sich vorzustellen, was geschähe, wenn einer der Gefangenen losgebunden und genötigt würde, aufzustehen, sich umzudrehen, zum Ausgang zu schauen und sich den Gegenständen selbst, deren Schatten er bisher beobachtet hat, zuzuwenden. Diese Person wäre schmerzhaft vom Licht geblendet und verwirrt. Sie hielte die nun in ihr Blickfeld gekommenen Dinge für weniger real als die ihr vertrauten Schatten. Daher hätte sie das Bedürfnis, wieder ihre gewohnte Position einzunehmen, denn sie wäre überzeugt, nur an der Höhlenwand sei die Wirklichkeit zu finden. Gegenteiligen Belehrungen eines wohlgesinnten Befreiers würde sie keinen Glauben schenken.[6]

Wenn man den Befreiten nun mit Gewalt aus der Höhle schleppte und durch den unwegsamen und steilen Aufgang an die Oberfläche brächte, würde er sich dagegen sträuben und wäre noch verwirrter, denn er wäre vom Glanz des Sonnenlichts geblendet und könnte daher zunächst gar nichts sehen. Langsam müsste er sich an den Anblick des Neuen gewöhnen, wobei er erst Schatten, dann Spiegelbilder im Wasser und schließlich die Menschen und Dinge selbst erkennen könnte. Nach oben blickend würde er sich erst mit dem Nachthimmel vertraut machen wollen, später mit dem Tageslicht, und zuletzt würde er es wagen, die Sonne unmittelbar anzusehen und ihre Beschaffenheit wahrzunehmen. Dann könnte er auch begreifen, dass es die Sonne ist, deren Licht Schatten erzeugt. Nach diesen Erlebnissen und Einsichten hätte er keinerlei Bedürfnis mehr, in die Höhle zurückzukehren, sich mit der dortigen Schattenwissenschaft zu befassen und dafür von den Gefangenen belobigt zu werden.[7]

Sollte er dennoch an seinen alten Platz zurückkehren, so müsste er sich erst wieder langsam an die Finsternis der Höhle gewöhnen. Daher würde er einige Zeit bei der dort üblichen Begutachtung der Schatten schlecht abschneiden. Daraus würden die Höhlenbewohner folgern, er habe sich oben die Augen verdorben. Sie würden ihn auslachen und meinen, es könne sich offenbar nicht lohnen, die Höhle auch nur versuchsweise zu verlassen. Wenn jemand versuchte, sie zu befreien und nach oben zu führen, würden sie ihn umbringen, wenn sie könnten.[8]

Text

„Stelle dir nämlich Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang habe, Menschen, die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich sitzenbleiben und nur vorwärts schauen, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen; das Licht für sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen; zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über die sie ihre Wunder zeigen.

Ich stelle mir das vor, sagte er.

So stelle dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen Leute allerhand über diese hinausragende Gerätschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen lebenden Wesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem Stoffe, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden ihre Stimme hören lassen, andere schweigen.

Ein wunderliches Gleichnis, sagte er, und wunderliche Gefangene!

Leibhaftige Ebenbilder von uns! sprach ich. Haben wohl solche Gefangene von ihren eigenen Personen und von einander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesichte gegenüberstehende Wand fallen?

Unmöglich, sagte er, wenn sie gezwungen wären, ihr ganzes Leben lang unbeweglich die Köpfe zu halten. Ferner, ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen ebenso?

Allerdings.

Wenn sie nun mit einander reden könnten, würden sie nicht an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden Schattenbildern, die sie sahen, dieselben Benennungen zu geben?

Notwendig.

Weiter: Wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegenüberstehenden Wand darböte, sooft jemand der Vorübergehenden sich hören ließe, - glaubst du wohl, sie würden den Laut etwas anderem zuschreiben als den vorüberschwebenden Schatten?

Nein, bei Zeus, sagte er, ich glaube es nicht.

Überhaupt also, fuhr ich fort, würden solche nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde?

Ja, ganz notwendig, sagte er.

Betrachte nun, fuhr ich fort, wie es bei ihrer Lösung von ihren Banden und bei der Heilung von ihrem Irrwahne hergehen würde, wenn solche ihnen wirklich zuteil würde: Wenn einer entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen, herumzugehen, in das Licht zu sehen, und wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren Schatten er vorhin zu sehen pflegte: was würde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, daß er vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen, daß er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man ihm dann nun auf jeden der vorüberwandernden wirklichen Gegenstände zeigen und ihn durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was er sei, - glaubst du nicht, daß er ganz in Verwirrung geraten und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche er jetzt gezeigt bekomme?

Ja, bei weitem, antwortete er.

Und nicht wahr, wenn man ihn zwänge, in das Licht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen an den Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann, und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher als die, welche er gezeigt bekam?

So wird's gehen, meinte er.

Wenn aber, fuhr ich fort, jemand ihn aus dieser Höhle mit Gewalt den rauhen und stellen Aufgang zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne herausgebracht hätte, - würde er da wohl nicht Schmerzen empfunden haben, über dieses Hinaufziehen aufgebracht werden und, nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können, die jetzt als wirkliche ausgegeben werden? Er würde es freilich nicht können, sagte er, wenn der Übergang so plötzlich geschähe.

Also einer allmählichen Gewöhnung daran, glaube ich, bedarf er, wenn er die Dinge über der Erde schauen soll. Da würde er nun erstlich die Schatten am leichtesten anschauen können und die im Wasser von den Menschen und den übrigen Wesen sich abspiegelnden Bilder, sodann erst die wirklichen Gegenstände selbst. Nach diesen zwei Stufen würde er die Gegenstände am Himmel und den Himmel selbst erst des nachts, durch Gewöhnung seines Blickes an das Sternen- und Mondlicht, leichter schauen als am Tage die Sonne und das Sonnenlicht.

Ohne Zweifel.

Und endlich auf der vierten Stufe, denke ich, vermag er natürlich die Sonne, das heißt nicht ihre Abspiegelung im Wasser oder in sonst einer außer ihr befindlichen Körperfläche, sondern sie selbst in ihrer Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen.

Ja, notwendig, sagte er.

Und nach solchen Vorübungen würde er über sie die Einsicht gewinnen, daß sie die Urheberin der Jahreszeiten und Jahreskreisläufe ist, daß sie die Mutter von allen Dingen im Bereiche der sichtbaren Welt und von allen jenen allmählichen Anschauungen gewissermaßen die Ursache ist.

Ja, entgegnete er, offenbar muß er zu diesen Einsichten nach jenen Vorübungen gelangen.

Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zurückdenkt und an die dortige Weisheit seiner Mitgefangenen: wird er da wohl nicht sich wegen seiner Veränderung glücklich preisen und jene bedauern?

Ja, sicher.

Und wenn damals bei ihnen Ehres- und Beifallsbezeugungen wechselseitig bestanden sowie Belohnungen für den schärfsten Beobachter der vorüberwandernden Schatten, feiner für das beste Gedächtnis daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte, und für die geschickteste Prophezeiung des künftig Kommenden: meinst du, daß er da danach Verlangen haben werde, daß er die bei jenen Höhlenbewohnern in Ehre Stehenden und Machthabenden beneidet? Oder daß es ihm geht, wie Homer sagt, und er viel lieber als Tagelöhner bei einem linderen dürftigen Manne das Feld bestellen und eher alles in der Welt über sich ergehen lassen will, als jene Meinungen und jenes Leben haben?

Letzteres glaube ich, sagte er, daß er nämlich sich eher allen Leiden unterziehen als jenes Leben führen wird.

Hierauf nun, fuhr ich fort, bedenke folgendes: Wenn ein solcher wieder hinunterkäme und sich wieder auf seinen Platz setzte: würde er da nicht die Augen voll Finsternis bekommen, wenn er plötzlich aus dem Sonnenlicht käme?

Ja, ganz sicherlich, sagte er.

Aber wenn er nun, während sein Blick noch verdunkelt wäre, wiederum im Erraten jener Schattenwelt mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekommen wären - und die zu dieser Gewöhnung erforderliche Zeit dürfte nicht ganz klein sein -: würde er da nicht ein Gelächter veranlassen, und würde es nicht von ihm heißen, weil er hinaufgegangen wäre, sei er mit verdorbenen Augen zurückgekommen, und es sei nicht der Mühe wert, nur den Versuch zu machen, hinaufzugehen? Und wenn er sich gar erst unterstände, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, - würden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die Hände bekommen und ermorden könnten?

Ja, gewiß, antwortete er.“

Platon: Politeia VII, 514a-517a[9]

Erläuterungen zu dem Gleichnis

Der losgebundene Mensch steht für den Philosophen, der auf dem Weg der Anamnesis zu Weisheit gelangt. Dies den festgebundenen, also noch unaufgeklärten Menschen zu vermitteln, bedeutet ein großes Kommunikationsproblem, das im Falle des Sokrates sogar dessen Verurteilung zum Tode nach sich zog.

Als Ganzes stellt das Höhlengleichnis eine anschauliche und dramatische Zusammenfassung von Platons Ideenlehre dar. Nach dieser hat jedes sinnliche Ding ein immaterielles, ideelles Urbild, dessen bloßes Abbild es ist.

Literatur

  • Schubert, Andreas: Platon: Der Staat. Paderborn 1995, ISBN 3-8252-1866-x
  • Karl-Martin Dietz: Metamorphosen des Geistes. Freies Geistesleben, Stuttgart 2004, Band 1: Prometheus der Vordenker: Vom göttlichen zum menschlichen Wissen. Band 2: Platon und Aristoteles. Das Erwachen des europäischen Denkens. Band 3: Heraklit von Ephesus und die Entwicklung der Individualität. Freies Geistesleben, Stuttgart, 2004, ISBN 3-7725-1300-X.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Der Staat, Zürich 1950, S. 545 (Anm. 2 zu S. 353).
  2. Platon, Politeia 514a–515b.
  3. Siehe zu diesen Gegenständen Karl Bormann: Zu Platon, Politeia 514 b 8 – 515 a 3. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 43, 1961, S. 1–14, hier: 1–4.
  4. Platon, Politeia 514b–515a.
  5. Platon, Politeia 515a–c, 516c–e.
  6. Platon, Politeia 515c–e.
  7. Platon, Politeia 515e–516e.
  8. Platon, Politeia 516e–517a.
  9. Platon: Sämtliche Werke. Band 2, Berlin 1940, S. 248-288 (zeno.org)
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