Abstraktion

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Die Abstraktion (von lat. abs-trahere „abziehen, entfernen, trennen“) bezeichnet einen Denkprozess, bei dem von konkreten einzelnen Objekten allgemeingültige Eigenschaften abgezogen, d.h. abstrahiert und zu Allgemeinbegriffen geformt werden. Von den Eigenschaften, die nur das einzelne Objekt betreffen, wird dabei abgesehen. Die Fähigkeit zur Abstraktion beruht auf der Intentionalität des Ich-Bewusstseins, wodurch die Aufmerksamkeit willentlich auf ein bestimmtes Objekt bzw. auf einzelne seiner Details oder die diesen entsprechenden inneren Vorstellungen gerichtet werden kann. Nur mit entsprechender Abstraktionsfähigkeit lassen sich sinnlichkeitsfreie Vorstellungen gewinnen, die grundlegend für die geistige Erkenntnis sind. Daher lautet auch eine der vier Grundregeln für den Geistesschüler: Es obliegt mir, die Scheu vor dem sogenannten Abstrakten zu überwinden.

„Solange ein esoterischer Schüler an Begriffen hängt, die ihr Material aus der Sinneswelt nehmen, kann er keine Wahrheit über die höheren Welten erlangen. Er muß sich bemühen, sinnlichkeitsfreie Vorstellungen sich anzueignen. Von allen vier Regeln ist diese die schwerste, insbesondere in den Lebensverhältnissen unseres Zeitalters. Das materialistische Denken hat den Menschen in hohem Grade die Fähigkeit genommen, in sinnlichkeitsfreien Begriffen zu denken. Man muß sich bemühen, entweder solche Begriffe recht oft zu denken, welche in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit niemals vollkommen, sondern nur annähernd vorhanden sind, zum Beispiel den Begriff des Kreises. Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden, aber allen kreisförmigen Gebilden liegt dieser gedachte Kreis als ihr Gesetz zugrunde. Oder man kann ein hohes sittliches Ideal denken; auch dieses kann in seiner Vollkommenheit von keinem Menschen ganz verwirklicht werden, aber es liegt vielen Taten der Menschen zugrunde als ihr Gesetz. Niemand kommt in einer esoterischen Entwickelung vorwärts, der nicht die ganze Bedeutung dieses sogenannten Abstrakten für das Leben einsieht und seine Seele mit den entsprechenden Vorstellungen bereichert.“ (Lit.:GA 267, S. 66f)

Zu unterscheidende Bedeutungen von "abstrakt"

Dem eigentlichen Wortsinn nach ist die Abstraktion ein Abziehen, und ein abstrakter Begriff ein den Wahrnehmungen „entnommener“, an ihnen gebildeter Begriff. Es werden jedoch auch Allgemeinbegriffe, die man nicht als von Wahrnehmungen abstrahiert auffasst, als „abstrakte“ Begriffe bezeichnet, i.S.v. Gedachtheit, wie im obigen Zitat Steiners: „Ein vollkommener Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden.“ Dabei bedeutet dieses Denken des vollkommenenen Kreises nicht ein Abstrahieren von den einzelnen konkret wahrnehmlichen einzelnen Kreisen, sondern das Fassen der Idee des Kreises aus dem Geistigen heraus. Dieses Fassen der Idee des Kreises ist gerade keine Abstraktion im Sinne der Konstruktion anhand von sinnlichen Wahrnehmungen, sondern liegt den Wahrnehmungen der konkreten einzelnen Kreise als Idee voraus, welche überhaupt erst die Wahrnehmung von Kreisen möglich macht. Diese allgemeine Idee eines Kreises z.B. wird gelegentlich auch als „abstrakte“ Idee bezeichnet, ohne daß damit eine Auffassung der Idee als „bloß abstrahiert“ im nominalistischen Sinne verbunden sein muß.

Gemäß der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners wird der allgemeine Begriff aus dem Geistigen durch Intuition gefaßt und mit einem Wahrnehmlichen zu seiner Wirklichkeit verbunden. Es handelt sich also nicht um ein Abstrahieren aus der Wahrnehmung, sondern um ein Heranbringen eines Begriffes an eine Wahrnehmung und das Herstellen einer Verbindung zwischen Begriff und Wahrnehmung. Tatsächlich abstrahiert wird lediglich die (hinsichtlich des besonderen Wahrnehmungsbezugs konkrete) Vorstellung, d.i. ein individualisierter Begriff, der aus der durch die gewöhnlich unbewußt sich vollziehende Wirklichkeitsbildung im Nachherein gebildet wird. Die Vorstellung wird jedoch nicht aus dem Reinwahrnehmlichen abstrahiert, sondern aus der vollzogenen Wirklichkeit einer Vereintheit von Allgemeinbegriff und einem besonderen Wahrnehmlichen. Die abstrakte Vorstellung repräsentiert im Bewußtsein die Wirklichkeit, in ihr kommt die vollzogene Wirklichkeitsbildung aus Begriff und Wahrnehmung zum Bewußtsein.[1] Solche abstrakten Vorstellungen werden durch sinnlichkeitsfreies Denken überwunden, indem die Ideen als solche gedacht und zum Bewußtsein kommen. Dieses sinnlichkeitsfreie Denken wird aber wiederum auch als "abstraktes" Denken bezeichnet. Auch bei der Wortverwendung "Vorstellung" ist darauf zu achten, was gemeint ist. Rudolf Steiner selbst verwendet das Wort "Vorstellung" nicht nur für die individualisierten Begriffe, sondern auch für erfaßte Ideen, also Allgemeinbegriffe, die nicht abstrahiert sind im erläuterten Sinne.

Ein weiteres Verständnis von Abstraktion ist dasjenige von Freilegung des Wesentlichen. Die phänomenologische Wesensschau sucht mittels der Methode der eidetischen Variation in den gegebenen Sachen, den Gegenständen des Bewußtseins, ihr jeweiliges Wesen auf. Insofern dieses Wesen eines Tisches z.B. als der Allgemeinbegriff des Tisches angesehen wird, kann man eine so verstandene Abstraktion als das Aufsuchen des Wesens oder Begriffes in einem (vorstellungsmäßig) gegebenen Wirklichen ansehen. Ob man das schließliche Erfassen des reinen Wesens oder Begriffes als ein erneutes, nunmehr bewußtes Hervorbringen des Begriffes aus dem Geistigen ins Bewußtsein auffäßt, oder diesen Begriff als im Gegenstand ruhend versteht, ist dabei für die Erfassung des Wesentlichen nicht relevant[2]. Der Begriff wird jedenfalls nach phänomenologischer Auffassung nicht aus einem begriffslosen Wahrnehmlichen abstraktiv generiert, wie es z.B. ein Sensualist wie David Hume annimmt, und seine Erfassung oder Bildung wird auch nicht als ein rein konstruktives Geschehen lediglich im Bewußtsein (Abbildtheorie, Konstruktivismus) angesehen.

Traum, Abstraktion, Imagination

Das bildlose abstrakte Denken, wie es heute in den Wissenschaften und immer mehr auch im Alltagsleben gepflegt wird, ist nur eine Durchgangsstufe in der menschheitlichen Entwicklung. Ihm ging ein traumartiges bildhaftes Denken voran, das sich etwa in den Mythologieen der verschiedenen Völker niederschlug. Zukünftig wird sich in Form der Imagination ein vollkommen waches Bilderbewusstsein entwickeln, bei dem das Selbstbewusstsein, das im Traum weitgehend verloren geht, voll gewahrt bleibt.

„Aber dieses abstrakte Denken ist nur eine Entwickelungsphase im Leben der Menschheit. Ihm geht ein bildhaftes, mit den Dingen verbundenes und in den Menschentaten pulsierendes Denken voraus. Im bewußten Menschenleben wirkt dieses Denken allerdings traumhaft, aber es ist der Schöpfer aller Frühstadien der Kulturen...

Doch dieses abstrakte Denken ist nur eine Durchgangs stufe der denkerischen Fähigkeit. Wer es in seiner völligen Reinheit erlebt hat, wer seine Kälte und Kraftlosigkeit, aber auch seine Durchsichtigkeit mit vollem menschlichen Anteil in sich aufgenommen hat, der kann bei ihm nicht stehen bleiben. Es ist ein totes Denken; aber es kann zum Leben erweckt werden. Es hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis gehabt hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines intensiveren Bewußtseins. Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewußte Abstraktion zur ebenso vollbewußten Imagination: das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewußten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit. Goethe hat einen Anfang damit gemacht, indem er für das Verständnis der Pflanzengestaltung das Ideenbild der Urpflanze forderte. Und dieses imaginative Denken kann wieder Impulse des Handelns aus sich heraustreiben.“ (Lit.:GA 36, S. 88f)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Herbert Witzenmann unterscheidet zwischen inhärenter und repräsentierender Vorstellung. Vgl. H. Witzenmann: Sinn und Sein. Der gemeinsame Ursprung von Gestalt und Bewegung, S. 91ff. Die inhärente Vorstellung ist diejenige, die sich bei einer Verbindung von Begriff und Wahrnehmung unmittelbar bildet. Die Vorstellung sitzt dabei gewissermaßen direkt im Gegenstand drin, die Denkbewegung löst sich aber gleich wieder heraus. Die repräsentierende Vorstellung ist dagegen eine Erinnerung. "Im Erinnern wird der inhärierte Begriff von seinen Haftpunkten wieder abgelöst. Dies ist insofern und insoweit möglich, als der Vorgang der Inhärenzbildung seine Spuren sowohl in der Organisation des Urteilenden als Konditionen (Engramme) als auch in seiner Aktionsbereitschaft in der Art eines Übungserfolgs, als Disposition (Erinnerungsneigung und -erübung) hinterlassen hat, also dem "Gedächtnis" verblieb. Im Erinnern wird der individualisierte Begriff aus seinem Zusammenhang mit dem Wahrnehmlichen herausgeschält und isoliert. Die Erinnerung ist eine von ihren Haftpunkten losgelöste, doch deren Einprägungen beibehaltende Vorstellung. Hierbei handelt es sich um einen Abstraktionsvorgang, um ein Ablösen eines stellvertretenden Gebildes von den konkreten gebildehaften Gegebenheiten. (...) Nicht der lebendig-bewegliche allgemein-urbildliche, sondern der individualisierte, repräsentierende Begriff wird abstrahiert." (S. 91)
  2. Husserl wendet sich mit seiner "transzendentalen" Phänomenologie im Gegensatz zu den realistischen Phänomenologen den davorliegenden Denkprozessen und Bewußtseinserlebnissen zu. Es ist zwar richtig, in einem erfaßten Begriff schon ein Geistiges zu sehen. Das Wesen des Geistigen selbst erschließt sich so aber noch nicht. Aufmerksamkeit und Denkaktivitäten wie das Erfassen als dem Ergreifen von Geistigem sind als geistige Phänomene keine Begriffe, sondern deren Quellen, oder zumindest in diesen als von den Begriffen selbst unterschieden lebend. Eine Untersuchung solcher Phänomene erschöpft sich nicht in Begriffsanalyse und reicht weiter in das Wesen des Geistigen selbst hinein. "Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt." (GA 4).