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Staunen

Aus AnthroWiki
(Weitergeleitet von Erstaunen)

Staunen (griech. θαυμάζειν thaumazein) bzw. Verwunderung ist die seelische Grundlage für alles Erkenntnisstreben. Durch das tiefe Erstauenen über etwas, das als bisher unhinterfragtes Wissen völlig selbstverständlich schien, eröffnet sich der geistige Blick auf bislang unentdeckte Wahrheiten.

„Gerade die entwickelteren Seelen sind es, die sich immer mehr und mehr verwundern können. Je weniger man sich verwundern kann, desto weniger vorgerückt ist die betreffende Seele.“ (Lit.: GA 143, S. 70)

Platon und Aristoteles sehen im Erstaunen den Anfang aller Philosophie.

„Μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη.“

„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Platon: Theaitetos 155 d

Staunen und Astralleib

„Aus einem schönen Instinkte heraus haben die alten griechischen Philosophen schon gesagt: Die Philosophie nimmt ihren Ausgangspunkt vom Staunen, von der Verwunderung. - Was ist dieses Staunen, diese Verwunderung? Es gibt ein solches Verhältnis gegenüber den Erscheinungen, die uns entgegentreten, daß wir in Verwunderung, in Staunen hineinkommen. Dann kommt manchmal anstelle des Staunens etwas anderes, in das sich nicht mehr Staunen und Verwunderung hineinmischt. Das ist nämlich dann der Fall, wenn wir anfangen, die betreffenden Tatsachen zu verstehen. Wir wollen jetzt die Frage aufwerfen: Wie ist es eigentlich mit diesem Staunen, mit dieser Verwunderung? Wir treten einer Erscheinung gegenüber, sie ringt uns Verwunderung ab. Es kann kein Verhältnis sein zum Verstände, zur Intelligenz, denn diese suchen Verständnis, leben sich nicht in Verwunderung aus. Es ist ein viel unmittelbareres Verhältnis. Das Verständnis muß sich mit den einzelnen Teilen befassen; die Verwunderung tritt unmittelbar auf, der ganzen Sache gegenüber. Das kommt daher, daß beim Verständnis das Ich zur Sache in Beziehung steht, beim Erstaunen aber steht der Astralleib der Sache gegenüber. Der hat nicht das volle Bewußtsein, sondern eine Art von Unterbewußtsein. Wenn der Astralleib eine Beziehung hat zur Sache und diese Beziehung sich noch nicht heraufhebt zum Ich, so tritt Verwunderung ein. Dadurch, daß der Mensch erstaunen kann über eine Sache, ist es möglich, eine unter der Schwelle des Bewußtseins liegende Verbindung mit dem Gegenstand einzugehen. Dies ist in vielen Fällen sehr wichtig, diese unterbewußte Verbindung, wie es für die Philosophie nach der Auffassung der alten Griechen wichtig ist, daß erst Verwunderung da ist.“ (Lit.: GA 127, S. 37f)

Das Stauenen im Zusammenhang mit dem vorgeburtlichen und nachtodlichen Leben

„Wenn nun gerade der vorgerückte Mensch den Drang hat, sich vieles zu erklären, sich Alltägliches zu erklären, weil er auch über Alltägliches zu staunen vermag, so setzt das in gleicher Weise voraus, daß er früher die Sache anders gesehen hat. Niemand würde zu einer anderen Erklärung des Sonnenaufganges gekommen sein als eben zu derjenigen des bloßen Augenscheines, daß die Sonne aufgeht, wenn nicht in seiner Seele die Empfindung liegt, daß er es früher anders gesehen habe. Aber, so könnte man einwenden, den Sonnenaufgang sehen wir doch von frühester Jugend an in der gleichen Weise sich abspielen, und wäre es da nicht geradezu tölpelhaft, darüber in Erstaunen zu geraten? - Dafür gibt es keine andere Erklärung als diese, daß, wenn wir dennoch darüber in Erstaunen geraten, wir es früher in einem anderen Zustande einmal anders erlebt haben müssen als heute, als jetzt in diesem Leben. Denn wenn eben die Geisteswissenschaft sagt, daß der Mensch zwischen der Geburt und einem vorhergehenden Leben in einem anderen Zustand vorhanden war, so haben wir in der Tatsache des Erstaunens über einen so alltäglichen Vorgang wie denjenigen des gewohnten Sonnenaufgangs nichts anderes als einen Hinweis auf diesen früheren Zustand, in welchem der Mensch auch diesen Sonnenaufgang wahrgenommen hat, aber in einer anderen Weise, ohne körperliche Organe. Da hat er alles dieses mit Geistesaugen und mit Geistesohren wahrgenommen. Und in dem Augenblicke, wo er dunkel fühlend sich sagt: Du stehst gegenüber der aufgehenden Sonne, gegenüber dem brausenden Meer, gegenüber der sprossenden Pflanze, und du bist erstaunt! - liegt in dem Erstaunen die Erkenntnis, es einmal anders wahrgenommen zu haben als mit dem leiblichen Auge. Es sind eben seine geistigen Organe, mit denen er das geschaut hatte, bevor er hereingetreten ist in die physische Welt. Er fühlt nun dunkel, daß es doch anders ausschaut, als er es früher gesehen hat. Das war und kann nur gewesen sein vor der Geburt. Diese Tatsachen nötigen uns anzuerkennen, daß eine Erkenntnis überhaupt nicht möglich wäre, wenn der Mensch in dieses Leben nicht aus einem vorhergehenden übersinnlichen Dasein einträte. Sonst gäbe es keine Erklärung für das Staunen und für die dadurch bedingte Erkenntnis. Natürlich erinnert sich der Mensch nicht in klaren Vorstellungen an das, was er vorgeburtlich anders erlebte, aber wenn es auch gedanklich nicht klar ist, so tritt es eben im Gefühl auf. Nur durch die Einweihung kann es als klare Erinnerung mitgebracht werden.“ (Lit.: GA 143, S. 63f)

„Es gibt Theoretiker, die der Ansicht sind, daß das, was wir uns an Begriffen von Wolf und Lamm bilden, nur in uns lebe, und daß das mit dem Wolf und dem Lamm selbst nichts zu tun habe. Einen Mann, der solches behauptet, sollte man veranlassen, einen Wolf so lange Zeit mit Lämmern zu füttern, bis nach wissenschaftlichen Forschungen alle materiellen Teilchen des Wolfskörpers sich erneuert haben, der Wolf also ganz aus Lamm-Materie aufgebaut sei. Und nun sollte dieser Mann einmal sehen, ob aus dem Wolf ein Lamm geworden ist! Wenn es sich herausstellt, daß der Wolf kein Lamm geworden ist, so ist erwiesen, daß das, was Objekt «Wolf» ist, sich unterscheidet von dem materiellen Wolf, und daß das Objektive am Wolfe über das Materielle hinausgeht.

Dieses Unsichtbare, was man sich im gewöhnlichen Leben nur als einen Begriff bildet, das sieht man nach dem Tode. Nicht die weiße Farbe des Lammes sieht man da und nicht die Töne, die das Lamm von sich gibt, hört man da, sondern das schaut man, was als das unsichtbar Waltende im Lamme wirkt, das ebenso wirklich ist und das da ist für den, der in der geistigen Welt lebt. An derselben Stelle, an der das Lamm steht, steht auch ein real Geistiges, das man dann nach dem Tode sieht. Und so ist es mit allen Erscheinungen der physischen Umwelt. Man sieht die Sonne anders, den Mond anders, alles anders; und davon bringt man etwas mit, wenn man durch die Geburt ins neue Dasein tritt. Und wenn einen hierdurch dann die Empfindung ergreift, man habe das einmal ganz anders gesehen, dann kommt mit dem Staunen, mit der Verwunderung die Erkenntnis herunter.“ (S. 67)

Die soziale Bedeutung des Erstaunens

„Es ist gut für die Menschen, daß sie, bevor sie ihre Intelligenz auf eine Sache anwenden, erst ihren Astralleib über die Sache ausbreiten. Dadurch wird eine Gefühls- und Gemütsbasis geschaffen, und in diese wird dann das Verständnis eingetaucht. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir gleich mit dem Verstände abstrakt an die Sache herangehen. Das bewirkt, daß wir auf einer viel breiteren Basis des Verständnisses arbeiten. Ein vollsaftigeres Verständnis ist die Folge. Deshalb ist es so wichtig für den Erzieher, daß er erst das heilige Staunen entwickle gegenüber dem Kinde, gegenüber der einzelnen Individualität, die wie aus dem Dunkel herauftaucht; wenn wir uns offenhalten das, was wir mit der Intelligenz gar nicht überschauen können: die Unendlichkeit einer Individualität. Wir versetzen uns künstlich dieser Individualität gegenüber in die Verwunderung. Sie wird schon kommen, denn es gibt reichlich Gelegenheit zur Verwunderung und zum Staunen einer jeden Individualität gegenüber. Diese Gefühle sind nicht verdorben durch unseren engeren Intellekt, sie sind manchmal viel sicherer, reicher, richtiger als das durch den engen Intellekt Erkannte. Die Grundlagen für die auf das praktische Leben anwendbaren Erkenntnisse sind durch Staunen, durch das Gemütsleben zu gewinnen. Etwas sehr Wichtiges beruht hierauf: das Vertrauen, welches ein Mensch zum anderen Menschen hat. Wie oft kommt es vor im Leben, daß ein Mensch zum anderen Vertrauen oder auch Mißtrauen hat - denn das Negative gilt wie das Positive - , bevor er dem Menschen erst in Begriffen, im Alltagsverstande entgegengetreten ist, Vertrauen und Mißtrauen treten manchmal ganz unmittelbar auf. Wieviele Menschen gibt es, die oft in eine Art Klage ausbrechen: Hätte ich doch meinem ersten Eindrucke getraut! Den wahren Eindruck, den ich vorher geahnt habe, habe ich mir verdorben. - Solche Menschen haben manchmal sehr recht. Aus dem Gemütsleben sollte unser soziales Verhältnis, unsere Beziehung zum Leben herauswachsen. Es gibt Menschen, die nicht viel Anlage dazu haben, dieses Unbestimmte, Ahnungsvolle an den Menschen zu empfinden. Es gibt Menschen, die stundenlang den Blick staunend zum Sternenhimmel richten können, ohne viel Astronomie zu verstehen, und es gibt andere, die wie ein Stock dem Sternenhimmel gegenüber bleiben, bis sie Bücher in die Hand bekommen, durch die sie sich das alles zergliedern können. Das sind die Menschen, welche diese Gemütsgrundlage nicht haben können. Solche Menschen gehen auch wie Stöcke oft an den Menschen vorbei, bis sie genügend Zeit gehabt haben, sich den Menschen zu zergliedern.“ (Lit.: GA 127, S. 38f)

Das Erstaunen als Astralleib des in der Menschheitsentwicklung fortwirkenden Christus-Impulses

Eine noch tiefere Bedeutung kommt dem Erstaunen-Können seit dem Mysterium von Golgatha zu. Seit der Jordan-Taufe lebte der Christus in den Leibeshüllen des Jesus von Nazareth, also in dessen Astralleib, Ätherleib und physischem Leib. Mit dem Kreuzestod legte er diese Hüllen ab. Von da an bis zum Ende der Erdentwicklung bilden sich seine neuen Hüllen aus dem, was die Menschen an Erstaunen, an Liebe und Mitleid und als Gewissen entwickeln. Aus dem Staunen der Menschen wird der neue Astralleib des Christus gewoben, aus Liebe und Mitleid sein neuer Ätherleib und aus den Gewissenskräften entsteht sein neuer physischer Leib.

„Aus dem, was nur aus der Erde genommen werden kann. Was sich in der Menschheitsentwickelung, die mit dem Mysterium von Golgatha begonnen hat, auf der Erde auslebt seit dem vierten nachatlantischen Kulturzeitraum an Erstaunen oder Verwunderung über die Dinge, alles was in uns leben kann als Erstaunen und Verwunderung, das geht endlich an den Christus heran und bildet mit den Astralleib des Christus-Impulses. Und alles, was in den Menschenseelen Platz greift als Liebe und Mitleid, das bildet den ätherischen Leib des Christus-Impulses, und was als Gewissen in den Menschen lebt und sie beseelt, von dem Mysterium von Golgatha bis zum Erdenziele hin, das formt den physischen Leib oder das, was ihm entspricht, für den Christus-Impuls.“ (Lit.: GA 133, S. 113f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.