Geschichte der Soziologie

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Franz Oppenheimer (1864–1943) ist – von Ludwig Erhard als Bundeskanzler durchgesetzt – der einzige Soziologe, der bislang auf einer deutschen Briefmarke erschien.

Die Geschichte der Soziologie ist die Geschichte der Wissenschaft Soziologie. Im engeren Sinne begann die Geschichte der Soziologie Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Arbeiten von Auguste Comte. Davor gab es in einem weiteren Sinne schon seit dem Altertum Theorien zu Funktion und Entwicklung der Gesellschaft. Prägend für die Soziologie bis in die Gegenwart waren im frühen 20. Jahrhundert insbesondere Max Weber und Émile Durkheim.

Ursprünge

Die Entstehung der „Soziologie“ unter diesem Namen ist eng mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaftsformation im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts sowie mit der sich bildenden Industriegesellschaft verbunden.

Protosoziologie

Doch treten soziologische Analysen schon auf, seit in der Antike Autoren Werke stark soziologischen Charakters geschrieben haben. Nennen lassen sich etwa Xenophánes, Polýbios, Ibn Chaldun, Giambattista Vico und Adolph Freiherr Knigge.

Als Etablierung einer an Theorie und Empirie gebundenen Einzelwissenschaft, die sich nicht an Leitbildern orientierte, hatte die Soziologie ihren Ursprung in der Handlungstheorie Niccolò Machiavellis, in Adam Smiths epochalem Werk über den Reichtum der Nationen (1776), in Adam Ferguson und bei den Frühsozialisten wie Henri de Saint-Simon; ferner in den Handlungstheorien des deutschen Idealismus, die bis heute soziologische Erklärungen und ihre erkenntnistheoretischen Orientierungen beeinflussen. Tendenzen zu einer abstrakten Modellbildung zeichneten sich 1817 bei David Ricardo ab. Sie wurden allerdings erst um 1870 mit dem Entstehen einer mathematisch begründeten Lehre vom subjektiven Nutzen und vom Marktgleichgewicht bedeutend.[1]

Unmittelbare Vorläufer sind die Geschichtswissenschaft, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, aber auch der Journalismus und die Policeywissenschaften.

Auch ihr Vorläufer Karl Marx wird heute als soziologischer Klassiker gelesen, ebenso legte Friedrich Engels mit „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ schon um 1844 eine wichtige, wenn auch ‚engagierte‘ soziologische Studie vor. Marx und Engels ist eine Mitbegründung der modernen Soziologie zumal deshalb zuzuordnen, weil beide in ihrem Buch von 1845, Die deutsche Ideologie, sich klar von der Philosophie (besonders Hegels) los sagen und eine „positive Wissenschaft“ begründen, die allerdings die empirische Analyse der Wirklichkeit und Tatsachen prozessual interpretieren soll, wobei die Dialektik zu einer spezifisch Marxschen Dialektik wird, die kaum mehr meint als den gesellschaftlichen Prozess im Sinne sozialer Evolution. Ein simpler Positivismus wird dabei vermieden.

Soziologie seit Comte

Das Wort „Soziologie“ aber prägte erst Auguste Comte Mitte des 19. Jahrhunderts – zusammengesetzt aus dem lateinischen socius (gemeinsam) und dem griechischen λόγος (lógos, Wort). Ihm schwebte eine Art soziale Physik vor, eine auf einigen wenigen Universalgesetzen aufbauende („positive“) Naturwissenschaft des Sozialen. Comtes Ideen verwarf man recht schnell wieder – sein Begriff „Soziologie“ blieb.

Als Begründer der Soziologie werden im heutigen Fachdiskurs insbesondere Max Weber und Émile Durkheim herausgehoben. In ihren Anfängen etabliert haben die Soziologie ebenso der Engländer Herbert Spencer, der Pole Ludwig Gumplowicz, der Italiener Vilfredo Pareto sowie die Deutschen Ferdinand Tönnies und Georg Simmel.

In Großbritannien wurde 1895 die London School of Economics gegründet. Sie kann als Durchbruch für eine in Theorie und Faktenforschung integrierende Gesellschaftslehre gelten. In den USA wurde 1892 an der Universität Chicago das erste Department für Soziologie geschaffen.[2]

Entwicklung in Deutschland

In Deutschland erschien 1887 die erste Studie zur Begründung des heutigen Fachs Soziologie, „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies. Er gilt, zusammen mit Georg Simmel und Max Weber, als Begründer der deutschsprachigen Soziologie und war bis 1933 erster Präsident der bereits 1909 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Die erste ordentliche Soziologie-Professur hatte in der neu ausgerufenen Republik Deutschland seit 1919 Franz Oppenheimer inne.

Die Soziologie im oben beschriebenen Sinn konnte sich in Deutschland im Nationalsozialismus nicht weiter entwickeln: selbst einen Hochbetagten wie Tönnies warfen sie aus dem Dienst. Viele andere, jüngere, teilweise jüdische Soziologen, zur Emigration gezwungen, leisteten später wichtige Beiträge zur Entwicklung des Fachs in den USA, aber auch z. B. in der Schweiz, im Exil in der Türkei und in Neuseeland. Die Fachkollegin Hanna Meuter, ebenfalls Opfer der Beamtengesetze von 1933, bedauerte 1948, dass „von den ehemals 150 Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie über die Hälfte, nicht unbeeinflußt durch die Vernichtungsverfahren der Zeit, heute nicht mehr unter uns sind.“

Andererseits wurde die sogenannte „Deutsche Soziologie“ unter den Nationalsozialisten in einigen Bereichen der Empirie ausgebaut und als ideologische Stütze der Weltanschauung, wie andere Wissenschaften auch, instrumentalisiert. Es gab also durchaus eine Soziologie im Nationalsozialismus. Lehrstühle an deutschen Hochschulen wurden zum Teil in solche für Philosophie (Arnold Gehlen), Politische Wissenschaften (Hans Freyer) oder Anderes umbenannt. Viele Soziologieprofessoren waren Mitglieder der NSDAP oder von ihr dominierter Standesorganisationen, wie dem NS-Dozentenbund.

Bis in die 1960er Jahre waren soziologische Lehrstühle, gemessen am späteren Ausbau, relativ selten, dann gewann die Soziologie an gesellschaftlicher Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland; auf Grund dessen und in der Politik der Bildungsexpansion kam es zu zahlreichen Lehrstuhl- und Institutsgründungen. Zu erwähnen ist hier insbesondere die von dem damals sehr einflussreichen, aber auch wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit umstrittenen Soziologen Helmut Schelsky inaugurierte Universitätsneugründung Bielefeld, die bis heute als soziologisches Schwergewicht gilt. Im Zuge der Studentenbewegung nahm in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Zahl der Soziologiestudenten sprunghaft zu.

In der DDR wurde die sogenannte bürgerliche Soziologie massiv angefeindet. Man etablierte eine marxistisch-leninistische Soziologie, die auch in die BRD hineinwirkte. Außerdem gab es eine zu Beginn der 1960er Jahre entstandene, eng gefasste Soziologie in der DDR. Mit dem Zusammenbruch der DDR kam es dort zu zahlreichen neuen Professuren. Inzwischen fallen soziologische Lehrstühle und teilweise ganze Institute vermehrt dem Rotstift zum Opfer.

Einflussreich, auch auf die internationale soziologische Debatte, waren in der Nachkriegszeit zunächst Helmut Schelsky (vgl. die Leipziger Schule) und René König, ab etwa 1965 – und stärker noch – insbesondere die Frankfurter Schule (Kritische Theorie) mit Namen wie Theodor W. Adorno und später Jürgen Habermas und Oskar Negt. In der jüngeren Zeit ist insbesondere auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns hinzuweisen.

International

Einen besonders großen Beitrag zu Entwicklung der Soziologie haben französische Intellektuelle geleistet, beginnend mit Protosoziologen der Aufklärung wie Jean-Jacques Rousseau, dann Henri de Saint-Simon, über seinen Schüler Auguste Comte und Émile Durkheim, der sich über die gleichfalls bedeutenden Gabriel Tarde und Arnold van Gennep hinweg zu setzen vermochte, über Marcel Mauss und Maurice Halbwachs bis zu den zeitgenössischen französischen Soziologen und Philosophen wie Pierre Bourdieu, Jean Baudrillard und Michel Foucault.

Ferner sind aus Großbritannien Herbert Spencer, Max Gluckman und Anthony Giddens, aus Italien Vilfredo Pareto, aus Polen Ludwig Gumplowicz und Bronisław Malinowski, aus den Niederlanden Rudolf Steinmetz, aus Brasilien Gilberto Freyre zu nennen.

Für den nordamerikanischen Raum sind als wichtige Meilensteine der Entwicklung der Soziologie Thorstein Veblen, sodann die soziologische Chicagoer Schule um Robert Ezra Park, der von Talcott Parsons etablierte Strukturfunktionalismus und die stark an ökonomischen Prämissen orientierte Theorie der rationalen Entscheidung zu nennen. Anders in Großbritannien, wo eine den Folgeproblemen des Kolonialismus zu dankende leistungsfähige Social Anthropology (Ethnosoziologie) die Soziologie i. e. S. stark am Aufkommen hinderte. Auch der Symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie wurden aus den USA nach Deutschland gebracht.[3] Der Einfluss insbesondere der Soziologie der USA war bei der Wiederetablierung der Soziologie in der Bundesrepublik Deutschland deutlich spürbar – häufig in Form eines Reimports.

Soziologie ist heute eine weltweit institutionalisierte Wissenschaft. Dies zeigen die Existenz der International Sociological Association (ISA) und ihre Weltkongresse, sowie in ein zunehmender Blick über den Rand nationalstaatlicher 'Container' auf Weltgesellschaft und Globalisierungsprozesse. Einzelüberblicke, wie etwa zur indischen oder australischen Soziologie[4], sind jedoch noch selten.

Siehe auch

Literatur

  • Pierre Saint-Arnaud: African American Pioneers of Sociology: A Critical History, University of Toronto Press, 2009
  • Bálint Balla: Soziologie und Geschichte. Geschichte der Soziologie. Reinhold Krämer, Hamburg 1995.
  • Wolfgang Bonß: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982.
  • Craig Calhoun (Hrg.): Sociology in America. The ASA Centennial History, Chicago: University of Chicago Press, 2007
  • Michaela Christ und Maja Suderland (Hgg.): Soziologie und Nationalsozialismus: Positionen, Debatten, Perspektiven. Suhrkamp 2014, ISBN 3518297295.[5]
  • A. H. Halsey: A History of Sociology in Britain: Science, Literature, and Society. Oxford University Press 2004.
  • Hermann Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie. 8. überarb. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14774-9.
  • Georg Kneer, Stephan Moebius (Hrsg.): Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-518-29548-9.
  • Barbara Laslett, Barrie Thorne (Hrsg.): Feminist Sociology: Life Histories of a Movement. Rutgers University Press 1997, ISBN 0813524296
  • Wolf Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. 4 Bände, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-07967-0.
  • Heinz Maus: Geschichte der Soziologie. In: Werner Ziegenfuß (Hrsg.): Handbuch der Soziologie. Enke, Stuttgart 1956, S. 1–120.
  • Heinz Maus: Bericht über die Soziologie in Deutschland 1933–1945. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 11 (1959) 1, S. 72–99.
  • Heinz Maus: A Short History of Sociology. Routledge & Keagan Paul, London 1962.
  • Heinz Maus: Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung. In: René König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. I, Enke, Stuttgart 1967, S. 18–37.
  • Stephan Moebius: Praxis der Soziologiegeschichte. Methodologien, Konzeptionalisierung und Beispiele soziologiegeschichtlicher Forschung. Kovac, Hamburg 2004, ISBN 3-8300-1323-X.
  • Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937–1939). UVK, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-532-0.
  • Stephan Moebius, Andrea Ploder (Hrsg.): Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Band 1: Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-07614-6.
  • Stephan Moebius, Andrea Ploder (Hrsg.): Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Band 2: Forschungsdesign, Theorien und Methoden, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-07607-8.
  • Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. StudienVerlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, ISBN 978-3-7065-4347-7.
  • Dorothy Ross: The Origins of American Social Science, Cambridge University Press, 1991, Reprint 2008
  • Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. dtv, München 2001, ISBN 3-423-30174-0.
  • Hans Zeisel: Zur Geschichte der Soziographie. In: Marie Jahoda, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit […]. m. e. Vorw. v. Paul F. Lazarsfeld, (Erstausgabe 1933), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975 (= ed. suhrkamp 769), S. 113–142, 145–148.

Zeitschriften und Jahrbücher

  • Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Leske + Budrich, Opladen seit 1990, ISSN 0939-6152
  • Current Sociology. Jg. 50, H. 1, Special issue on: Latin American sociology. (Gast-Hrsg.) Roberto Briceño-León, London u. a. Sage, 2002.
  • Revue d'histoire des sciences humaines.
  • Social Science History. Zeitschrift der Social Science History Association

Weblinks

Erläuterungen

  1. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. C. H. Beck. 2 Aufl. der Sonderausgabe 2016. ISBN 978 3 406 61481 1. S. 55
  2. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. C. H. Beck. 2 Aufl. der Sonderausgabe 2016. ISBN 978 3 406 61481 1. S. 56
  3. Hinzuweisen ist auf die vom deutschen Sprachgebrauch divergierenden Unterscheidungen zwischen sociology, social theory, social und cultural anthropology.
  4. Vgl. hier jedoch die ISA-Zeitschrift International Sociology. Jg. 24, H. 5, 2009, S. 663–668, 669–681.
  5. Cord Riechelmann / FASZ 1. Mai 2015, S. 40: Die alltägliche Normalität der Gewalt (Rezension)


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